Abschnitt 5

Wir betraten eine der Wohnungen. Ich fand eine weisshaarige, freundliche kleine Frau im engen Flur, die bereitwillig ihre Stubentür öffnete. Ein sauberes, geräumiges Zimmer nahm uns auf. Einfacher Hausrat, zwei weiß bedeckte Betten, allerlei kleine Bilder an den Wänden und, am Kamin sitzend, die andere Bewohnerin, die eben Speck in eine auf dem knisternden Holzfeuer stehende Pfanne schnitt; eine Schale mit Kartoffeln auf der Ofenbank neben ihr zeigte, wozu das Fett dienen sollte. Es gab ein behagliches Bild dieses Lebens im engen Rahmen. Augenscheinlich ging es den beiden ganz gut, dank dem mildtätigen Herrn Gotthard. Die kleine Weisshaarige bestätigte mir das auch. Sie führte mich in die Kammer, wo sie ihre Vorräte, Töpfe und Flaschen stehen hatten.

„Ja, wir beide vertragen uns ganz gut", sagte sie vergnügt und fügte einsichtsvoll hinzu, ,,na, das muß´n ja auch." Sie ist augenscheinlich eine liebenswürdige Seele. - Gesegnet, wer sich ein solches Andenken in dem Leben der Bedürftigen stiftet.


Da unser Wagen noch nicht da war, kehrten wir wieder zum Herrenhause zurück und nahmen Platz auf einer kleinen Terrasse vor der Seitentür, die ein schmales Stück Land, das sich zwischen Haus und See hinzieht, beherrscht. Unter einer alten, vielfach verästelten Hainbuche sitzend, blickten wir über die grüne Brustwehr einer niedrigen geschorenen Buchsbaumhecke auf den See und den Burghügel. Von der Ruine da oben sieht man freilich hier nichts. Ich war aber früher schon dort und stieg zur Höhe hinan, wo unter mächtigen alten Buchen, von Buschwerk halb versteckt, die bröckelnden Gemäuer liegen, deren Ursprung im Dunkel der Jahrhunderte verborgen ist. Möglicherweise ist es seit Urzeiten eine befestigte Stätte gewesen, sicher im Mittelalter eine Burg, die ursprünglich auch bewohnt worden sein mag, später, darauf deutet die Beschränktheit der Anlage, wohl nur als Zufluchtsstätte in Kriegs- und Fehdenöten diente. Es hat immer einen eigenen Reiz, den Spuren längst verschollenen Menschendaseins auf solchen Stätten nachzugehen; es ist, als umwehe sie noch der Geist jener Vergangenheit und flüstere leise von dem, was einmal war. Auch hier hat die Sage diese geheimnisvolle Sprache in ihrer Weise gedeutet, wie sie so gern tut. Sie berichtet von einem vergrabenen Schatze, der am Johannistage brennen soll; wer die Flamme sieht, kann ihn heben. Unsere alte Kastellanin erzählte mir, dass Jahr für Jahr zwei Leute aus Neustrelitz gekommen seien, die sich am Johannistage dort oben hinsetzten und auf das geheimnisvolle Feuer warteten, aber sie sind darüber gestorben und haben den Schatz nicht gefunden.

Nach Schätzen habe ich dort drüben nicht gesucht, bin aber einer Erinnerung nachgegangen. Ein Waldweg unterhalb des Burghügels führt, nicht weit vom Seeufer sich hinziehend, zu jener Insel, wo der Kammerherr von Dewitz und seine schöne Braut einst den beglückenden Bund fürs Leben schlossen. Noch verbindet eine Brücke das kleine Eiland mit dem Ufer. Unter Buschwerk und hohen Eichen suchte ich die Stelle, wo der Traualtar gestanden haben mag. Mit ganz besonderem Interesse malte ich mir das eigentümliche Bild aus, wie die Hofgesellschaft, an ihrer Spitze der Herzog und Prinzessin Christel, in den farbenreichen Rokokokostümen hier das junge Paar umstanden haben mögen, indessen der schöne Septembertag mit seinem stillen Sonnenschein und seinem leise sich färbenden Laube den Rahmen darum wob. Ich sage "mit ganz besonderem Interesse“, es waren meine Urgroßeltern, die dort den Mittelpunkt des Festes bildeten, und das Bild der schönen Ahne mit ihren großen braunen, von feinen dunklen Brauen überwölbten Augen, das sie im rosa Kleide und in hoher ungepuderter Frisur, mit rosa Flor und Perlen durchflochten, darstellt, ist mir wohlbekannt. –

Unsere Kastellanin erzählte uns allerlei; sie und ihr Mann hatten ehedem fleißig in dem nun etwas verwilderten Garten gearbeitet; damals waren noch Blumenbeete im Rasen, die Herrschaften kamen auch öfter hinaus. Nun waren sie beide alt; es gab keine Blumen mehr, und die fürstlichen Besuche waren selten geworden. Eine Freude hatte die Alte, die musste ich doch bewundern. Sie führte mich, wie sie sagte, einen kleinen Hundesteig entlang, das heißt einen schmalen Fußpfad durch hohes Gras zu einem neuen Ställchen, darin grunzten ein Paar rosa Schweinchen mit schwarzen Flecken. Das waren ihre Pfleglinge. Dann öffnete sie ein Gartenpförtchen. „Der liebe Gott setzt uns immer was Schönes her,“ sagte sie, „sehen Sie nur die Vergissmeinnicht, ich habe sie nicht gepflanzt." Sie deutete auf einen kleinen viereckigen Grasplatz hinter Stachelbeerbüschen, der übersät mit den zarten blauen Blumen war, zwischen denen die gelben Sterne der Butterblumen prangten. „Erst kommen Veilchen, dann Vergissmeinnicht, und nun kommt Schweine- kraut", sagte die Frau; Sie meinte Nessel und allerlei Un- kraut für ihre Schweinchen. Auch von Kindern und Enkeln berichtete sie. Ihre Tochter hatte nach achtjähriger Ehe das erste Kindchen bekommen. ,,Pastor Proefke sagte, das ist Freude und ganz besondere Freude für dieses Haus", es war wohl in der Taufrede. Sie beklagte, dass sie so selten zu den Kindern könne, aber sie könne ihren alten Mann nicht verlassen. –

Dann kam der Wagen, und wir verabschiedeten uns.

Was würde die Hofgesellschaft von Adolfslust wohl gesagt haben, wenn sie mit uns auf der Chaussee nach Neustrelitz zurückgefahren wäre, wo unser Wagen so leicht dahin rollte, während die Karossen Sr. Durchlaucht durch den tiefen Sand mahlen mussten? Was gar, wenn plötzlich ein Automobil vorbei sauste, oder ein Pfiff den Wald durchgellte und mit Keuchen und Pusten eine heranbrausende Lokomotive daher käme, wie sie jetzt unseren Weg kreuzt und uns mit einem Schlage aus den Erinnerungen des achtzehnten in die Gegenwart des zwanzigsten Jahrhunderts versetzt.

Ein stattlicher Zug eilt, die Chaussee schneidend, vorüber. Wir blicken ihm nach, wie man jedem Eisenbahnzuge nachsieht, weil er etwas Geheimnisvolles an sich hat. Er beherbergt Menschen, die da kommen und gehen, wir wissen nicht woher und wohin, sie fliegen an uns vorüber, jeder mit seinem besonderen Lebensgeschicke von Leid und Freude und Alltäglichkeit. Wir tauchen einen Augenblick vor ihnen auf, sie kaum vor uns. Wie der Rauch in den Kiefern zerflattert, wie das Geräusch hinter den Wald- bäumen verklingt, so sind sie fort, ehe wir sie erkannten. Dies war wohl gar der „Apfelsinenzug", wie man ihn scherzweise genannt hat, weil er die Verbindung zwischen Süd und Nord, zwischen Triest und Kopenhagen, herstellt. Man könnte heute die süßen, gelben Früchte am Ufer der Adria pflücken und sie am zweiten oder dritten Tage mit seinen Freunden am Strande der Ostsee in Kopenhagen verspeisen.

Seit der wendische Pfeilschütz diese Wälder durchstreifte, ist die Kultur mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts gegangen. Schon fliegt man über das Strelitzer Land hin und sieht das Städtchen wie einen Punkt aus der Vogelperspektive. Ob den folgenden Generationen mit dem Schwinden der Entfernungen die Lust am Wandern und das liebevolle Sichversenken in die intimen Reize der Heimat wachsen wird?

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Erde - Wanderungen durch Mecklenburg