Barock in Deutschland

Der Hochmut früherer Generationen, die geschichtliche Feststellungen mit Werturteilen gleichsetzten, die eine Zeitspanne als Blütezeit bezeichneten und eine andere wieder als Zeit dekadenten Verfalls, - diese Überheblichkeit kennen wir nicht mehr. Ein allmählich sich doch vertiefendes, eingehenderes Verständnis der geschichtlichen Zusammenhänge und des ewigen Gestaltwandels der Dinge hat uns sehen gelehrt. Wir wissen, dass niemals eine Zeit, ein Land, ein Kulturkreis mit ein oder zwei Schlagworten zu erschöpfen sind, dass jeder Strömung zu jeder Zeit auch immer eine Gegenströmung entsprach, dass immer verschiedenartige Tendenzen miteinander rangen und dass unsere Benennungen und Wertungen bestimmter geschichtlicher Epochen meist nichts anderes bedeuten, als dass zufällig gerade uns heute im Rückblick auf diese Zeit eine bestimmte geistige Strömung zu überwiegen scheint, die aber damals bestimmt keineswegs die einzig maßgebliche war.

Das gilt nicht nur für die allgemeine Geschichte schlechthin, sondern auch für die Geistesgeschichte im engeren Sinne, in unserer Sicht auch für die Kunstgeschichte. So haben wir es uns abgewöhnt, Barock wie die Generation vor uns im Sinne Jacob Burckhardts als Verfallserscheinung anzusehen, diese ganze Epoche aufzufassen als Ausklang und allmähliches Nachlassen jener Schöpferkräfte, die am herrlichsten und überzeugendsten sich in der Zeit der Renaissance, also im 15. und 16. Jahrhundert offenbarten.


Für uns ist das Barock als geistesgeschichtliche Erscheinung eine der Renaissance völlig gleichwertige Epoche. Die Formungen des Geistes, vor allem der bildenden Kunst, erscheinen uns in dieser Zeit ebenso gewaltig und bestimmt ebenso einzigartig wie die Werke Brunelleschos und Bramantes, Masaccios und Raffaels.

Indem wir einzelne Namen nennen, wird uns aber schon bewusst, dass diese Behauptung nicht ganz richtig ist. Denn eine Verschiebung zu mindesten hat sich ganz klar im Wechsel von der Renaissance zum Barock vollzogen. Es ist nicht mehr so sehr die einzelne schöpferische Künstlerpersönlichkeit, die in ihrem Werk die künstlerische Ausdrucksform der Zeit schafft, als ganze Künstlerfamilien, Gruppen und Schulen. Selbstverständlich vergessen wir nicht, dass für uns Bernini und Perrault, Rubens und Rembrandt, Schlüter und Balthasar Neumann genau so fest umrissene Persönlichkeiten sind wie Botticelli und Ghirlandaio, Ghiberti und Donatello, Lionardo und Tizian. Der Unterschied besteht aber darin, dass in der Renaissance das Gesamtbild der Epoche sich formt aus einer Summierung der Werke einzelner mehr oder minder bedeutender Meister. Im Barock dagegen ragen diese einzelnen genialen Erscheinungen nicht unvermittelt aus einer Ebene auf, sondern die ,,niederländische Malerschule“, die „italienischen Theaterarchitekten“, die ,,bayrischen Stuckatoren“ schaffen in ihrer Gesamtheit schon ein zwischen handwerklichem und Künstlerischem liegendes erhöhtes Niveau technischen Könnens und formaler Überlieferung, das dann nur noch von diesen einzelnen ganz Großen überragt wird.

Will man die Betrachtung unter diesem Gesichtswinkel überspitzen, so könnte man beinahe behaupten, dass das Kunstschaffen des Barock rein soziologisch gesehen wieder einen Schritt gegen das Mittelalter hin bedeutet, wo es auch die namenlosen Gruppen und Zünfte waren, die den wesentlichsten Anteil am Werke der Generationen hatten.

Um nicht missverstanden zu werden, muss aber noch einmal ausdrücklich betont werden, dass selbstverständlich die eigentliche Bedeutung und Sonderart des Barock gerade von den überragenden Erscheinungen der Zeit, einem Michelangelo und Bernini, einem Rubens und Rembrandt entwickelt wurde.

Und nun noch ein anderes. Gerade für uns, für Deutschland bedeutet Barock vielleicht den höchsten Stand künstlerischer Schaffenskraft, der - zum mindesten auf dem Gebiet der bildenden Kunst - jemals hier erreicht worden ist. Wohl erinnern wir uns der romanischen Plastiken von Bamberg und Naumburg, der gotischen Münster von Freiburg, Straßburg und Ulm, der Tafeln Holbeins, Dürers usw. Aber trotz des hohen Ranges dieser Schöpfungen ist bildende Kunst niemals in Deutschland so allgemein gewesen, ihr Umkreis so weit gespannt wie in der zweiten Hälfte des 17. und im 18. Jahrhundert.

Dass Barock nicht weniger ,,deutsch“ ist als etwa die Gotik, braucht heute wohl nicht mehr bewiesen zu werden. Keiner der europäischen Kunststile hat in Deutschland seine erste Prägung gefunden. Der Barock ebensowenig wie die aus Italien einwandernde Renaissance, wie die in Frankreich entwickelte Gotik oder die wieder auf römischen und keltischen Boden geborene romanische Kunst. Es wäre ein lächerlicher und unwissenschaftlicher Nationalismus, für Deutschland das Recht der ,,Erfindung“ eines dieser Stile in Anspruch nehmen zu wollen. Es ist genug, dass in Deutschland romanische Bauten wie Speyer, Worms und Naumburg, gotische wie Straßburg, Freiburg und Ulm stehen. Deutsche Sonderart bewies sich stets in der Weiterentwicklung der fremden Anregungen, in der nationalen Wandlung der einzelnen von außen her gegebenen Stilelemente.

Und gerade im Barock hat Deutschland mit einer Kraft und Mannigfaltigkeit baulich und bildnerisch geschaffen, wie niemals zuvor. Und trotzdem Barock eigentlich der letzte allgemein-europäische Stil war, scheinen die Unterschiede zwischen italienischem und deutschem Barock uns Nachfahren so bedeutend, dass wir mitunter alle Mühe haben, aus ihnen die gemeinsamen Stilelemente herauszudestillieren.

Barock als Ganzes, von der zweiten Lebenshälfte Michelangelos bis zu den letzten Raumdekorationen des sterbenden Rokoko, ist ein so ungeheuer zusammengesetztes Gebilde, dass man auf Begriffsbestimmungen von allgemeiner Gültigkeit wohl überhaupt verzichten muss. Geistesgeschichtlich und formal-geschichtlich umschließt er eine so ungeheure Spannung, dass man in ihm am besten nichts anderes als einen Rahmen sieht, ein Flussbett, zwischen dessen Ufern zwei Ströme dahinfließen, mitunter parallel, mitunter zu Wirbeln gestaut, sodass die Elemente des einen in den anderen übertreten.

Diese beiden Strömungen sind nun aber nicht etwa - wie man zunächst vielleicht annehmen könnte - verschiedenen nationalen Ursprungs, sondern wir finden die Anfänge beider bereits im 16. Jahrhundert in Italien. Wir nennen sie - leider mit sehr unglücklich gewählten, nun aber einmal eingeführten Formulierungen - den michelangelesken und den palladiesken Barock und bezeichnen damit einerseits eine bewegtere, lockerere, mehr dekorativ gestaltende Tendenz, andererseits die Neigung zum Regelhaften, mehr akademisch Klassizistischen.

Das alles aber sind nur Umschreibungen. Beide Richtungen schließen einander keineswegs aus, sondern laufen zwei Jahrhunderte hindurch nebeneinander her. Wie gesagt, lassen sich nicht einmal grundlegende nationale Verschiedenheiten feststellen. Wir können nur mit aller Vorsicht behaupten, dass in Italien - dem Ursprungsland beider Bewegungen - während der ganzen Entwicklung beide Richtungen gleich stark blieben, mitunter sogar wie bei Bernini im Werke der einzelnen Künstlerpersönlichkeit wechseln. Frankreich und England bewahren allerdings stets eine entschieden klassizistische Grundhaltung. Kaum aber haben wir dies ausgesprochen, müssen wir wieder daran erinnern, dass das Rokoko, also die ausgesprochenste Entwicklungsphase des bewegteren Zweiges des Barock wieder vornehmlich französischen Charakter hat, dass sich also die klassizistische Tendenz nur auf die Außenarchitektur beschränkte. In Deutschland wieder neigt der Süden mehr zur lockeren und bewegteren Gestaltung, der Norden, besonders die Küstenstädte, zur palladiesken Formung. In Städten wie Potsdam kann man fast in jedem Stadtviertel Kunstwerke der ent-gegengesetzten Tendenz aus der gleichen Zeit feststellen.

Schon dieser ganz flüchtige Überblick bestätigt die anfangs ausgesprochene Erkenntnis, wie schwierig die Zusammenfassung verschiedener Gruppen gleichzeitig entstandener Kunstwerke unter einem stilistischen Oberbegriff ist. Begnügen wir uns also mit der Feststellung, dass deutscher Barock keineswegs die Verwendung bestimmter Einzelformen oder gar Ornamente bedeutet, dass dieser Begriff nicht einmal gleichbedeutend ist mit einer bestimmten Tendenz der Formung und Gestaltung. Er sagt nichts eigentliches über die Wesensart der in dieser Epoche entstandenen Kunstwerke aus, sondern grenzt sie nur ab gegen die Welt der deutschen Renaissance einerseits und gegen das Deutschland um 1800 andererseits, den Klassizismus der Goethezeit, ab.

Bewusst wird in diesem Zusammenhang, da wir ja nicht eine Geschichte des Barock, sondern das Bild jener Städte, deren Gesicht seine entscheidende Form in jener Zeit erhalten hat, geben wollen - bewusst wird auf einen Vergleich der einzelnen Künste und geistigen Strömungen überhaupt verzichtet. Derartige ästhetische Parallelen führen nur allzu leicht zu Trugschlüssen. Gewöhnlich werden in solchen Fällen Werke der Literatur und Musik zum Vergleich herangezogen, die ganz äußerlich Assoziationen an bestimmte Bildwerke oder Gebäude gestatten. Die Vergleichbarkeit optischer, akustischer und begrifflicher Ausdrucksmittel bildet aber an und für sich eines der schwierigsten ästhetischen Probleme, das bis jetzt noch nicht eindeutig gelöst werden konnte. Wir sehen also von dem Versuch dieser wechselseitigen Erhellung der Künste und damit der Festlegung der geistigen Situation Deutschlands im Barock bewusst ab.

Wir erinnern nur kurz, dass einerseits die Gegenreformation der katholischen Kirche die Ausdrucksmittel der bildenden Kunst im Sinne dekorativ-repräsentativer Gestaltung auf sakralem Gebiet äußerst überspannte, andererseits der neu entstehende protestantische Kirchenbau den veränderten Bedürfnissen in der Grundrissgestaltung Rechnung tragen und so auch zu neuen Formen kommen musste. (Dresden, Frauenkirche.)

Ebenso sprach aber auch die politische Lage mit. Von Ludwig XIV. bis zum kleinsten deutschen Duodezfürsten bedingte der Absolutismus soziologische Erscheinungsformen, die von denen der Renaissancezeit grundsätzlich verschieden waren, drängte auf Entfaltung repräsentativen Pomps, auf Betonung ganz bestimmter dekorativer Elemente. Andererseits ermöglichte aber auch die Machtfülle des Absolutismus Siedlungen und Städtegründungen in einem Maßstabe und von einer Einheitlichkeit, wie man sie früher nicht kannte. Selbst die Natur fügt sich im Lauf der Gewässer und im Wuchs des Parks dem Diktat des Fürsten.

Damit sind aber nur die äußerlich am leichtesten zu erfassenden Faktoren barocken Kräftespiels umrissen. Die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts beginnende Verwickelung und Verwirrung des geistigen Lebens ließe sich in der gebotenen Kürze dieses Rahmens nur allzu ungefähr darstellen. Nicht mehr waren, wie in der Renaissance, die Ideale des Humanismus und der Naturerkenntnis die unverrückbaren Achsen des Weltbildes. An ihre Stelle tritt jetzt eine Vielheit von zum Teil durchaus gegensätzlichen Strömungen, deren Zu- und Gegeneinander auch in den Werken der bildenden Kunst seinen mittelbaren Ausdruck finden musste.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Barockstädte