1. Sprichwörter.

Sprichwort, schon im späteren Mittelhochdeutsch Sprichwort, ist wahrscheinlich eine tautologische Zusammenstellung, d. h. eine Zusammenstellung zweier Wörter, die ungefähr dasselbe bedeuten, nämlich von wort und dem nur selten vorkommenden gleichbedeutenden diu oder da? spriche, also eine Bildung wie Lindwurm, Diebstahl, Streifzug, Schalksknecht, Zeitalter, Malzeichen, Windsturm, Felsstein, Hardtwald, Militärsoldat, Jardingarten.1)

Die schon früh auftretende Schreibung Sprüchwort oder auch bisweilen Spruchwort beruht auf Herleitung von Spruch, die veranlaßt oder wenigstens begünstigt wurde durch die Verwendung des Sprichworts beim Rechtsprechen. Denn die Rechtsentscheidung wurde gern durch ein ihr angehängtes Sprichwort begründet, weil „die Bauern nach Sprichworten gern zu sprechen pflegen“ (DW. 10, 2, 62). Die Bedeutung von Sprichwort ist ursprünglich die eines Wortes, das viel gesprochen wird, wo Wort natürlich nicht ein einzelnes Wort, sondern einen in Worte gefaßten Gedanken bedeutet. Als ein israelitisches Sprichwort wird z. B. 1. Sam. 10, 12 bezeichnet: Ist Saul auch unter den Propheten?


Aber diesen weiteren Sinn hat das Wort Sprichwort heute nur noch ausnahmsweise und in gewissen Verbindungen, wie: „jemanden oder eine Sache zum Sprichwort machen (früher auch geben, setzen)“ = in den Mund der Leute bringen, „zum Sprichwort werden“ = sprichwörtlich werden. So Hiob 17, 6: „er hat mich zum Sprichwort unter den Leuten gesetzt“, 2. Chronika 7, 21: „dies Haus werde ich zum Sprichwort geben und zur Fabel unter allen Völkern“. Shakesp., Was ihr wollt 2, 3: „wenn ich den Malvolio nicht so foppe, daß er zum Sprichwort und zum allgemeinen Gelächter wird, so glaubt mir, daß ich nicht gescheit bin.“ In der Regel werden diese Wendungen in schlechtem Sinne gebraucht, selten von etwas Gutem oder Schönem, wie bei Wieland 18, 33: „ihrer beider Liebe ward im Land umher zum Sprichwort“. Das abgeleitete Adjektivum sprichwörtlich wird ebenso und zwar ebenfalls meist in tadelndem Sinne gebraucht für allgemein bekannt, im Munde der Leute befindlich; so, wenn wir von der sprichwörtlichen Dummheit, Verwegenheit, Verschlagenheit jemandes reden.

1) So nach DW. 10, 2, 62 f. Über tautologische Zusammenstellungen vgl. auch WILMANNS Deutsche Grammatik II S. 53. Ulfilas sagt Joh. 16, 25 für Sprichwort gajuk?, Tatian und Notker haben biwurti; sonst findet sich im Althochdeutschen: bîschaft, bîspel, lârspella, im Mittelhochdeutschen: mœre, wort, gemeine? wort, altsprochen wort, alte? wort, auch ein wort, da? was wîlent flücke (Frauenlob 58), d. i. ein flügges, fliegendes Wort, also was wir jetzt ein geflügeltes Wort nennen, ferner spruch, gemeiner spruch, sage, lêre, jehe, rede, rât.

Das sind Reste eines älteren Sprachgebrauchs. Wir fassen das Wort jetzt in einem engeren Sinne und verstehen unter Sprichwörtern: im Volksmund umlaufende, in sich geschlossene Sprüche von lehrhafter Tendenz und gehobener Form. Durch diese Begriffsbestimmung ist die Grenze gezogen einerseits gegen die sprichwörtlichen Redensarten. Diese sind zwar volkläufig, aber weder lehrhaften Charakters noch in sich geschlossen, und von den formgebenden Kunstmitteln steht ihnen nur die Bildlichkeit zur Verfügung, z. B. im Trüben fischen, Öl ins Feuer gießen, an den Bettelstab kommen. Andrerseits gegen die Sinnsprüche und Sentenzen. Diese sind zwar in sich geschlossen und lehrhaft, haben auch in der Regel eine gehobene Form, sind aber nicht volkläufig.

Von den genannten vier Merkmalen ist das des in-sich-geschlossen- Seins rein äußerlicher Natur. Es will nur sagen, daß in einem Sprichwort kein wesentliches Satzglied beliebig austauschbar ist, wie in der sprichwörtlichen Redensart. Näheres darüber s. unter Nr. 4. Das Hauptmerkmal ist das der Volkläufigkeit. Wenn das Sprichwort aber in den Volksmund kommen soll, so bedarf es der Schlichtheit und Einfältigkeit. Es darf weder im Sinne noch im Ausdruck eine gewisse Grenze nach oben hin überschreiten. Der Gedanke muß faßlich und nicht allzu hoch sein, die Worte allgemein bekannt und dem Volke vertraut. Gedanken, die über den Begriffskreis der mittleren und unteren Volksschichten hinausgehn, Worte, die den gewöhnlichen Leuten fremd sind und ihnen daher geziert oder hochtrabend erscheinen, werden nie volkstümlich werden. Sätze wie: „Alles Vollkommene in seiner Art muß über seine Art hinausgehn“; „Die Wahrheit hat ihren unabhängigen Wert in sich selbst“; „Alles Irdische ist vergänglich“; „Werden und Sterben ist allen Wesen gemein“; „In der Liebe haben alle Frauen Geist“; „Der Tugend Sonnenblick heißt Friede“ haben keinerlei Anwartschaft darauf, je Sprichwörter zu werden. Viele Worte, die an sich sehr wohl in moralischen Sätzen verwertbar sind, fehlen, weil sie zu hohe Töne anschlagen, im Sprichwort gänzlich, z. B. gleich Moral selbst samt moralisch, ebenso wie Sittlichkeit, sittlich und unsittlich; das Sprichwort kennt nur gut und böse. Ferner Gesinnung, Stimmung, Weltanschauung, Edelmut, unsterblich und viele andere.

Damit, daß das Sprichwort ein wirkliches Volkswort sein muß, ist aber durchaus nicht gesagt, daß jedes Sprichwort im ganzen Volke gangbar sein müsse. Viele Sprichwörter sind nur in einzelnen Orten, Landschaften oder Volksstämmen heimisch und erscheinen dann häufig im Dialekt.

Manche Sprichwörter sind ferner aus bestimmten Berufskreisen hervorgegangen: Soldaten-, Handwerker-, Bauern-, Studentensprichwörter. Auch die geistige und sittliche Bildung bewirkt einen Unterschied im Gebrauch der Sprichwörter. Es gibt Sprichwörter, die mehr in den höheren, und solche, die mehr in den niederen Schichten eines Volkes zu Hause sind. Die erstem nähern sich der Grenze, wo das Sprichwort aufhört und der Denkspruch anfängt. Zu ihnen sind z. B. zu rechnen: Gewohnheit ist die andere Natur. Liebe ist blind und macht blind. Man lernt, so lange man lebt. Zu diesen gehören in denselben Gedankenkreisen sich bewegend, aber gröber im Ausdruck: Gewohnheit macht Schafkötel zu englisch Gewürz; Der Mensch ist ein Gewohnheitstier; Die Liebe fällt so gaut up'n Kauklonk, asse up en Rosenblad. Man wird so alt wie 'ne Kuh und lernt doch immer zu. Die groben und unflätigen sind natürlich mehr beim niederen Volke zu Hause.

Diese Trennung zwischen höheren und niederen Sprichwörtern pflegt dann einzutreten, wenn sich von der Volkssprache eine Schriftsprache loslöst. Das war schon bei den Alten geschehen. Daher unterschieden auch sie schon zwischen ??? ??????? ????????? (Aelian nat. anim. 12, 9) und ????? ??? (Euripid. Hel. 513); zwischen den proverbia rustica oder de trivio, die die feinere Rede vermied, und den voces sapientium (O. XVI f.), die der Sprache der Gebildeten und der Literatur angehörten. Zwischen beiden Klassen liegt nun aber, beide an Zahl übertreffend, eine breite Mittelschicht von solchen Sprichwörtern, deren sich alle Schichten des Volkes ohne Unterschied bedienen. Diese stammen zum Teil aus einer Zeit, in der das geistige Leben des Volkes, seine Empfindungs- und Ausdrucksweise noch einheitlich und nicht nach Ständen und Gesellschaftsklassen geschieden war. Zum Teil aber sind sie aus der oberen Schicht in die untere hinuntergesickert, wie so viele Bibelsprüche und Dikta weltlicher Schriftsteller. Dieser Mittelklasse gehören nicht nur die verbreitetsten, sondern auch die meisten Sprichwörter an.

Die lehrhafte Tendenz des Sprichworts bezieht sich auf alles, was mit der Lebenskenntnis und Lebensführung des einzelnen zusammenhängt. Wissenschafthche Sätze, wie z. B.: Zwischen zwei Punkten ist die gerade Linie die kürzeste; Der Esel ist ein Säugetier oder ein Einhufer, interessieren das Volk nicht, weil sie für die Lebensführung des einzelnen belanglos sind. Sie werden daher nicht zu Sprichwörtern. Wohl aber sind zu Sprichwörtern geworden Sätze, die ebenfalls von Punkt und Esel handeln, aber Erkenntnisse und Normen vermitteln, die für die Auffassung und Gestaltung des Lebens bedeutsam sind: Der gerade Weg ist der kürzeste (beste); Der rechte Weg ist nicht krumm (ehrliches Handeln führt am schnellsten zum Ziel); Der Esel hat lieber Stroh als Gold (Toren wissen die echten Werte nicht zu schätzen und halten sich lieber an das Gewöhnliche); Dem Esel, der das Korn zur Mühle trägt, wird die Spreu (wer die schwerste Arbeit verrichtet, bekommt oft den geringsten Lohn; soziales Sprichwort).

Die lehrhafte Tendenz, die auf Wollen und Handeln der Menschen einwirken will, tritt auch äußerlich zutage bei den Sprichwörtern, die eine Vorschrift oder Warnung direkt aussprechen. Dies geschieht teils in befehlender Form: Trau, schau, wem; Trinke, weil du am Brunnen bist; Schuster, bleib bei deinen Leisten; Versuch' s, so geht's; Erst wäg's, dann wag's; Wen's juckt, der kratze sich; teils durch Wendungen mit man muss, man soll, man kann, oder auch bloß man tut etwas: Man muß mit den Steinen bauen, die man hat; Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben; Vom Esel kann man nicht Wolle fordern. Oft aber spricht das Sprichwort seine Lehre nicht direkt aus, sondern indirekt in Form eines Beobachtungs- oder Erfahrungssatzes, aus dem ein jeder sich die in ihm liegende Mahnung oder Warnung entnehmen kann: Der Krug geht solange zu Wasser, bis er bricht (laß dich nicht immer wieder auf das gleiche Wagnis ein; du nimmst sonst endlich doch Schaden dabei); Doppelt gibt, wer schnell gibt (wenn du geben willst, so gib gleich); Faulheit lohnet mit Armut (wenn du nicht arm werden willst, so sei also fleißig); Rom ist nicht an einem Tage gebaut worden (bei großen Unternehmungen muß man auf lange Zeit rechnen, darf also nicht ungeduldig oder kleinmütig werden).

Aus der Volkläufigkeit folgt auch, daß das Sprichwort eine besondere Formgebung bedarf. Was im Gedächtnis haften soll, das muß dem Gedächtnis leicht eingehn und bequem zu behalten sein. Das Sprichwort muß also möglichst kurz und knapp sein. Lange Sätze werden nicht volkläufig. Das Sprichwort will aber nicht nur im Gedächtnis aufbewahrt werden, es will durchdringen, eine Wirkung erzielen, von andern aufgenommen und beherzigt werden. So ist es von jeher ein vorzügliches Werkzeug der Redner in der Volksversammlung und in der populären Debatte gewesen. Schon im neuen Testament finden wir das Sprichwort im Munde Jesu zu diesem Zwecke aufs allerwirksamste verwendet, z. B. da, wo er den Schrift- gelehrten und Pharisäern, die ihm seine Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern zum Vorwurf machten, das schon damals alte Sprichwort entgegenhält, das dann auch in unsern Sprichwörterschatz übergegangen ist (Wa. 4, 780): Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken (Matth. 9, 13; Mark. 2, 17). Der dem Hörer in Gestalt eines Sprichworts entgegentretende Gedanke, mag er an und für sich richtig oder nur halbrichtig oder geradezu unrichtig sein, soll diesen dennoch mit siegender Kraft in seinen Bann zwingen. Um dies zu erreichen, genügt nicht die Kürze allein; das Sprichwort strebt vielmehr eine über die gewöhnliche Rede gehobene Formgebung, die es eindrucksvoll und nachhaltig wirksam macht. Allerdings erscheinen dem oberflächlichen Blick die meisten Sprichwörter, soweit sie nicht durch Reime gebunden sind, als gewöhnliche Prosa. In der Tat sind aber weit mehr Sprichwörter, als man gemeiniglich denkt, durch künstlerische Formung zu einem Stück Kleinpoesie gemacht worden.

Diese dichterische Formgebung kann eine nur äußerliche sein durch Sinnreim, Rhythmus, Reim, Parallelismus usw., und eine innerhche durch Bildlichkeit, Beseelung usw. Ganz besonders liebt das Sprichwort alles, was die Aufmerksamkeit des Hörers an sich zu reißen und zu fesseln geeignet ist, also die Groteske, die Paradoxie, die Ironie, scharfe Kontraste, überraschende Zusammenstellungen, unerwartete Umbiegungen. So wird das echte, gut gelungene Sprichwort zu einem Schlager, dessen blendender und fesselnder Wirkung sich niemand leicht entzieht. 1) Wer ein solches Kernwort einmal gehört hat, vergißt es sobald nicht wieder und wendet es gern auch seinerseits an.

Unter den von den Erfindern der Sprichwörter gebrauchten Kunstmitteln haben wir soeben auch die Bildlichkeit genannt. Da diese auch für die Begriffsbestimmung des Sprichworts von besonderer Bedeutung ist, so muß hier noch ein vorläufiges Wort über sie gesagt werden (das Nähere s. Kap. VII).

Diejenigen Sprichwörter, die ihren Gedanken ganz oder teilweise in ein Bild kleiden, sind poetischer und deshalb wirksamer als die, welche eine Wahrheit direkt und unverhüllt aussprechen. Statt abstrakter Begriffe geben sie lebendige, auf die Vorstellung einwirkende Anschauungen. Sie prägen sich dadurch dem Gedächtnis leichter ein und reizen zugleich den Verstand, hinter dem Bilde die eigentliche Meinung des Sprichworts zu ergründen. Wenn man Eindruck machen will, darf man nicht allzu klar und plan reden. Wer gleichsam Rätsel aufgibt, regt die Aufmerksamkeit und das Nachdenken der Hörer stärker an, als es die offen am Tage liegende Wahrheit tut, die gewissermaßen auf dem Präsentierbrett dargeboten wird. Man vergleiche etwa: Keine Freude ohne Leid mit: Keine Rose ohne Dorn. Das erste gibt nur einen für den Verstand bestimmten Gedanken, das zweite erzeugt eine innere Anschauung und führt doch zugleich über diese hinaus zu einer allgemeineren, tiefer liegenden Wahrheit.

Dieses Bildhafte des Ausdrucks ist nun schon von alters her für ein wesentliches Merkmal des Begriffs Sprichwort angesehen worden. Die griechischen und im Anschluß an sie die römischen Grammatiker heben das Allegorische und Metaphorische als erstes und bedeutsamstes Merkmal des Sprichworts hervor und erst in zweiter Linie seine Volkstümlichkeit und Verbreitung. 2)

1) Vgl. KÖGEL, Deutsche Literaturgeschichte I 2, 173.
2) Die Stellen s. bei O. S. XXIII. LEUTSCH und SCHNEIDEWIN, Paroemiographi graeci (1839—51) I 178 (Pseudodiogen. praef.): ???? ?? ? ???????? ??? ??? ?????????? ??????????. „Das Sprichwort ist ein Tropus und gehört zur sogenannten Allegorie.“ — Aristoteles Rhetor. III c. 11 p. 1413. 14 sagt, das Sprichwort enthalte eine Metapher, nämlich einen Übergang von einer Spezies auf eine andere innerhalb eines gemeinsamen Genus. — Diomedes p. 462 (KEIL): Parhoemia est vulgaris proverbii usurpatio, rebus temporibusque accomodata, cum aliud significatur quam quod dicitur.

Auch die antiken Benennungen des Sprichworts zeugen von dieser Auffassung. Das griechische ???????? gehört zu o??? 'Lied, Sage', heißt also wörtlich übersetzt 'Nebenrede', ist also ursprünglich gleich ????????, parabola, das Nebeneinanderstellen. Neben dem Bilde läuft ein unbildlicher Gedanke, ein allgemeiner Sinn her. Das lateinische proverbium bezeichnet ebenfalls das Stellvertretende des Ausdrucks; es kann etwa umschrieben werden mit id quod pro verbo dicitur 'was für das eigentliche Wort gesagt wird'. Dasselbe besagt das ebenfalls überlieferte ambitio, das Varro richtig erklärt = quod ambit orationem 'was die Rede umgeht'. Eine dritte Bezeichnung war adagio, -nis, die schon zu Varros Zeit völlig veraltet war, im späteren Altertum aber mit vielen anderen Archaismen wieder hervorgeholt wurde. Daneben gab es eine jüngere Form adagium, die Erasmus in die neulateinische Literatur einführte. Die Alten erklärten adagia = ad agendam apta, adagiones = quod rem agunt, faßten das Wort also = praeceptum Lebensregel. In Wirklichkeit stammt es von der Wurzel ag, die auch in aio aus agio1) und vielleicht in nego vorliegt; also hier wiederum die Grundbedeutung 'Zu'- oder 'Beirede'. — Die germanischen Ausdrücke für Gleichnis, Sprichwort beruhen auf derselben Auffassung: ags. biword Sprichwort, ahd. bîwurti, ahd., mhd. bîwort, mhd. bîspruch, bîspel von spel, spell Erzählung, Geschichte, was im Neuhochdeutschen nicht mehr verstanden und daher zu Spiel umgedeutet wurde: Beispiel. 2)

Auch Sebastian Franck hält das Figürliche, Allegorische für das Wesentliche am Sprichwort. Er äußert sich darüber auf dem Titel der Sprichwörter (1541): „Bei den Alten ist und heißt Sprichwort eine kurze, weise Klugred, die Summe eines ganzen Handels, Gesatz oder langen Sentenz als der Kern in ein enges Sprüchlein und verborgen Grifflein gefaßt, da mehr etwa anders verstanden als geredt wirdt.“ Und in der Vorrede S. 4b: „Und ist bei allen Nationen und Zungen die größt Weisheit aller Weisen in solich Hofred 3) und abgekürzte Sprichwörter als in einen verschlossen Kasten alle irdische und ewige Weisheit eingelegt. . . . Die rechten natürlichen Sprichwörter sind abkürzt und seltsam gefunden, zu einer Figur und Tropo in ein Summ begriffen.“

In neuerer Zeit ist man sogar so weit gegangen, nur die allegorischen, also die bildhaften für wirkUche Sprichwörter zu erklären, den unbildlichen, abstrakt gehaltenen dagegen den Charakter von Sprichwörtern abzusprechen und sie den Denk- oder Sittensprüchen zuzuweisen. So sagt Wackernagel in der Poetik, Rhetorik, Stilistik S. 116: „Das charakteristische Merkmal, wodurch sich die eigentlichen Sprichwörter von den bloßen Sprüchen oder Sentenzen oder Gnomen unterscheiden, ist dieses, daß die letzteren irgendeine sittliche Lehre oder Wahrnehmung ganz abstrakt und allgemein in möglichster Kürze aussprechen, gewöhnlich eben bloß als Wort des Verstandes, nur zuweilen mit einer mehr gemütlichen Beziehung und Wendung . . ., daß dagegen das Sprichwort nicht beim Abstrakten und Allgemeinen stehn bleibt, sondern der Abstraktion eine konkrete Gestaltung gibt, die Allgemeinheit in eine abgegrenzte Anschauung aus der sinnlichen Wirklichkeit besondert und konzentriert. Es ist also nur eine Sentenz, solange es heißt: 'auf Warnungen des erfahrenen Alters soll man achten' und erst durch die Versinnlichung und Besonderung: wenn ein alter Hund billt, soll man hinaussehen wird der Moralsatz zum Sprichwort. Mithin ist das Sprichwort eine sinnlich umwundene Sentenz.“

1) Walde, Lateinisches etymologisches Wörterbuch' S. 21. 513.
2) Ehr. I 60.
3) 'Hofrede' ist eine Rede, wie sie an Höfen üblich ist, eine höfische, hübsche, schöne, geistreiche Rede. Dasselbe bedeutet 'Hofsprüche' auf dem Titel der Pranckschen Sammlung: „Sprichwörter, schöne, weise, herrliche Klugreden und Hofsprüch.“

Ebenso erklärt Prantl,1) daß Aussprüche wie: Alles irdische ist ver gänglich; Alles hat zwei Seiten; Erkenne dich selbst, ein für allemal keine Sprichwörter seien. Vom ersten Ausspruch ist das zuzugeben, aber nicht, weil er abstrakt gehalten, sondern weil er nicht populär geworden ist. Der zweite dagegen ist in der Form: Jedes Ding hat seine zwei Seiten, oder: Alles Ding hat zwei Seiten (K. 1123), in den Mund des Volkes übergegangen und damit zum Sprichwort geworden, und auch der dritte gehört samt seinen Varianten (Wa. 1, 842) zu den gehobenen Sprichwörtern, steht allerdings hart an der Grenze der Sentenz oder des geflügelten Wortes. Abgesehen hiervon lehrt jeder Blick in jede beliebige Sprichwörtersammlung, daß darin abstrakte, unbildliche Lehren und Wahrnehmungen mit „eigentlichen“ Sprichwörtern, also solchen in bildlicher Form gemischt zu finden sind.

1) Prantl, Die Philosophie in den Sprich Wörtern, München 1858, S. 6. — Die kleine Schrift enthält teilweise gute Gedanken, ist aber in einem geschraubten Stile und einer scholastischen Ausdrucksweise geschrieben, der sie fast ungenießbar macht.

Die Trennung der abstrakten Sprichwörter von den bildhaften ist schon aus dem Grunde nicht möglich, weil zwischen beiden Übergänge vorhanden sind. Viele Sprichwörter sind im Subjekt abstrakt, im Prädikat bildlich. (Beispiele Kap. VII.) Solche stellen also eine Mischklasse dar. Ferner muß man sehr vielen der rein abstrakten Lebensregeln und Erfahrungssätze den Titel des Sprichworts deshalb lassen, weil sie die äußeren Redeformen des Sprichworts haben, den Sinnreim, Rythmus, Reim, Parallelismus usw.: Eile mit Weile; Leid ist ohne Neid; Nachrat, Narrenrat; Hoffen und Harren macht manchen zum Narren; Besser gutlos, denn ehrlos; Ende gut, alles gut. Es könnten also nur solche in Frage kommen, die weder bildlich sind noch die äußere Redeform des Sprichworts haben, also z. B. Irren ist menschlich; Tadeln ist leichter als bessermachen; Selber essen macht fett; Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Wer möchte aber diesen und anderen in allen Schichten des Volks verbreiteten lehrhaften Sprüchen, die jeder Deutsche von Kindheit an kennt und gebraucht, den Titel „Sprichwort“ versagen?

Übrigens ist die Fassung der Sprichwörter keineswegs immer gleich von vornherein fest und unabänderlich gewesen. Bei sehr vielen schwankt sie in der älteren Überlieferung, sei es, daß die Schreiber den ursprünglichen Wortlaut absichtlich oder infofge ungenauer Erinnerung änderten, sei es, daß sich erst nach ihnen eine Fassung als die allgemein übliche durchsetzte. Es gibt daher von vielen Sprichwörtern Varianten der Auffassung und des Ausdrucks. So heißt es z. B. bei Agr. 120: Wer kegeln will, muß aufsetzen, bei Franck 1, 82: Wer spielen will, setz' auf, und ebenda 1, 84: Der etwas gewinnen will, muß etwas daran setzen. Die erste Fassung ist dann die herrschende geworden. Die äußeren Kunstmittel des Rythmus, Reims usw. dienen natürlich zur Durchsetzung und Befestigung der von ihnen getragenen Fassung.

Literatur: Über Wesen, Wert und Bedeutung des Sprichworts ist unendlich viel geschrieben worden. Eine Zusammenstellung von Einzelschriften gibt Meier in Pauls Grundriß der germanischen Philologie II 1, 1259 f. Außerdem sind noch zu nennen: J. M. Sailer, Die Weisheit auf der Gasse oder Sinn und Geist deutscher Sprichwörter, Augsburg 1810 (s. Kap. IV); Wander, Allgemeiner Sprichwörterschatz I (mehr nicht erschienen), Hirschberg 1836, und die Einleitungen zu den Sammlungen von Eiselein, Körte, Wander. Auch für das deutsche Sprichwort brauchbar ist ferner die Einleitung zu Otto, Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Römer, Leipzig 1890.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Sprichwörterkunde