Abschnitt 2

Wir treten in den weiten, weißgetünchten Flur, dessen Wandflächen durch einzelne große Bilder belebt sind, alte Ölporträts herrschaftlicher Hunde. Jenes zierliche Spitzchen lag vielleicht auf Prinzess Christels Schoß, und der große gefleckte Windhund lief wohl neben der schwerfälligen Karosse Sr. Durchlaucht durch den tiefen Sand nach Adolfslust, wie man Weisdin dazumal nannte. Die schöne Eichentreppe im Hintergrunde mit dem dunklen, reich geschnitzten Geländer hebt sich wirkungsvoll aus der hellen Umgebung, und ein Lichtstreifen fällt durch hintere Fenster zwischen die zu beiden Seiten aufsteigenden Flügel; dort schwebt eine alte, bräunlich gewordene Erntekrone. Unsere Führerin belehrt uns, dass sie von dem letzten Erntefeste stammt, das Erbgroßherzog Friedrich Wilhelm vor seinem Regierungsantritt 1860 hier feiern ließ. Welch ein hübsches Bild mögen die nun leider verschwundenen bunten mecklenburgischen Trachten damals in diesem hellen Raum abgegeben haben. Wir durchwandern dann die kleinen Kabinettchen, aus denen man so hübsche Ausblicke auf den dicht hinter dem Hause gelegenen See und auf das jenseitige Ufer mit dem jungen Buchengrün des Burgh?gels genießt, und die größeren Räume mit den hübschen Stuckdecken, weiten Kaminen, tiefen Fensternischen und schneeweiß gescheuerten Dielen. Endlich betreten wir im oberen Stocke den hübschen kleinen Spiegelsaal. In die hell graubraune Wand sind in Kopfhöhe zahlreiche, etwa dreiviertel Meter hohe Spiegel eingelassen, vor denen je zwei Lichtarme befestigt sind. Reizende weiße Stuckornamente umrahmen sie und setzen sich in zarter Farbenwirkung auf der mattbräunlichen Wandfläche fort, sie tropfen vom Sims herab und schlingen sich oben an der Decke um Namenszug und Wappen des Erbauers, Gotthard von Pickatell. Der Mann schläft lange drüben im Gewölbe der Kirche, aber sein Bild geleitet mich durch diese Räume, aus deren Schöpfung so viel feines Verständnis, ein so edel gerichteter Geist spricht. Ich erkenne ihn durch die Schleier der Jahrhunderte. Er war der Letzte eines stolzen Geschlechtes. Als er sein junges Weib, Amalie von Rieben, heimführte, als er die zerstreute Habe seiner Väter wieder zu sammeln suchte, in Weisdin, das teil- weise verpfändet und letztlich durch eine Feuersbrunst heimgesucht war, ein neues Haus baute und überall zu bessern und zu verschönen trachtete, da hoffte er, dem alten Stamme neue Reiser entsprießen zu sehen. Mit wie viel Liebe und Eifer ist er wohl ans Werk gegangen. Überall findet man noch heute die Spuren seiner Tätigkeit. Auf dem Boden unter dem alten, trauten Dache kann man noch sehen, wie wenig er das Material sparte; Balken an Balken lagert das Eichenholz, als sollte es für die Ewigkeit gebaut sein. Und aus den vorderen Fenstern seines Hauses sollte der Blick hinüber schweifen zur neuen Kirche. Die alte lag in Asche. Sie hatte etwas anders gestanden; er kam um die Erlaubnis beim Herzog ein, sie so zu rücken, wie sie jetzt steht. Mit Haus und Hof zu einem Ganzen verbunden, sollte sie sich darstellen. Oben, beherrschend, das Gotteshaus, unten sein irdisch Heim, dazwischen Stall und Scheunen. Das, was Inhalt seines und jedes rechten Menschenlebens ist, die Familie, die Arbeit, die Religion. Vielleicht brannten die Wachskerzen vor den Spiegeln oben im Festsaal, als das neue Herrenhaus eingeweiht wurde. Und bald wurden auch fröhliche Kinderstimmen laut in den Zimmern, und kleine Füße trappelten auf der großen Treppe und in dem weiten, hellen Flur, aber es waren die sittsamen Schritte kleiner, wohlerzogener Mädchen in langen Kleidern und gepuderten Köpfchen, kein wilder Bube sprang die Stufen in wenig Sätzen hinab, Sah dem Vater keck in die Augen und fragte in der förmlichen Weise, die die adlige Erziehung damals auch den Knaben aufprägte, mit tiefem Diener: „Herr Vater, wann werden Sie mir gestatten, einen Degen zu tragen?" - Die Zeit verrann, die kleinen Mädchen wuchsen und bekamen Reifröcke und Stöckelschuhe und lernten Menuett tanzen; die Schar nahm zu, aber auch das fünfte war wieder ein kleines Fräulein. Da entsagte der fast fünfzigjährige Mann den Hoffnungen und Wünschen seiner Jugend und verkaufte 1763 seinen ganzen schönen Besitz an seinen Landesherrn, Herzog Adolf Friedrich lV.

Aber als Herr Gotthard Abschied nahm von dem Erbe seiner Väter und von der Arbeit seines Lebens, hatte er seinem Namen, der mit ihm auslöschen sollte, ein Andenken gestiftet, das dem edlen Herzen dieses Mannes mehr zur Ehre gereicht als ein Denkmal von Erz oder Stein. Er gründete eine Heimstätte für die Lebensmüden und Armen des Dorfes, die heute noch besteht. Die Stiftungsurkunde sagt im Vorworte: „Demnach ich Endes- benannter Gotthard Carll Friedrich von Pickatell, auf Weistin, Blumenholtz, Blumenhagen reliqua Erb- und Lehn-Gesetzen, mit vielen Mitleiden die Not und den Kummer verschiedener alter, armer, zur Arbeit und Verdienst unvermögender Leute in meinen Güthern in Erwegung gezogen, und deshalb aus christschuldiger Dankbarkeit gegen den Allerhöchsten Gott für das nach seiner Gnade mir zugeteilte zeitliche Vermögen der Armuth zu Hülfe zu kommen, mich entschlossen, So habe ich für mich, meine Erben, Erbnehmern und Lehnsfolgern, hierdurch versprochen u. s. w. - Ausgestellt am 8. Oktober 1753."


Wir können uns denken, wie schwer diesem Manne der Abschied geworden sein mag. Aber er wusste, dass er einst wiederkommen, dass ihn einmal die Glocken der Kirche, die er erbaut hatte, grüßen und er ausruhen würde von der Arbeit und den Enttäuschungen seines Lebens in der Erde, die so lange der Nährboden seines Geschlechtes gewesen war.

Unsere alte Kastellanin berichtete, er habe, so erzähle man sich, wohl einen Sohn gehabt, aber der sei als sechsjähriges Kind verschollen; in der Kirche stehe noch ein leerer Sarg, den die trauernden Eltern hätten machen lassen, weil sie immer noch gehofft, wenigstens die Leiche zu finden. So verkörpert der Volksmund die getäuschten Hoffnungen des Letzten seines Stammes.

In den sonst leeren Zimmern des oberen Stockwerks ist ein größerer Spiegel mit einfachem Goldrahmen eingemauert und deshalb an seiner Stelle geblieben. Wenn alle die Gestalten, die sein Glas einst zurückgeworfen hat, wie in einem Kinematografen wieder erscheinen würden, welch ein bunter Reigen möchte das sein? - Auch eine Liebesgeschichte aus der Zeit, da „Durchläuchting" hier Hof hielt, würde darin auftauchen. sicher hat das schöne Fräulein Auguste von Brauchitsch im Sommer 1769 auch bisweilen in diesen Spiegel geblickt, vielleicht nur, um sich zu überzeugen, dass die hohe Frisur noch tadellos sei. Diese junge Dame war die Enkelin der neu ernannten Oberhofmeisterin, einer Frau von Oertzen. Ihr Verehrer, der Kammerherr von Dewitz, hat ein anschauliches Bild von ihren Reizen gezeichnet. Sie war brünett, mit frischen Farben, hatte große dunkle Augen „à fleurs de tête“, eine fein gebogene Nase und einen roten Mund mit den herrlichsten Zähnen. „Ihr schön geformter Hals hätte dem strengsten Philosophen den Kopf verdrehen können."

Aber unser Kammerherr ließ sich nicht so leicht durch äußere Reize bestechen. Er war ein weit gereister, erfahrener Mann und ein Charakter. Er hatte mit dem jüngsten Bruder des Herzogs, dem Prinzen Georg, fast ganz Europa bereist und viele schöne Frauen gesehen, ohne sich völlig gefesselt zu fühlen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Erde - Wanderungen durch Mecklenburg