Ausdrucksformen

Nicht im Widerspruch zu der im vorigen Abschnitt aufgestellten Behauptung, dass nämlich das Schaffen des Barock im wesentlichen als das Werk geschlossener Gruppen erscheine, steht die Behauptung, dass die Einzelform in einem Maße individualistisch behandelt wurde, wie kaum je zuvor. Selbst innerhalb einer umfassenden architektonischen Anlage sind die einzelnen Bauglieder genau wie in der gleichzeitigen Malerei und Plastik nicht so sehr Selbstzweck, erfüllt von eigenem Leben und in sich selbst beruhend, als Hilfsmittel plastischer und malerischer Wirkung, Akzente und dynamische Faktoren. Überall sehen wir Scheinkonstruktionen, Verleugnung des eigentlichen Materials und der eigentlichen Situation. Gebäude wachsen in der Stadt scheinbar aus natürlichem Felsgestein empor (Fontana Trevi, Rom - Asamkirche, München), Kuppeln öffnen sich gegen den freien Himmel, aus dem Genien herabschweben und die Höfe der großen Paläste geben durch Bogengänge gerahmte Einblicke in endlose Parks, - doch Rahmen ebenso wie die Parklandschaft sind nur gemalt. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Theater, besser vielleicht, zwischen Wirklichkeit und Panoptikum, werden absichtlich verwischt und verunklart. Jedes Mittel hierzu ist recht. Nicht zufällig ist die Oper eine Erfindung des Barock.

All das sind durchaus nicht etwa Werturteile! Wir dürfen auf keinen Fall die Erscheinungen dieses Stils mit jenen Maßstäben messen, die uns durch die aufklärende Arbeit des Werkbundes und einen heute - unter ganz anderen Voraussetzungen - nur selbstverständliche Rationalismus gerade in Deutschland zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Die ethische Forderung nach material-gerechter Behandlung im Einzelnen, nach Zweckmäßigkeit der Architektur im Großen besteht für den Barock nicht. Es scheint vielmehr, als ob gerade dieses Schweben zwischen Wirklichem und Schein, zwischen Verzückung und Vernunft ein Lebensbedürfnis dieser Zeit war, als ob ohne die Spannung zwischen der ungewissen Grenzenlosigkeit der ins Ekstatische getriebenen Formen und ohne die Übersteigerung jeder Wirkung fast bis zum Unerträglichen damals ein Kunstwerk gar nicht vorgestellt werden konnte.


Die absichtliche Verunklarung aller Übergänge bleibt nicht auf die Grenze zwischen Natur und Kunstwerk beschränkt, auch in der Architektur selbst werden wir über Dimensionalität und Körperlichkeit bewusst irre geführt. So sind beispielsweise in einem Geschoss die Säulen vollplastisch geformt, in dem darüber-liegenden werden sie als Dreiviertel-Säulen fortgeführt, um vielleicht im letzten nur noch gemalt zu werden. Architrav und Gesimse grenzen eine Wand, den schulmäßigen Regeln der Ordnung entsprechend ab, um im gleichen Raum noch einmal in Reliefperspektive verkürzt wiederzukehren und letztlich unter der Decke noch einmal als Grisaillenmalerei wieder aufzutauchen. Eine Plastik schreitet aus der Nische heraus. Bei näherem Zusehen erkennen wir, dass diese Nische nur eine perspektivisch gemalte Höhlung darstellt, die aber wieder von einer wirklich plastisch modellierten Archivolte umgrenzt ist. So wird durch das gleiche Hilfsmittel die Architektur der Wand belebt und die Wirkung der Plastik aufs vollkommenste gesteigert.

Nach drei Richtungen übersteigert das Barock.

Einmal wird das Sinnlich - Gegebene des Kunstwerks mit allen Mitteln - wir können beinahe sagen mit allen ,,Kniffen“ - aufs eindringlichste vorgetragen und zur absoluten Sinnfälligkeit getrieben. Sodann wird alles Seelische - und das gilt nicht nur für die nachahmenden Künste wie Malerei und Plastik, sondern gleicherweise auch für Architektur und Kunstgewerbe - überbetont und diesem Überschwang des Gefühls ein durchaus lyrischer Ausdruck gegeben.

Drittens und letztens haben alle Kunstwerke vom Thronsaal bis zur Friedhofskapelle, vom Porträt bis zum Altarblatt eine Tendenz zum theatralisch Dekorativen, zur Repräsentation schlechthin.

Das alles sind keine willkürlichen Behauptungen, sondern objektive Feststellungen, für die jedes beliebige einzelne Kunstwerk der Zeit die Belege liefert. Im einzelnen sprechen natürlich die Nationen verschiedene Dialekte. Auch die Unterschiede zwischen den Generationen, die gerade in diesen beiden Jahrhunderten sich sehr deutlich gegeneinander abgrenzen, sind in normaler Hinsicht sehr ausgesprochen.

Diese allgemeinen Tendenzen des Barock sprechen sich, obwohl sie scheinbar allen Zweigen der bildenden Kunst gemeinsam sind, am stärksten und vor allem in völliger Eindeutigkeit im Städtebaulichen und Raumarchitektonischen aus, kurz in jenen beiden Zweigen der Architektur, deren Materie der Raum ist. Zwar wird die Auflösung der barocken Schauseite eines Gebäudes neben der Verwendung von gerade für diesen Stil bedeutsamen Einzelformen auch stets ein bestimmtes Prinzip der Gliederung und Anordnung erkennen lassen, aber stärker und zwingender als in dieser Behandlung der Wand flächen spricht sich das Kunstwollen in der räumlichen Disposition aus. Eine Eigenart barocken Kunstschaffens kann gerade nur hier zum Ausdruck kommen und nicht in Malerei und Plastik. Es ist der stark gedankliche, spekulative Drang, der auch in das Gebiet des rein künstlerischen Schaffens herübergreift.

An und für sich ist diese Vorliebe für gedankliche Verlegungen keineswegs neu in der Geschichte der Kunst. Man braucht nur an den Einfluss der Scholastik auf die bildlichen Schöpfungen des Mittelalters zu erinnern oder an Erscheinungen wie Dürer und Lionardo in der Zeit der Renaissance, deren Schaffen ja auch in weitestgehendem Maße durch gedanklich -wissenschaftliche Überlegungen bestimmt wurde. Sie waren ja auch keineswegs die einzigen derartig eingestellten Künstler ihrer Zeit, sondern nur jene, bei denen diese Neigung am stärksten hervortrat.

Im räumlichen Schaffen des Barock spricht sich nun dieser intellektuelle Grundzug vor allen Dingen in der Vorliebe für das Schema aus. Wir verstehen hier unter ,,Schema“ eine mathematisch geometrisch errechnete Planung, in der die einzelnen praktischen Erfordernisse in einer uns fast spielerisch anmutenden Art und Weise im Plan einer Stadt oder eines Gebäudes verteilt werden, sodass schließlich der ganze Stadtplan oder auch der Plan eines Schlosses mit umgebendem Schlosspark selbst in der Grundrissdisposition als Ornament erscheint.

Selbstverständlich ist der Trieb, der zu einer Gestaltung dieser Art führt, nicht nur aus gedanklichen Überlegungen zu erklären. Die Vorliebe für Achsendurchführung und Symmetrie zeigt sich ja eigentlich schon in der Plastik und Malerei und wird in der Architektur, wie es dem Wesen der Architektur entspricht, im gedanklichen Sinne übersteigert. Eine ungeheuer große Rolle spielten damals die Bücher der Architekturtheoretiker, die in einer uns heute gar nicht mehr vorstellbaren Art und Weise das wirkliche Schaffen beeinflussten.

Städtebauliche Planung. Form und Entwicklung der Barockstadt ist unverständlich ohne die Kenntnis der Schriften der Theoretiker der ausgehenden Renaissance und des Barock. Die verschiedenen Idealprojekte, die vom Beginn des 16. Jahrhunderts an entstanden, waren allgemein verbreitet und bei jeder architektonischen Neuschöpfung war man bemüht, zumindest ein diesen Idealprojekten nahekommendes Werk zu schaffen. Wie die verschiedenartigen Umstände politischer, wirtschaftlicher, soziologischer, vor allen Dingen auch technischer Natur zur Form der Stadt führen, können wir überhaupt nur an der Hand dieser Architekturtraktate feststellen. Jeder, der im Barock baute, benützte diesen gedanklichen Umweg.

Es ist hier nicht der Ort, eine ausführliche Geschichte oder auch nur eine Aufzählung der hauptsächlichsten Theoretiker zu geben. Sie würde sich zu einer Geschichte der gesamten Architektur des Barock auswachsen. Ganz kurz erwähnt seien nur nach den großen italienischen Theoretikern des 16. Jahrhunderts die Italiener Francesco Marchi, der jüngere Vasari und Cataneo, von Deutschen Speckle, Sturm und die beiden Furttenbach, auch Goldmann und Doegen. Von Franzosen wirkte am stärksten Perret und der Festungsbauer Vauban, auch Cordemoy.

Die Traktate, zum großen Teil lateinisch geschrieben, waren international gedacht und wirkten international. Merkwürdig ist nun, wie wir im Städtebaulichen genau so wie bei der einzelnen ornamentalen Kunstform diese internationalen Ideen, man möchte beinahe sagen ,,mundartlich“, national gefärbt wiederfinden. Zwar ist in der Barockstadt Deutschlands genau so wie in der Englands, Italiens und Frankreichs der Grundplan stets achsial gedacht, die Baublöcke der neu angelegten Stadtviertel entweder im Schachbrett- oder im Rechteckschema oder radial angelegt. Aber während in Frankreich der diesem Land auch zur Zeit der üppigsten Barockbewegung immer innewohnende Klassizismus nicht erlaubt, dass der Park und die Terrasse des Schlosses, Brunnenanlagen und Monumente einer Stadt dieses streng achsiale Schema verlieren, gestattete sich der deutsche Städtebauer mancherlei mutwillige Abweichungen, die die strenge Symmetrie anmutig belebten. Natürlich herrschten in Deutschland Systeme klassizistischer Prägung mit einer bis ins Detail durchzuführenden und durchzufühlenden Symmetrie durchaus vor, mag auch das einzelne Element in der Gestaltung des Aufrisses noch so frei, locker und rokokohaft behandelt sein. Genau ebenso streng wie in der Stadt das Verhältnis zwischen Straße, Platz und Wand behandelt wird, gliedert sich der Park in seine Baumgruppen, Wasserbecken und Wege. Zwischen Mauerwerk und Baumwuchs wird kein Unterschied gemacht.

Die Eigenart der deutschen Form besteht in dem bis in das letzte Profil durchzufühlenden Gegensatz zwischen der regelhaften Grundrissordnung im Großen und der malerisch freien Gestaltung der Einzelform.

Während Städte wie Mannheim und Karlsruhe in Deutschland, die eine das Rechteckschema, die andere das Radialschema der Theoretiker nahezu ideal verkörpern, finden wir in den von uns behandelnden Barockstädten und auch in der großen Anzahl der nicht erwähnten kleineren, wie Ellingen, Potsdam usw. zwar nicht eine Gesamtplanung dieses Umfanges, wohl aber durch den Willen eines absoluten Fürsten oder einer mächtigen Stadtrepublik errichtete Quartiere, die sich aus derartigen Idealschemen entwickelt haben. Und letzte Nachklänge dieser, der ganzen Barockzeit selbstverständlichen und geläufigen städtebaulichen Vorstellungswelt, beherrschen auch in den von uns genannten Beispielen zumindest die Beziehungen zwischen Schloss und Park, Rathaus und Brunnen, Brücke und anschließendem Platz. Wir müssen nur lernen sie zu sehen. Ist aber einmal das Auge des Reisenden auf diese halb künstlerisch, halb theoretische Art Raum zu gestalten, eingestellt, so wird er diese Beziehung immer wieder herausfühlen.

Genau so bezeichnend wie diese Anordnung im Großen, im Städtebaulichen, ist nun auch die Raumfügung der einzelnen Architektur. Ohne die einzelnen Bauwerke ihrer Funktion nach genau zu umschreiben, begnügen wir uns mit dem Hinweis auf die beiden für das Zeitalter schlechthin ausschlaggebenden Bautypen. Schloss und Kirche.

Raumdisposition des Schlosses. Die zweite Hälfte des 17. und das ganze 18. Jahrhundert wird beherrscht von dem einen für ganz Europa maßgeblichen Schlossbau, der Schöpfung Ludwigs XIV.: Versailles. Wie dieser Bau allmählich entstand, ist hier nicht zu erörtern. Jedenfalls hat nach diesem Vorbilde jedes barocke Schloss einen charakteristisch breit gelagerten Mitteltrakt, an den sich zwei Flügelbauten anschließen, die zur Stadt oder, allgemeiner gesprochen, zur Empfangsseite hin einen mehr oder weniger umfangreichen Ehrenhof bilden. Mitunter ist diese Architektur durch pavillonartige Ausbauten belebt. Aber auch, wo diese fehlen, ist die Mittelachse des Hauptgebäudes zumindest durch einen vorgezogenen Risalit mit irgend einer giebelartigen oder attika-förmigen Bekrönung belebt. Diese Mittelachse setzt sich auf der Rückseite über die fast stets vorhandene Terrasse hinweg in den Park fort, meistens betont durch ein Wasserbecken, einen Kanal, zumindest durch eine Baumallee. Während draußen die symmetrische Gliederung durch die Verteilung der Baumgruppen, Plastiken usw. durchgeführt wird, ist das Innere des Baues entsprechend einfach und klar aufgeteilt. Fast stets besteht es in einer Folge von unmittelbar aneinanderschließenden rechteckigen Räumen, die Treppenhäuser in der Mitte und in den Eckbauten, der große Saal oder die Spiegelgalerie, kurz der Hauptpräsentationsraum genau in der Mitte gelegen. Die äußere Gestaltung fast überall bewusst schlicht und zurückhaltend, die lebendigen Formen werden dem Park einerseits, der Innendekoration andererseits überlassen.

Kirchliche Raumdisposition. Das Übergewicht der Gesamterscheinung wird mit allen Mitteln gefördert. Der Baumeister entscheidet sich für Eines. Sei es die Kuppel, sei es das Portal, sei es der Tor. Diesem Einen wird alles untergeordnet. Er opfert bewusst, um für das Hauptmotiv zu gewinnen. Die propagandistisch kämpferische Tendenz des Jesuitenordens drückt sich vollkommen klar auch in der architektonischen Formensprache aus. Kraft, Reichtum, Erhabenheit der ecclesia militans werden zur letzten Wirkung gesteigert. Zwar können wir beinah in jeder deutschen barocken Kirche einen letzten Abglanz des allgegenwärtigen Vorbildes von Il Gesü in Rom erkennen. Doch ist trotz dieses immanenten Vorbildes niemals im Lauf der ganzen Kunstgeschichte die Freiheit der Raumgestaltung, die Möglichkeit der Veränderlichkeit einzelner Grundrisselemente eine so große gewesen wie im deutschen Kirchenbau des Barock. Die geistige Überlegenheit, der Reichtum an Einfällen in der Gestaltung des Innenraumes kann überhaupt gar nicht mehr unmittelbar empfunden werden, er ist nur noch in der zeichnerisch-mathematischen Darstellung ganz nachzuschmecken!

Giebel, Gebälk, Pfeiler, Säule und Architrav geraten ins Fließen. Die ruhige Wandfläche, Herrschende des romanischen Stils bedeutet nichts mehr. Als künstlerisch bedeutsam gilt nur noch das Vor und Zurück, Zwischenrisalit und Rücksprung. Die tragende Säule dient nicht mehr im Verbande der Mauer, sondern wird vor sie gestellt, das Gebälk verkröpft sich, der Dreieckgiebel wird durchbrochen, alles schwingt und zittert, oszilliert. Die Architektur wird malerisch nicht nur im Sinne des Spiels zwischen Licht und Schatten, sondern in einem viel tieferen: der einzelne Bauteil hat keine struktive Bedeutung mehr.

Am größten ist der formale Schwung barocker Architektur dort, wo die Architektur nichts ist als ein Gefäß der Bewegung selbst, also nicht so sehr in der Gestaltung der Fassade wie im rahmenden Terrassenaufbau der Gärten, dem hinreißenden Aufstieg der Treppenhäuser und der ansaugenden Kraft der Andachtsaltäre.

Entscheidend bleibt - und das gilt für Städtebau, Außenarchitektur und Innendekoration genau so wie für die gesamte Malerei und Plastik - die Raumphantasie. Stärke und Temperament räumlicher Vorstellungskraft entscheiden im Barock die Begabung des bildenden Künstlers.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Deutsche Barockstädte