Abschnitt 3

Der Herzog selbst hatte eine seiner oben erwähnten Sommerreisen nach Hamburg unternommen, und der Hof war eine Zeit lang in der ländlichen Freiheit und Stille von Adolfslust sich selbst überlassen. Da hatte der Kammerherr denn genügend Zeit, die junge Dame näher kennen zu lernen. Wir dürfen uns das Paar wohl viel beisammen denken, in den lauschigen Kabinettchen, bei der Lektüre französischer, vielleicht auch deutscher Bücher, etwa einer Klopstockschen Ode oder der so beliebten Almanache, bei Gondelfahrten auf dem reizenden See oder bei Promenaden zwischen den geschorenen Hecken des Gartens. Sie sittsam neben ihm schreitend, während das Feuer ihrer dunklen Augen spielte und sie ihren kleinen Fuß, dessen Schönheit sie durch elegante Chaussure zu heben verstand, zierlich unter dem kurz geschürzten, bauschigen Röckchen bald zeigte und bald verbarg. Anfangs stolz, dass er, wie er sagt, den ersten Anläufen der Göttin Venus mutvoll genug wider- standen habe, erlag er ihr doch am Ende völlig, denn er entdeckte, dass in dieser schönen Hülle ein kluger, fein gebildeter Geist und ein warmes Herz wohnten. Er geriet nun in einen Zustand, den er wie folgt beschreibt: "Ich befand mich in einem wahren Martyrium. Ich war von einer auslöschenden Mattigkeit befallen, mein Herz klopfte unaufhörlich in großer Niedergeschlagenheit, und mein Körper, der sich nur von Seufzern, Tränen und Stöhnen nährte, ward so schwach und entnervt, dass ich mehrere Male in Ohnmacht fiel. Abwesend von meiner Göttin starb ich vor Sehnsucht, sie zu sehen, mich in ihren Augen zu spiegeln ; war sie gegenwärtig, so konnte ich ihre Blicke nicht ertragen und wurde immer kränker davon."

Drei Wochen schmachtete er, dann fand er wohl endlich das erlösende Wort, und an einem schönen Septembertage führte er das reizende Fräulein heim. Die Hochzeit wurde in Adolfslust gefeiert, und die Trauung fand auf einer kleinen Insel im See statt, die durch eine Brücke mit dem Lande verbunden ist.


So liebte man im achtzehnten Jahrhundert! - - - - - - - - - - - - - - - - - -

Ein Besuch der Wohnung unserer Führerin versetzte mich wieder in die lebendige Gegenwart.

In der geräumigen Küche, die wohl immer als solche gedient hat, denn auch eine Pumpe steht darin, fanden wir den noch stattlichen alten Kastellan, dessen gichtkranke Füße in Filzschuhen steckten und seine Bewegung hemmten. Er sah ebenso sauber aus wie seine Umgebung, und es stellte sich heraus, dass das Ehepaar viele Jahre in einem uns verwandten Hause, bei dem Sohne jenes liebeskranken Kammerherrn und seiner schönen Auguste in Dienst gestanden hatte. Ich freute mich über das blanke Küchengerät und erfuhr, dass die glänzenden Messingkessel lauter Hochzeitsgeschenke seien. Sechsundvierzig Jahre haust das Paar nun schon hier in einigen behaglichen kleinen Stuben, in die, wie die Frau sagte, die Nachmittagssonne freundlich hinein zuscheinen pflegt. Ihre beiden Kinder haben längst eigene Nester gebaut.

Auf dem Wege zum Garten des Pächters warfen wir noch einen Blick in die schönen gewölbten Keller, in denen sich auch das, ehedem auf jedem Hofe vorhandene Gefängnis befand. Ein dunkles Loch mit eisernen, in die Wände eingemauerten Ringen erinnerte an die Zeiten, wo man wenig Umstände mit Verbrechern zu machen pflegte, wo vielleicht aber auch mancher Unschuldige in solchen Räumen schmachten musste. Der blühende Garten, den wir nun betraten, verscheuchte die dunklen Bilder. Stiefmütterchen und Vergissmeinnicht standen unter den Obstbäumen, die ihre rosaweißen Frühlingegewänder in der Sonne ausbreiteten. Es ist der ehemalige herrschaftliche Küchengarten, und die alte massive Mauer mit ihren Bögen und ihrer Ziegelsteinbedachung stammt sicher noch aus der Zeit des sorgfältigen Herrn von Pickatell. Wir traten durch das schwarze, hölzerne Gittertor, zwischen zwei starken, weiß abgeputzten Pfeilern, in die alte, prächtige Allee, die, aus Kastanien und Linden bestehend, jetzt bis zur Chaussee führt und früher wohl ein Privatweg der Herrschaften zur Land- straße war. In einer Koppel weideten Fohlen; sie kamen neugierig herbei, als der kleine, gelbe Hund der Kastellanin sie anbellte. Es war so recht ein ländliches Frühlingsbild, die schlanken, dunklen Tiere auf der grünen Fläche, im Hintergrunde begrenzt durch mattweißliches Weidengebüsch, vorn die Riesenstämme der mächtigen alten Bäume mit ihrem jungen Blätterschmuck und durch das Tor der Blick in den blühenden Garten.

Uns lockte aber nun die Kirche. Ein baukundiger Besucher( Architekt Hustädt ) bedauerte mit Recht, dass die Hofgebäude nicht auch noch das Gepräge des achtzehnten Jahrhunderts tragen wie das Herrenhaus und die Kirche und somit ein Ganzes von intimstem Reize bilden.

Auf der Kirchhofsmauer saßen einige Schulbuben, die noch die Bücher unter dem Arme hatten. Das belebte unsere Hoffnung, den Küster doch daheim zu treffen, obgleich unsere Kastellanin gemeint hatte, er lege heute Kartoffeln auf seinem Felde. Wir schickten einen der Buben, um ihn holen zu lassen. Der Kirchhof war wie ein blühender Obstgarten anzuschauen; die ziemlich ungepflegten Gräber bildeten eine wellige Grasfläche, aus der hier und da ein alter aufrechter, grauer Grabstein, ein schwarzes Kreuz aufragte, und darüber woben sich aus tausend zarten Blüten an schwanken Zweigen weiße Kränze und Girlanden, mit denen zahlreiche Kirschbäume sich heute geschmückt hatten. Um die Kirche herum kamen uns Frühlingsblumen anderer Art, in Gestalt einer Schar kleiner Mädchen, entgegengetrippelt, augenscheinlich vergnügt, der engen Schulstube entronnen zu sein.

„Kommt ihr aus der Schule?“

„Ja!“ im Chor.

„Habt ihr auch was gelernt?“ fragte ich scherzend.

Da sieht mich ein kleiner Rotkopf, dem das goldige Haar in dicker Welle auf dem Köpfchen liegt, mit lachenden blauen Augen an und ruft keck: „Nee!“

Eine etwas verständiger darein schauende Blonde aber sagt: „Ja, aber see (die Rote nämlich) hett man Schacht kreegen.“

„Na, du büst woll man dömlich?“ necke ich die Kleine.

Da lacht sie übers ganze runde Gesichtchen, schüttelte den Fuchskopf und ruft vergnügt: „Nee, dömlich bün'k nich!“

Und dann kam der nette, alte Küster, der auch schon vierzig Jahre auf seinem Posten ist, und brachte die großen Schlüssel.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Erde - Wanderungen durch Mecklenburg