Die Stadt als Erlebnis

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Unabhängig davon, wie der einzelne eingestellt sein mag, ob er sich mehr für geschichtliche Fakten interessiert, für volkswirtschaftliche, technische und politische Probleme oder endlich aus einer künstlerischen Einstellung heraus die Welt zu sehen gewohnt ist, - auf jeden Fall wird der Reisende zunächst versuchen, einen Gesamtüberblick zu gewinnen. Goethe bestieg, wenn er in eine fremde Stadt kam, zuerst den höchsten Turm und versuchte, sich so über die gesamte Anlage der Stadt und die Art, wie sie in der Landschaft gelegen, klar zu werden. Wir können diesem Beispiel folgen oder aber wir können auch, wenn die Stadt nicht allzu groß ist, sie ziellos durchwandern oder durchfahren. Von selbst werden sich dann schon die Nebenstraßen von den Hauptstraßen sondern, die wesentlicheren Plätze und wichtigeren Gebäude hervortreten. Endlich ist das innere Leben jeder Stadt ja so stark, dass wir, mögen wir wollen oder nicht, gleichsam automatisch ihre Schlagader und ihr Herz erkennen lernen.


Wir müssen aber auch einmal einen Hausflur durchschreiten, um uns einen malerischen Hof anzusehen, alte Treppenhäuser heraufklettern, um ein schön geschnitztes Geländer, ein reich geschmiedetes Balkongitter einer eingehenderen Betrachtung zu unterziehen. Das sind natürlich Dinge, die kein Handbuch aufzeigen kann, die aufzufinden einfach Talentsache ist. Aber gerade aus ihnen setzt sich mosaikartig das Erlebnis der Fremde zusammen. Eine edel gegliederte Fassade, eine Reihe blühender Kastanienbäume und die zufällige Melodie eines Leierkastens sind dafür ebenso wesentlich wie eine stille Stunde im Museum.

Es ist durchaus nicht immer nur ein unleidliches Vielwissertum, wenn der im höheren und allgemeineren Sinn ,,gebildete Reisende“ sich gleichermaßen für die geologische Gestaltung des Bodens wie für Handels- und Verkehrsstatistik interessiert, für die Art der Frauenkleidung wie für das öffentliche Fuhrwesen und bestimmten Weinsorten ebenso nachforscht, wie dem handwerklichen Können der heimischen Steinmetze. Je weiter er spannt, je mehr Quellen er nachspürt, desto klarer wird ihm Eigenart des Ortes und der Landschaft erstehen und desto lebendiger wird ihm, auch wenn er von Natur aus sich nicht für künstlerische Fragen interessiert, die Kunst des betreffenden Landes. Die ortsgebundene Kunst, wie sie sich im Städtebaulichen und Architektonischen, in Brunnen und Denkmälern, in den Malerschulen, ja selbst in den Holzstiegen und Truhen der Bürgerhäuser offenbart.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Barockstädte