Die Judenfrage in Russland-Polen.

In den letzten Jahren entstand in Russisch-Polen eine ganz eigenartige Judenfrage. Während sonst im allgemeinen das Verhältnis zwischen Polen und Juden ein erträgliches, ja in gewissen Perioden sogar ein herzliches war; während das jüdisch-polnische Verhältnis in Galizien bis in den letzten Tagen im allgemeinen befriedigend ist — entbrannte plötzlich jenseits der russischen Grenzpfähle ein erbitterter Kampf zwischen den beiden Volksgruppen. Es ist lächerlich und für jeden Kenner der Verhältnisse geradezu absurd, zu glauben, dass die Frage, wem das Warschauer Mandat zur russischen Reichsduma zufallen sollte, diesen Kampf, diese rücksichtslose Boykottbewegung heraufbeschwören konnte. Ebenso ist es unmöglich zu begreifen, dass die Grenzpfähle zwischen Galizien und Russisch-Polen dazu ausreichen sollten, die öffentliche polnische Meinung gegenüber den Juden derartig zu differenzieren. Die Erklärung für diese traurige Erscheinung liegt anderwärts und deren Ursachen viel tiefer. Die russische Reaktion, welche das längst bankrotte, jedoch noch immer brauchbare System: „Divide et impera" zu ihrer Devise gemacht hatte, um ihre schwankende Herrschaft zu befestigen, hat alles drangesetzt, das Verhältnis zwischen Polen und Juden zu vergiften und auf diese Weise die Position ihrer echt russischen „Tschinowniki" in Polen zu verstärken.

Von einer Seite werden große Massen Juden aus dem Inneren Russlands infolge des drakonischen Ansiedlungsrayons und ähnlicher Ausnahmegesetze nach Polen gedrängt; von der anderen Seite wiederum werden die Polen mit Hilfe einer ehrgeizigen Klicke und einer niedrigen Revolverpresse gegen den Andrang dieser „fremden Elemente" rücksichtslos gehetzt und aufgewühlt. Damit ist der Konflikt fertig. Den russischen „Tschinowniki" fällt auf diese Weise fortwährend die Aufgabe zu, bald nach der einen, bald nach der zweiten Seite die Rolle des Beschützers und Patrons zu spielen, um für die sonst schwankende russische Herrschaft in diesen Gebieten einen festeren Grund zu schaffen. Infolge der in den letzten Jahren mit großem Chauvinismus betriebenen Russifizierung aller öffentlichen Ämter in Russisch-Polen wurde auch die polnische Intelligenz aus allen Anstellungen verdrängt und gezwungen, im Handel und Gewerbe neue Existenzmöglichkeiten zu suchen. Damit gelangte dieselbe in einen Konkurrenzkampf mit den handeltreibenden Juden und dadurch konnte der Boykott gegen die Juden so scharf propagiert werden.


Mit der Befreiung Polens aus den russischen Klauen wird der polnisch-jüdische Kampf in diesem Lande aufhören und beide Volksgruppen müssen diesen Moment mit allen Fasern ihres Herzens so rasch als möglich herbeiwünschen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Weltkrieg und die Judenfrage.