Abschnitt. 1

Wir sind am Schluß – wirklich am Schluß. Von neuem fällt der Schatten des norddeutschen Gebirges auf die Leute unserer Geschichte, welche an diesem Schluß das Rollen des schwarzen Wagens noch von ferne hören. Wir befinden uns auf dem Bahnhofe zu Halberstadt, und auf dem Bahnhofe zu Halberstadt wartet ein Wagen aus Krodebeck auf zwei Reisende, die eine telegraphische Depesche vorausschickten, der zufolge sie mit dem nächsten Eisenbahnzuge anlangen werden. Ein weicher Duft liegt über den Bergen und der Ebene; die Welt lacht in Lieblichkeit, obgleich der Herbst nahe und der Winter durchaus nicht fern ist. Wir sind in der zweiten Woche des Septembers; es kommt ein frischer, erquickender Hauch vom Harz herüber, und man ahnt bei jeglichem Atemzug, wie dort oben die Waldwasser jubelnd durch Licht und Dunkel tanzen, über Stock und Stein hüpfen und lustig einstimmen in das Singen der Bergleute und Hirten, in das Geläut der Herdenglocken.
Aber die Wasser kommen selber aus dem Gebirge in die Ebene hinab, um Nachricht zu bringen, wie es in der Heimat zugeht. Da tanzt die Holzemme her, der alten Bischofsstadt die Grüße der blauen Höhen zuzutragen, und nimmt es für gar nichts Erstaunliches, daß ihr die Glocken des Domes, der Liebfrauenkirche und der andern Kirchen antworten, wie da oben die Herdenglocken.
Es ist ein Freitagmorgen, und der Kutscher auf dem Bock der Kutsche vom Lauenhofe zu Krodebeck sagt:
„Sie kommen gerade recht. Es gefällt mir, daß sie grad zum Lohntag heimkommen. Es macht sich nicht immer so, daß man so zur rechten Stunde seinen Willen kriegt. Ja, der Fröschler! Ja, man hat ihn gerade satt, und vorzüglich am Sonnabend, allwo ihm ein jeder Tagelöhner am liebsten mit dem Knüppel zu Leibe stiege; – der Teufel weiß, wie es zugeht.“
Viel Getümmel am Halberstädter Bahnhof! Der Braunschweiger Herzog wird auch mit einem der nächsten Züge erwartet. Er fährt nach seinem Schloß Blankenburg, und von Berlin kommt ein preußischer Prinz zum Aufgang der Jagd auf Besuch, und wenn jedweder offizielle Empfang von den beiden Herren verbeten wurde, so empfängt die Bevölkerung bei derartigen Gelegenheiten immer offiziell und läßt sich ihr Recht nicht nehmen.
In der Stadt ist’s desto stiller. Die Fliegen summen dem steinernen Roland am Rathause und dem wie aus Erz gegossenen andern Harnischträger vor seinem Schilderhause an der Hauptwache um die Nase; an den Fenstern der schönen und der häßlichen alten Holzhäuser sitzen die schönen und häßlichen, die klugen und törichten Jungfrauen der Stadt, sowie auch ihre Mütter. Die Kinder spielen vor den Türen; die Kindermädchen nehmen die Huldigungen der weißen Kürassiere entgegen; es geht ein Geist wie der des so kriegsmutigen und doch so guten alten Vaters Gleim durch die Straßen und sonnt sich in der Mittagssonne auf den ruhigen, reinlichen Plätzen. Es ist immer recht still und behaglich in Halberstadt trotz seiner Garnison von grimmen Panzerreitern.
Unter den schattenden Bäumen des Domhofes, wo einst der gute alte Vater Gleim in Person lustwandelte und – es sind eben, auf die Stunde, hundert Jahre – als „Thyrsis“ seine Sappho, die Karschin, mit spitzen Fingern spazierenführte, wandelte augenblicklich ein anderer guter Mensch, jedoch ohne Sappho, einher, der Kandidat der Theologie Franz Buschmann aus Krodebeck. Feierlich im Frack und mit einem Trauerflor um den Hut, doch knickbeinig wie immer kam er daher. Er hatte dem Generalsuperintendenten einen Besuch gemacht und wandelte jetzt in Christo nachdenklich zum Bahnhofe, um die gute Gelegenheit zur Heimfahrt zu benutzen, wie er die nämliche gute Gelegenheit, das heißt den Wagen vom Lauenhof, am frühen Morgen auch zur Herfahrt benutzt hatte. Er grüßte höflich und doch vertraulich verschiedene geistliche Herren, die ihm auf seinem Wege begegneten, und er grüßte höflich den Kutscher vom Hofe auf seinem Bocke.
„Ist der Zug noch nicht angezeigt worden, lieber Fritz?“
„Ja, eben, Herr Kandidate, und jetzt haben wir gottlob am längsten gewartet. Na, wird das eine Freude sein! Ich glaube, endlich hat’s doch niemandem gepaßt, daß der Herr in der Fremde herumvagabondierte und andere Leute, die ich nicht nenne, das große Maul führten.“
Der Kandidat Buschmann seufzte und ging in die Halle, wo der Zug, welcher den preußischen Prinzen, den Junker Hennig von Lauen und den Ritter von Glaubigern mit sich brachte, soeben in die entgegengesetzte Bogenwölbung hereinächzte und -zischte. Es war ein sehr heftiges Gedränge; aber der Kandidat sah, wie wir wissen, ebenso lang als dürr über die Häupter der übrigen Menschen weg, und – da – da waren sie wirklich – sowohl der preußische Prinz wie auch der Junker und der Chevalier von Glaubigern, und der Kandidat seufzte wiederum, als er sich auf den Zehen hob und sagte:
„Ja, da sind sie! O du lieber Gott, da sind sie wirklich, und der Hennig scheint seine liebe Not mit dem Alten gehabt zu haben. Nun, nun, ich hoffe, solches wird ihn auch für meine traurige Nachricht weich und teilnehmend gestimmt haben.“
Sofort drängte er sich mit einer Rücksichtslosigkeit, die nur durch jene, seine traurige Nachricht entschuldigt werden konnte, durch das Getümmel den beiden Reisenden entgegen, streckte ihnen die Hände dar und rief:
„O mein lieber, lieber, mein teurer Hennig! Mein teurer Freund! O mein lieber Herr von Glaubigern, der Herr segne Sie in der Heimat! In bangen Sorgen und Schmerzen haben wir auf Sie gewartet.“
„Guten Tag, Buschmann!“ erwiderte Hennig. „Hilf uns vor allen Dingen durch den Lärm. Wir haben auch unsere Sorgen gehabt und bringen ein gut Teil von unseren Schmerzen heim. So! Da haben wir Luft. Guten Tag, Buschmann, – da sind wir. Wie geht es dir? Wie steht es daheim?“
Der Kandidat wies mit einem scharfen Ruck auf den Trauerflor an seinem Hute:
„Vor allen Dingen ist mein armer guter Vater recht sanft und friedlich eingeschlafen.“
„Oh!“ rief Hennig.
„Und er ist im tiefsten, innigsten Glauben an seinen Erlöser hinübergegangen, und er hing mit großer Liebe an dir, Hennig! Selbst in dem letzten, schweren Stündlein hat er noch von dir geredet.“
Nun seufzte auch der Junker von Lauen sehr tief; aber der Kandidat Buschmann fuhr fort:
„Wir sprechen noch davon, Lieber. Du bist so gütig, mir ein Plätzchen in deinem Wagen zu geben, dort hält er; – auf der Fahrt werde ich dir alles, alles sagen. Und nun, vor allen Dingen, Hennig, wie ist es euch ergangen? Was macht unsere gute Antonie? Wir haben lange keine Nachrichten von euch erhalten, und das hat unsere Unruhe nicht vermindert.“
Hennig faßte hastig den Arm seines Freundes und flüsterte:
„Sei still! Sprich nicht von Antonie! Jetzt nicht! Er ist mir unter den Händen zu einem Kinde geworden, und er weint und wimmert wie ein Kind, wenn der Name genannt wird. Laß uns gehen; wir wollen uns nicht aufhalten; hilf mir, ihn in den Wagen zu bringen. Es ist mir lieb, daß ich dich hier treffe, Buschmann; ich bin mit meinen Kräften vollständig zu Ende, und ich werde diese Reise in meinem Leben nicht vergessen.“
„Steht es so schlimm dort unten?“ flüsterte der Kandidat.
„Es ist vorüber. Es ist vorbei. Wir haben viel Unglück gehabt und kommen auch von einem Begräbnis; mir aber ist sehr schlecht zumute“, erwiderte Hennig.
„Oh!“ rief Franz Buschmann; und dann faßten sie beide den Herrn von Glaubigern unter die Arme und geleiteten ihn, ohne sich weiter nach dem preußischen Prinzen und dem Herzog von Braunschweig umzusehen, zu dem Wagen. Sie hoben den Ritter mühsam hinein, und Hennig rief:
„Das sind die Krodebecker Rappen, Herr von Glaubigern! Das ist wieder der erste gesunde Atemzug! Wir sind zu Hause, Herr Leutnant.“
Der Chevalier sah blöde umher und lächelte und nickte altersschwach:
„Jaja! Recht gut! Aber es waren nicht wir, sondern die brandenburgischen Husaren und die reitenden freiwilligen Jäger, welche die Marinegarden bei Möckern zusammenhieben. Wir Kürassiere hielten vor Klein-Wiederitzsch gegen Ney.“
„So ist er nun“, flüsterte Hennig. „Er hat alles andere bis auf den Namen Antonie vergessen; aber was er in seiner Jugend erlebte, weiß er alles wieder ganz genau, und von der Gardemarine habe ich ihm vor einem Vierteljahre von Wien aus geschrieben. O Franz, es wäre eine wahre, richtige Kuriosität, wenn es nicht so jammervoll wäre.“
Dem Krodebecker Fritz auf dem Kutschbock blieb die wohleingelernte Gratulation zur vergnügten Heimkehr in der Kehle stecken, als sie den Ritter heranführten. Er fuhr wie in einer Betäubung befangen vom Halberstädter Bahnhof ab und blickte häufig, mit aufgesperrtem Munde, über die Schulter nach den Herren im Wagen.
Sie hatten den Chevalier von Glaubigern auf den Rücksitz gesetzt, und da saß er neben dem Junker und stellenweise von diesem unterstützt. Mit dem Kinn auf dem Stockknopf, mit geschlossenen Augen saß er da und schien jegliches Interesse für seine Umgebung verloren zu haben. Auch die für ihn immer bekannter werdende Landschaft machte keinen ermunternden Eindruck auf ihn. Er schlummerte bald ganz ein und schlief vom Mittag bis spät in den Nachmittag; die beiden jungen Leute hatten das Gespräch für sich allein und führten es weiter, ohne ebenfalls viel auf ihren Weg und das zur Linken ihres Weges in immer andern Höhen, Wäldern und Talausmündungen sich hinschiebende Gebirge zu achten.
„Das ist freilich eine trostlose Geschichte“, sprach der Pastorenfranz, melancholisch das Haupt schüttelnd. „So jung, so hübsch und in so – hübschen Umständen! Wir haben davon wie von einem Märchen gesprochen, und es war auch in der Tat märchenhaft, wie sie bei uns ankam und nachher sechsspännig wieder abgeholt wurde! Und nun geht das so aus – ich begreife es noch lange nicht. Nun, der Herr führt uns alle nach seinem heiligen Willen; aber wer hätte das gedacht, als wir als Kinder so gute Freundschaft miteinander hielten?! Ich hatte sie sehr gern, obgleich ich sagen möchte, daß – daß sie – nun, wir wollen das übrige dem überlassen, der allein auf die rechte Weise in der Tiefe des Menschenherzens zu lesen versteht; aber – du verstehst mich schon, lieber Hennig – sie hatte auch ihre boshaften Launen, und dann gehörte viel christliche Geduld dazu, um es in ihrer Gesellschaft aushalten zu können. Doch – sie wußte euch sämtlich auf dem Lauenhofe recht gut zu nehmen; man hatte öfters Grund, sich darüber zu verwundern.“
Der Junker von Lauen setzte unwillkürlich einen Eckzahn auf die Unterlippe und sah den Kandidaten ziemlich sonderbar an:
„Es wird für jetzt und alle Zeiten besser sein, wir reden in dieser Weise nicht von ihr, Buschmann!“ sagte er, und Blick und Ton bewogen den guten Franz wirklich, sofort in einer andern Weise von der armen Tonie Häußler zu reden, nämlich nur Gutes.
Nach einer Weile sagte Hennig, nachdem er den zungenfertigen Freund hatte reden lassen, ohne auf ihn zu achten:
„Es ist mir merkwürdig zu Sinne. Ich kenne hier jeden Baum an der Straße; ich kenne dort jeden Berggipfel, ich bin diesen Weg wohl hundertmal gefahren, geritten und gelaufen, und nun erscheint mir alles wie ausgewechselt. Es ist die ganze Welt eine andere geworden; ich habe mehr erlebt, als ich ausdenken kann. Ich bin auch ein anderer geworden, Buschmann.“
Darin irrte er sich. Seine Umgebung mochte ihm heute wohl in einer andern Gestalt und Färbung erscheinen, allein er selbst war noch ganz derselbe, der er vor Jahren gewesen war. Das Phänomen wiederholt sich häufig, wie viele Leute, die auch dann und wann meinten, sich vollständig geändert zu haben, aus ihrer eigenen Erfahrung bestätigen können.
Der Pastorenfranz sprach nun ein langes und breites von dem Tode seines Herrn Vaters und suchte nicht ohne Absicht einen tiefern Eindruck durch seinen rührenden Bericht hervorzubringen, infolgedessen er leider geraume Zeit hindurch nicht merkte, daß er diesen Eindruck keineswegs hervorbringe. Als er endlich erkannte, daß ihm der Jugendfreund nicht mit der wünschenswerten Aufmerksamkeit folge, seufzte er tiefer denn je, brach aber sofort ab und trocknete auf der Stelle für jetzt seine Tränen.
Sie näherten sich, da es Abend wurde, allmählich der Heimat. Als die kühlen Schatten des Tannenwaldes von Krodebeck auf ihre Häupter fielen, erwachte der Ritter von Glaubigern, rieb sich die Augen, sah sich um und blickte erstaunt auf den Pastorenfranz, als sei es ihm unmöglich, an die Möglichkeit seines Vorhandenseins da auf dem Wagensitze vor ihm zu glauben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump