Abschnitt 1
Etwa sieben Kilometer von Neustrelitz, an der Chaussee nach Neubrandenburg liegt das großherzogliche Kabinettsgut Weisdin. Es ist mit kurzer, durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges verursachter Unterbrechung über fünfhundert Jahre im Besitze der Familie von Peccatel oder Pickatell gewesen. Dieses Geschlecht, seit ältester Zeit in Mecklenburg begütert - schon um 1228 machte Bernd von Peccatel einen Kreuzzug mit - ist 1773 mit dem letzten männlichen Träger des Namens, Gotthard Carl Friedrich von Pickatell, ausgestorben. Zehn Jahre vor seinem Tode verkaufte er das Gut an Herzog Adolf Friedrich IV. Es wurde zeitweise von diesem Fürsten im Sommer bewohnt, war im vorigen Jahrhundert Privatbesitz des damaligen Erbgroßherzogs Friedrich Wilhelm, der aber nie dort wohnte, und ist heute verpachtet, doch blieben Herrenhaus und Garten reserviert.
Zwei Zeitabschnitte sind es darum, die ihre Spuren dort zurückgelassen haben, zuerst die der Familie von Pickatell und dann der Aufenthalt Herzog Adolf Friedrichs. –
Es war ein ganz köstlich frischer Maimorgen. Sonnenschein, blauer Himmel, einige abziehende weiße Wolken, in die sich die Dünste der Nacht zusammengeballt hatten, alles sah so froh und verheißungsvoll aus, wie nur ein norddeutscher Maimorgen aussehen kann.
Die Villen, in die die alte Glambecker Straße hier ausläuft, lagen bald hinter uns, zur Rechten warf ich noch einen Blick auf den tief liegenden Glambecker See. Eine hübsche Promenade zieht sich um seine waldigen Ufer. In meiner Erinnerung sehe ich die französischen Gefangenen in ihren roten Hosen, blauen Röcken und hässlichen Mützen, die diese Promenade im Jahre 1870/71 anlegen mussten. Jetzt geht man damit um, drüben am Walde einen neuen Villenstadtteil anzulegen; wir haben aber keine Muße, über die Schönheit und Nützlichkeit dieses Plans zu grübeln. Rasch fliegt das Schützenhaus, die Schießstände im Kiefernholz - und zur Linken das stille Reich der Toten, der große Friedhof, vorüber. Und dann begleitet uns lange zu beiden Seiten der Wald. Zuerst sind es die ernsten Kiefern, die, wo gerade eben die Sonne hinter ihnen steht, ihre schlanken Stämme wie dunkle Säulen empor recken, zwischen denen feine grüne Schleier jungen Buchenlaubes wehen, das, immer mehr die Oberhand gewinnend, schließlich in dichten Massen die Kiefern verdrängt und das Feld behauptet. Geheimnisvoll verbirgt es halb und lässt ihn doch zu uns herauf schimmern, den klaren Spiegel des Krebs- sees, der wie ein rechtes Waldidyll jetzt links von der Chaussee ablocken will. Dort wissen wir unter hohen Eichen einen Platz, mit dem Blick auf das stille Wasser, in dem sich die grüne Umrahmung der Buchen, die schlanken, weißen Birkenstämme spiegeln und wo man stundenlang dem lauschen könnte, „was sich der Wald erzählt". Aber wir wollen nach Weisdin, also auf ein anderes Mal, du Waldmärchen! - Ja, wer recht viel Zeit hat, sollte nicht hier, sondern am Ufer des langen Sees, der jetzt zur Rechten fast die Chaussee bespühlt, so dicht tritt er heran, zu Fuß entlang unserem Ziele zuwandern, dort, wo ein enger Pfad sich in dichtem Gebüsche ganz nahe am Wasser hinzieht, und den Wechsel der Beleuchtung, wie die Stimmung des Tages auf sich wirken lassen.
Ich kann nie an dem langen See vorüber, ohne einer schauerlichen Begebenheit zu gedenken, die sich zur Winterszeit einst hier zugetragen hat. Der See bietet dann eine wunderbare schöne, klare Eisfläche, die auch von der Neustrelitzer Jugend bisweilen zu Schlittschuhpartien benutzt wird. Er ist fischreich, und in kalter Nacht machte sich einmal ein Fischer daran, Luhmen, das heißt weite Löcher in das dicke Eis zuschlagen, um am folgenden Tage seine Beute davonzutragen. Als er aber eine große Scholle, die er ringsum gelöst hatte, mit Mühe abhob, stieg aus der Tiefe, die sich auftat, eine grauenhafte Gestalt vor ihm auf; steif und starr erhob sie sich vor dem Entsetzten. Es war die Leiche einer Frau, die vor dem Frost im See ertrunken war und nun durch den Druck des Wassers aus der offenen Stelle empor gehoben wurde. “
Aber fort mit dem Nachtbild, es ist Morgen, und Sonnenschein liegt auf den mächtigen runden Wipfeln der alten Lindenallee, die dort von der Chaussee abbiegt, und auf dem hohen, braunroten Ziegeldache, das über ihnen auftaucht. Wir folgen ihr nicht, unser Wagen rollt noch ein Stück weiter. Gerade gegenüber von der sonderbaren achteckigen Kirche mit ihrem Pagodentürmchen fahren wir bergab, über den Wirtschaftshof zum Herrenhause. Gebüsch, aus dem zwei hohe, dunkle Tannen aufragen, trennt den Platz von den Gebäuden des Hofes, zu denen das Haus eigentlich nicht mehr recht passt. Es blinzelt halb verschlafen aus seinen kleinen Fenstern, aus denen nur selten noch ein anderes Antlitz schaut als das der alten Kastellanin oder ihres noch älteren Mannes, die in einem Hinterzimmer hausen und dafür sorgen, dass Spinnen, Fliegen und Staub sich nicht allzu fest einnisten.
Es ist eine echte Rokokowohnstätte des achtzehnten Jahrhunderts, dessen Kind sie ist, das spricht aus der etwas nüchternen, grauweißen Fassade unter dem gemütlichen, großen Ziegeldache, das eben seinen sanft getönten Schatten auf den mit sprossendem Grase bewachsenen Platz malt. Zwei prächtige, große Schornsteine ragen, wie treue Haus- wächter, daraus empor, und die steife Würde wird durch ein wenig Koketterie, wie sie auch um die roten Lippen der geschnürten und gepuderten Bewohnerinnen von ehe- dem spielte, gemildert, denn um die Fenster ist leichtes Linienwerk fast nur angedeutet, und um das herzogliche Wappen über der Tür schlingt sich Gerank, wie mit spielender Hand hingeworfen.
Ich liebe diese alten Landhäuser; man sieht ihnen das Leben ihrer Zeit an, Sie sind aus dem Geiste des Geschlechtes, das sie baute, erwachsen und hoben daher etwas Gewordenes, nichts Gemachtes an sich. Heute haben freilich die ehedem vielteiligen Fenster mit dem grünlichen Glase längst andere, größere Scheiben bekommen, aber wenn man die ausgetretenen Stufen zwischen den zierlichen Eisengittern hinansteigt und vor der prächtigen alten Tür steht, so ist man ganz im Bilde. Da sind die Vasen und Blumen, mit denen der bezopfte Meister Tischler die Flügel sorgfältig schmückte, da die mit edler Patina überzogenen, originellen Messingklopfer, aus denen kleine drollige Köpfchen hervorschauen; wenn man sie kräftig rührt, dröhnt es durch die weiten, unbewohnten Räume des ganzen Hauses. Nun öffnet die Kastellanin, die vom Alter gebeugt ist, deren faltiges Gesicht unter dem falschen, braunen Scheitel und dem schwarzen Tüllhäubchen uns aber freundlich anschaut. Mit dem Stolze guter Untergebener macht sie gesprächig auf jede Besonderheit ihres Reiches aufmerksam.
Zwei Zeitabschnitte sind es darum, die ihre Spuren dort zurückgelassen haben, zuerst die der Familie von Pickatell und dann der Aufenthalt Herzog Adolf Friedrichs. –
Es war ein ganz köstlich frischer Maimorgen. Sonnenschein, blauer Himmel, einige abziehende weiße Wolken, in die sich die Dünste der Nacht zusammengeballt hatten, alles sah so froh und verheißungsvoll aus, wie nur ein norddeutscher Maimorgen aussehen kann.
Die Villen, in die die alte Glambecker Straße hier ausläuft, lagen bald hinter uns, zur Rechten warf ich noch einen Blick auf den tief liegenden Glambecker See. Eine hübsche Promenade zieht sich um seine waldigen Ufer. In meiner Erinnerung sehe ich die französischen Gefangenen in ihren roten Hosen, blauen Röcken und hässlichen Mützen, die diese Promenade im Jahre 1870/71 anlegen mussten. Jetzt geht man damit um, drüben am Walde einen neuen Villenstadtteil anzulegen; wir haben aber keine Muße, über die Schönheit und Nützlichkeit dieses Plans zu grübeln. Rasch fliegt das Schützenhaus, die Schießstände im Kiefernholz - und zur Linken das stille Reich der Toten, der große Friedhof, vorüber. Und dann begleitet uns lange zu beiden Seiten der Wald. Zuerst sind es die ernsten Kiefern, die, wo gerade eben die Sonne hinter ihnen steht, ihre schlanken Stämme wie dunkle Säulen empor recken, zwischen denen feine grüne Schleier jungen Buchenlaubes wehen, das, immer mehr die Oberhand gewinnend, schließlich in dichten Massen die Kiefern verdrängt und das Feld behauptet. Geheimnisvoll verbirgt es halb und lässt ihn doch zu uns herauf schimmern, den klaren Spiegel des Krebs- sees, der wie ein rechtes Waldidyll jetzt links von der Chaussee ablocken will. Dort wissen wir unter hohen Eichen einen Platz, mit dem Blick auf das stille Wasser, in dem sich die grüne Umrahmung der Buchen, die schlanken, weißen Birkenstämme spiegeln und wo man stundenlang dem lauschen könnte, „was sich der Wald erzählt". Aber wir wollen nach Weisdin, also auf ein anderes Mal, du Waldmärchen! - Ja, wer recht viel Zeit hat, sollte nicht hier, sondern am Ufer des langen Sees, der jetzt zur Rechten fast die Chaussee bespühlt, so dicht tritt er heran, zu Fuß entlang unserem Ziele zuwandern, dort, wo ein enger Pfad sich in dichtem Gebüsche ganz nahe am Wasser hinzieht, und den Wechsel der Beleuchtung, wie die Stimmung des Tages auf sich wirken lassen.
Ich kann nie an dem langen See vorüber, ohne einer schauerlichen Begebenheit zu gedenken, die sich zur Winterszeit einst hier zugetragen hat. Der See bietet dann eine wunderbare schöne, klare Eisfläche, die auch von der Neustrelitzer Jugend bisweilen zu Schlittschuhpartien benutzt wird. Er ist fischreich, und in kalter Nacht machte sich einmal ein Fischer daran, Luhmen, das heißt weite Löcher in das dicke Eis zuschlagen, um am folgenden Tage seine Beute davonzutragen. Als er aber eine große Scholle, die er ringsum gelöst hatte, mit Mühe abhob, stieg aus der Tiefe, die sich auftat, eine grauenhafte Gestalt vor ihm auf; steif und starr erhob sie sich vor dem Entsetzten. Es war die Leiche einer Frau, die vor dem Frost im See ertrunken war und nun durch den Druck des Wassers aus der offenen Stelle empor gehoben wurde. “
Aber fort mit dem Nachtbild, es ist Morgen, und Sonnenschein liegt auf den mächtigen runden Wipfeln der alten Lindenallee, die dort von der Chaussee abbiegt, und auf dem hohen, braunroten Ziegeldache, das über ihnen auftaucht. Wir folgen ihr nicht, unser Wagen rollt noch ein Stück weiter. Gerade gegenüber von der sonderbaren achteckigen Kirche mit ihrem Pagodentürmchen fahren wir bergab, über den Wirtschaftshof zum Herrenhause. Gebüsch, aus dem zwei hohe, dunkle Tannen aufragen, trennt den Platz von den Gebäuden des Hofes, zu denen das Haus eigentlich nicht mehr recht passt. Es blinzelt halb verschlafen aus seinen kleinen Fenstern, aus denen nur selten noch ein anderes Antlitz schaut als das der alten Kastellanin oder ihres noch älteren Mannes, die in einem Hinterzimmer hausen und dafür sorgen, dass Spinnen, Fliegen und Staub sich nicht allzu fest einnisten.
Es ist eine echte Rokokowohnstätte des achtzehnten Jahrhunderts, dessen Kind sie ist, das spricht aus der etwas nüchternen, grauweißen Fassade unter dem gemütlichen, großen Ziegeldache, das eben seinen sanft getönten Schatten auf den mit sprossendem Grase bewachsenen Platz malt. Zwei prächtige, große Schornsteine ragen, wie treue Haus- wächter, daraus empor, und die steife Würde wird durch ein wenig Koketterie, wie sie auch um die roten Lippen der geschnürten und gepuderten Bewohnerinnen von ehe- dem spielte, gemildert, denn um die Fenster ist leichtes Linienwerk fast nur angedeutet, und um das herzogliche Wappen über der Tür schlingt sich Gerank, wie mit spielender Hand hingeworfen.
Ich liebe diese alten Landhäuser; man sieht ihnen das Leben ihrer Zeit an, Sie sind aus dem Geiste des Geschlechtes, das sie baute, erwachsen und hoben daher etwas Gewordenes, nichts Gemachtes an sich. Heute haben freilich die ehedem vielteiligen Fenster mit dem grünlichen Glase längst andere, größere Scheiben bekommen, aber wenn man die ausgetretenen Stufen zwischen den zierlichen Eisengittern hinansteigt und vor der prächtigen alten Tür steht, so ist man ganz im Bilde. Da sind die Vasen und Blumen, mit denen der bezopfte Meister Tischler die Flügel sorgfältig schmückte, da die mit edler Patina überzogenen, originellen Messingklopfer, aus denen kleine drollige Köpfchen hervorschauen; wenn man sie kräftig rührt, dröhnt es durch die weiten, unbewohnten Räume des ganzen Hauses. Nun öffnet die Kastellanin, die vom Alter gebeugt ist, deren faltiges Gesicht unter dem falschen, braunen Scheitel und dem schwarzen Tüllhäubchen uns aber freundlich anschaut. Mit dem Stolze guter Untergebener macht sie gesprächig auf jede Besonderheit ihres Reiches aufmerksam.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Erde - Wanderungen durch Mecklenburg