Abschnitt 2

Am 19. Juli 1860, dem 50jährigen Todestage seiner so hochverehrten Mutter, als alle Glocken im Strelitzer Lande zu ihrem Gedächtnisse läuteten, kam der damalige Prinzregent von Preußen, später Kaiser Wilhelm I., nach Hohenzieritz und legte im Sterbezimmer der Königin einen goldenen Kranz nieder, auf dessen Blättern die Namen ihrer Kinder stehen: Charlotte, Alexandrine, Luise, Friedrich Wilhelm, Wilhelm, Kari, Albrecht.

Am 10. März, gerade hundert Jahre nach dem letzten Geburtstage, den Königin Luise erlebte, fuhr ich ganz allein von Neustrelitz nach Hohenzieritz hinaus. Es war ein frischer, sonniger Morgen. Die raschen Braunen trabten lustig, die Gummiräder des leichten Halbwagens ließen mich das schlechte Pflaster des Städtchens nicht spüren und rollten fast lautlos auf der Chaussee hin, die mit einer Abzweigung von der Neubrandenburger bis nach Hohenzieritz führt. So fuhr ich jedenfalls bequemer als die Königin am 28. Juni 1810 auf ihrer letzten Reise. Denn damals ging es auf Landwegen durch den Wald, und die schwerfälligen, fürstlichen Karossen, die in C-Federn hingen, machten Wurzeln und Steine sicher bemerkbar. Dennoch befand sich Königin Luise auf der Fahrt zu ihrem Sterbelager in heiterster Stimmung. Wie hatte sie sich doch auf diese Reise gefreut: „Bester Päp!“ schrieb sie ganz ausgelassen an den Vater, „ich bin tull und varrucky. Eben, in diesem Augenblick hat mir der gute liebevolle König die Erlaubnis gegeben zu Ihnen zu kommen, bester Vater!“ - Und an die Geschwister: „Ich bin so glücklich, wenn ich daran denke, dass ich Euch beinahe acht Tage in Strelitz sehen werde und die gute Großmama, dass ich ordentlich Crampolini kriegen könnte."


Freilich meldete sich jetzt das Kommende schon in körperlichem Unbehagen, aber sie legte dem kein großes Gewicht bei. Durch den sommerlich grünen Wald ging es hinaus nach Hohenzieritz, das im Festschmucke der Kränze und Girlanden prangte.

An das alles denkend, fuhr ich auf der stillen Chaussee dahin, die anfänglich von den rötlichen Stämmen und tiefgrünen Kronen dichter Kiefernbestände eingefasst ist, und die nur von einigen aus der Stadt heimkehrenden Milch- wagen mit klappernden leeren Kannen belebt war. Die Häuser und die Kirche des Dorfes Weisdin huschten vorüber, der Spiegel eines Landsees tauchte auf, kahles Feld wechselte mit kurzen Waldstrecken, und nach kaum dreiviertel Stunden lag es wieder vor mir, das große, vornehme weiße Herrenhaus von Hohenzieritz. Ich habe es oft gesehen, wenn es von dem grünen Rahmen der Bäume, Gebüsche, Rasenplätze und dem Geranke des wilden Weines umgeben war. Heute streckten die Buchen an dem kleinen Hügel, auf dem rechts von der Einfahrt das runde Kirchlein steht, noch kahle Zweige empor, und bräunlich schimmerte das Gras im hellen Sonnenlicht.

Als König Friedrich Wilhelm III. ( Königin Luise von Preußen ) mit seinen beiden ältesten Söhnen an jenem verhängnisvollen 19. Juli nach einer in angstvoller Eile durchreisten Nacht hier ankam - es war des Morgens um dreivieriel auf 5 Uhr - standen trübe Regenwolken über dem Dache des Schlosses. Er ließ gleich am Hoftor halten, um keine Störung zu verursachen, und ging den breiten Mittelweg mit seinen Kindern hinunter. "Allen, denen ich begegnete", schrieb er( Der König hat am 19. Juli „alles gleich selbst am Nachmittag niedergeschrieben“ ), „war die Be- stürzung aus den Augen zu lesen." Der Geheimrat Dr. Heim kam ihm dann entgegen und führte ihn sogleich zu der Sterbenden. –

Das Schloss ist nur ein einfaches, aber ansehnliches, zweistöckiges Landhaus auf ziemlich hohem Souterrain. Es hat dreizehn Fenster Front. In sein dunkles Ziegeldach schneidet ein dreieckiges weißes Frontispiz ein, auf dem die verschlungenen Initialen A. F. mit der Herzogskrone prangen. Auf jeder Seite steht ein ebenfalls weiß getünchter Pavillon mit rotem gebrochenen Dach und hohen, hellen Fenstern. Mein Wagen hielt nun vor dem kleinen einstöckigen Gärtnerhaus, unmittelbar neben dem Pavillon rechts. Zunächst war ringsum kein Mensch zu sehen. Der Wirtschaftshof befindet sich, von hier nicht sichtbar, seitwärts, und der weite Platz wie die Gebäude lagen schweigend, wie in tiefem Schlafe. Diese Stimmung beherrscht überhaupt diese Stätte. Es ist, als sei seit jenem Tage, dessen Erinnerung sie umschwebt, alles hier in Schlummer ver- sunken, als dürfe das Leben nicht mehr wagen, an diesem Orte laut zu werden, damit durch nichts die leisen Schritte und das wehmütige Lied der Vergangenheit übertönt werde. ------

Inzwischen kam ein alter Hofknecht und half mir aus meinem Wagen. Er schuffelte dann hinter mir ins Haus und mit seinen Eimern in der Küche herum, während ich die freundliche Gärtnerfrau in einem Hinterzimmer fand und um Einlass ins Schloss bat. Ich fragte den Alten, ob sich im Dorfe nicht noch irgendeine Erzählung aus den Sterbetagen der Königin erhalten habe. "Nee, da weet kein nix mehr van aff", lautete die wenig ermutigende Antwort, aber dann fiel ihm doch noch etwas ein, und er fügte hinzu: „Je, Marieken Bentschneider, de mag woll noch wat weeten." Ich merkte mir den Namen und ging zunächst ins Schloss. Als ich die vierzehn dunkel gewordenen Sandsteinstufen der breiten Freitreppe hinanstieg, auf der weiße und gelbliche Moos- und Flechtenflecke andeuten, wie selten sie beschritten wird, sah ich im Geiste die heitere Ge- sellschaft jenes ersten Abends der Ankunft mit hinaufgehen. Keiner von allen ahnte, dass drei Wochen später der Sarg der Königin diese nämliche Treppe hinabgetragen werden würde.

Da war die alle anderen überragende Gestalt des Königs, dessen ernstes Gesicht vielleicht nach langer Zeit zum ersten Male wieder einen frohen Ausdruck zeigte. Dann die Königin, von der Augenzeugen aus jenen Tagen berichten, dass ihr schönes Gesicht die Spuren so vieler vergossener Tränen wohl zeigte; sie war bleicher geworden, und ihre großen Augen hatten einen traurig sehnsüchtigen Ausdruck bekommen. Das sieghaft Heitere, das ehedem ihre Züge umstrahlte, war verschwunden, und ihre schlanke, hohe Gestalt neigte etwas zu matronenhafter Fülle. Aber heute war sie wieder die Luise früherer Tage. Sie stützte sich wohl auf den Arm ihres Vaters; aus seinem freundlichen Gesicht und aus seinen guten, dunklen Augen sprach das Glück, sie bei sich zu haben. Da war ferner die einundachtzigjährige Großmama Landgräfin mit der Riesenhaube und dem fast schelmischen Zug um den Mund, die in ihrem drolligen süddeutschen Dialekte plauderte. Die schlanke, übermütige Prinzessin Solms, Schwester Friederike, folgte. Ihr zur Seite schritt eine jugendlich biegsame Knabengestalt, der fünfzehnjährige Prinz Friedrich, ihr Sohn aus erster Ehe, den der König mit aus Berlin gebracht hatte. Auch der ritterliche, liebenswürdige Bruder, Erbprinz Georg, war zugegen, der beste Freund seiner königlichen Schwester, die ihm so oft in den schweren Leidenszeiten brieflich und vertraulich ihr Herz ausgeschüttet hatte. Ihnen allen nach eilte der Schwarm des Gefolges, unter dem die Oberhofmeisterin Gräfin Voss, die zu ihrem Enkel nach Giewitz gereist war, fehlte. Der Adjutant des Königs, von Luck, die Hofdame Gräfin Tallenzien, der Kammerherr von Schilden, der Geheime Kammerrat von Bassewitz und andere mehr waren zugegen. „Welcher Eintritt! - Und welches Ende!" - schreibt der arme König später. Auf der Plattform, die ich nun betrat, hat die Königin am nächsten Morgen gefrühstückt. Der König sagt darüber in seinen Aufzeichnungen: „Meine Frau stand erst spät auf in der Hoffnung, sich durch Ruhe zu stärken; sie kam zum Dejeuner unter der Marquise auf der großen Hoftreppe und war ziemlich vergnügt und heiter." –

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Erde - Wanderungen durch Mecklenburg