Abschnitt 4

Zunächst öffnete er die schwere Eisentür des Gewölbes. Solche Stätten, zumal wenn sie, wie hier, kellerhaft tief unter der Erde liegen, und die verstaubten Särge, von denen sogar einer auf den anderen steht, schattenhaft im Halbdunkel erscheinen, haben immer etwas von der grauenhaften, allem Lebendigen widerstrebenden Seite des Todes an sich. Niemand trauert mehr um die, deren Gebeine da ruhen und modern, und niemand weiß mehr von ihnen. Neugierig sehen fremde Augen mit heimlichem Schauder auf diese hässlichen schwarzen und gelben Kästen und wenden sich gern dem Lichte wieder zu. Aber ich suchte nach meinem Freunde, dem letzten Pickatell. Dort, ganz hinten in einer Ecke, schimmern die Bronzeverzierungen zweier schöner Rokokosärge, darin schlafen er und seine Gattin. Der schwarze Samt, mit dem die Schreine über- zogen sind, ist verblichen und verstaubt, aber ein Bronzekruzifix liegt auf dem Deckel, und die Inschrift des einen lautet: „Gotthard, Carl Friedrich von Pickatell, geboren den 15. Januar I7I5, hat die Güter Weisdin, Blumenholz, Blumenhagen u. Glambeck von seinem seligen Vater, Gustav Adolph von Piekatell, welche nebst vielen anderen von seinen Vorfahren an 550 Jahre besessen worden, verheiratete sich I747 mit Wilhelmine Amalie von Rieben aus dem Hause Rey und zeugte mit derselben fünf Töchter, verkaufte als letzter Erbe dieser uralten mecklenburgischen Familie seine Güter 1763 an den regierenden Herzog. gestorben am 15. Januar 1773." –

Klingt es nicht, als habe er diese seine Grabschrift selbst verfasst? was in damaliger Zeit nicht ungewöhnlich war. Wie eine leise Klage klingt es durch diese kurze Geschichte eines letzten seines Geschlechtes. –


Ich fragte den Küster nach der Sage von dem verschollenen Erben und dem leeren Sarge. Er sagte, das sei nicht wahr. Man habe immer von jenem auf den anderen stehenden Sarge behauptet, dass er leer sei, aber das wäre nicht der Fall. Er habe ihn einmal im Auftrage geöffnet und die Leiche einer vornehmen Dame darin gefunden. Sie sei einst vom Rhein hergekommen, aber niemand kenne mehr ihren Namen. Der Einzige dieser stillen Gemeinde, den ich selbst noch gekannt habe, ist der Geheimrat von Kardorff, der als Letzter hier gebettet wurde. Es tut mir leid, dass ich den welken Immortellenkranz auf seinem Sarge nicht durch einen frischen ersetzen konnte. Er war ein liebenswürdiger ältlicher Junggeselle und ein Freund aller jungen Mädchen; scherzend nannte man ihn den Lämmerhirten, und seine freundlichen Augen ruhten mit Wohlgefallen auf den frischen, hübschen Gesichtern. Wir wussten, er war uns gut, aber nicht gefährlich. Ich erinnere mich, dass er einmal mehrere von uns, die sich als Schulmädchen kostümiert hatten, in der Verkleidung einer Gouvernante auf ein kleines Maskenfest begleitete Und meinem Vater, den er nicht erkannte und der mich küssen wollte, sehr entrüstet solche Zudringlichkeit verwies. Wir wandten uns nun der Kirche zu. Der Küster ließ das Gewölbe offen, es sollte Frühlingsluft hineinbringen; sie bringt Vogelsang mit, und weiße Blüten- zweige neigen sich und blicken hinab in das Reich der Toten, aber die merken es nicht; sie sind, so hoffen wir, droben im ewigen Frühling und sehnen sich nicht in den vergänglichen der Erde zurück. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

Die Kirche ist ein Oktogon, das statt der Kuppel ein dunkel gewordenes, spitz zulaufendes Ziegeldach krönt, in dessen Mitte sich ein originelles Holztürmchen abschliessend erhebt. Es baut sich nach dem Prinzip einer Pagode in drei abgestuften, sich verjüngenden Etagen auf; durchsichtig öffnen sich die zierlichen Bögen der beiden unteren. Die Stockwerke sind durch eine vorspringende, wenig ge- schweifte Bedachung voneinander getrennt. Der oben angeführte bauverständige Besucher Weisdins erblickt mit Recht darin einen Anklang an die Chinoiserie des Rokoko, die eine Zeit lang im achtzehnten Jahrhundert sehr Mode war. Es bestand eine gewisse Sympathie zwischen dem bezopften Rokoko und dem bezopften Chinesentum. Derselbe Architekt sagt, die Kirche in Weisdin gehöre zu den interessantesten Beispielen heimatlicher Denkmälerkunst. Jedenfalls dürfte sie ihresgleichen an ansprechender Originalität so leicht nicht finden. Dieser Eindruck steigerte sich, als wir durch das Portal eintraten, auf dem zwei vom Zahne der Zeit stark benagte Holzvasen ihren Platz noch behaupten und über dem das beliebte Ochsenaugenfenster des achtzehnten Jahrhunderts sich auftut. In den römischen Kirchen der farbenfrohen Renaissancezeit erfreut sich jedes Künstlerauge an der Wirkung der bunten Marmorwände und des reichen Goldschmuckes, und in dem Weisdiner Landkirchlein erlebt man gleichsam eine kleine Pastellwiederholung dieser prächtigen, satten Ölgemälde. Es ist auch hier alles bunt und farbig. Freilich, glänzendes Edelmetall und polierten Marmor konnten die bescheidenen Mittel eines mecklenburgischen Landedelmannes und seiner Dorfgemeinde nicht aufwenden, aber dafür gab es Farben die Menge in den Töpfen des Meister Malers, und sie wurden nicht gespart. Nun hat teils der leichte Schleier, den ein und ein halbes Jahrhundert über das Ganze ausbreitete, teils die Diskretion des alten Handwerkskünstlers und sicher auch der Farbensinn des Bauherrn ein gewisses zartes Grau abstimmend über all diesen fleckig gemalten Marmor und die Frucht- und Blumengirlanden an den Gestühlen ausgebreitet, so dass es durchaus nichts Krasses oder Aufdringliches hat, aber überaus warm und behaglich wirkt. Hohe, weite Bogen umspannen rings den Mittelraum und sind durch Emporen ausgefüllt, zu beiden Seiten des Altars durch die herrschaftlichen Gestühle. An diesen ist das Pickatellsche Wappen, ein weißer verzierter Balken im blauen Felde, gemalt, der Helm trägt einen gekrönten Stierkopf, aus dem zwei graue Straußenfedern aufragen. Daneben das Riebensche, ein grauer Fisch in rotem Felde. Auf einer bequemen Treppe kann man von der Hintertüre der Kirche in diese Gestühle gelangen. Das eine, für die Familie des Gutsherrn bestimmt, ist mit seinen zierlichen Schiebefenstern und einem Kamin im Hintergrunde zur Zeit des Herrn Gotthard sicher ein ganz behaglicher Aufenthalt gewesen. Jetzt ist die Kaminöffnung vermauert, und das Ganze spricht von wenig Pflege; nur ein hübscher, alter Stuhl mit verblichenem Polster zeugt noch von vergangener Pracht. Ein etwas krass übermalter Taufengel schwebt von der mit leichten Stuckverzierungen geschmückten weißen Decke der Kirche herab. Die Kanzel befindet sich über dem Altar und ist in Weiß und Gold gehalten; sie tritt wirkungsvoll aus dem schönen Altarprospekt hervor. Sachverständige loben die Anordnung der Kanzel über dem Altar, wie sie die nüchterne Zeit der Aufklärung be- sonders liebte, aber dem Empfinden des Laien entspricht sie nicht. Der Altar ist als Ort höchster Sammlung vor Gottes Angesicht, ja einer gewissermaßen erhöhten Gottesgegenwart gedacht, und das Wort auch des Pfarrers soll über ihm schweigen. Ein Bild, das unserer Andacht, vielleicht leise erhebend, den Weg weist, ohne uns zu stören, ziehen wir dem aus der Wand aufdringlich und bedrückend vorspringenden Kanzelbau vor. Das mag künstlerisch falsch empfunden sein, wird aber, glaube ich, viele Anhänger in christlichen Gemeinden finden.

Wir verließen die Kirche und wanderten, geführt von dem alten Küster, die Dorfstraße entlang, dem Pickatellschen Armenhause zu. Wir traten in eine der Türen des lang gestreckten, weiß getünchten Hauses.

Unterwegs hatte uns der Küster schon berichtet, dass die Almosenempfänger freie Wohnung und ein Stück Gartenland, dazu jährlich vier Taler (12 Mark) bares Geld, alle Vierteljahre einen Faden Brennholz und drei Scheffel Roggen bekommen. Das bare Geld erscheint unserer Zeit wenig, im achtzehnten Jahrhundert war es viel, auch können die Leute sich immer noch etwas dazu verdienen; ja eine Klausel der Stiftungsurkunde, die aus Mangel an Bedürfnis heute keine Anwendung mehr findet, erlaubt den Hospitaliten sogar, innerhalb des Kabinettsamtes zu betteln.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Erde - Wanderungen durch Mecklenburg