Abschnitt. 2

„Es ist der Franz – der Franz Buschmann“, rief Hennig. „Wir haben den alten Jungen in Halberstadt auf dem Bahnhofe getroffen, Herr von Glaubigern, und ihn mitgenommen. Dies ist das Kuckelrucksholz, in einer Viertelstunde sind wir nun wirklich zu Hause!“
Der Chevalier richtete sich empor von seinem Sitze; hätte ihn der Junker von Lauen nicht schnell umfaßt und gehalten, so würde er im nächsten Augenblicke unter den Hinterrädern des Wagens gelegen haben. Er wehrte sich aber heftig, wenn auch unbewußt, gegen die haltenden Arme seines Zöglings und schrie mit gellender, angstvoller Stimme:
„Wo ist sie? Sie! sie! Sie saß neben mir! Ich habe ihre Hand gehalten! Da mit dieser Hand! Wo ist sie geblieben? Wir brachten sie mit uns zurück – sie hat neben mir gesessen – halt die Pferde an, es ist ein großes Unglück geschehen. Horch, horch, sie ruft aus der Ferne!... Antonie, hier, Antonie!“
„Sie ist da – sie kommt uns nach“, murmelte Hennig in peinlicher Verlegenheit über die Art und Weise, in welcher er den alten Mann beruhigen sollte.
„Es ist nicht wahr! Es ist eine Lüge. Alle lügen, jeder lügt! Sie ist tot, und wir haben sie begraben, ich bitte um Entschuldigung“, sagte der Ritter von Glaubigern weinerlich und fiel in seine Ecke zurück. „Wann haben wir sie begraben, Herr von Lauen? Sie waren ja dabei. O es war sehr schön, Herr Buschmann, – es ist recht schade, daß Ihr Herr Vater nicht zugegen sein konnte; aber es ist lange her, sehr lange, und ich hätte doch auch nicht gern gesehen, wenn Ihr Herr Vater zugegen gewesen wäre, es waren schon zu viele unbekannte Leute da. Ja, Herr Buschmann, der Hennig ist ein guter Junge, allein in der Fremde ist wenig mit ihm auszurichten. Nun, seine Mutter wird sich recht freuen, daß ich ihn gesund und vergnügt zurückbringe. Ich hatte es ihr versprochen, und ich habe immer mein Wort gehalten; nur meiner Tonie, der armen Tonie nicht. Die habe ich in der Fremde zurückgelassen und hatte doch versprochen, bei ihr zu bleiben oder mit ihr zu gehen. Aber ich werde ihr nachkommen, ich werde ihr ganz gewißlich nachkommen – ich bin so sehr alt, und sie war so sehr jung, da ist es kein Wunder, daß sie auf ihren kleinen leichten Füßen solchen Vorsprung mir abgewann.“
„Das ist ja Wahnsinn! Ist er jetzt immer so?“ fragte der Kandidat leise.
„Nein – sei nur still“, erwiderte Hennig ebenso leise. „Er ist nur wirklich recht alt, und das große Elend hat ihn mit einem Male kindisch gemacht. Warte nur, ich werde ihn auf seine Jugendzeit bringen, darin ist er einzig und allein jetzt vollständig zu Hause.“
„Und ich habe sie ihm doch wieder abgeholt; er hat sie nicht behalten können!“ rief der Greis plötzlich mit einem wilden triumphierenden Blick; aber dann schloß er sogleich von neuem die Augen und saß fürderhin stumm und zusammengesunken. Der Wagen fuhr an dem Siechenhause von Krodebeck vorüber; es war nicht mehr nötig, daß der Junker von Lauen den Ritter von Glaubigern auf seine Jugendzeit zu bringen suchte.
Hennig sah nach der elenden Hütte hinüber, und wenn ihm je in seinem Leben die Welt in einem andern Lichte als gewöhnlich erschienen war, so war das in diesem Augenblicke. Einen Augenblick lang erfaßte er wirklich die große Tragikomödie der Welt, insoweit er und die Seinigen darin mitgespielt hatten und noch mitspielten, im tiefsten; und in diesem Augenblicke erhob er sanft und in schmerzlicher Zärtlichkeit das müde, schlaftrunkene Greisenhaupt an seiner Seite im Arme und gab ihm eine bequemere Lage an seiner Brust. Aber das ging schnell vorüber, denn dort ragten die Bäume des Lauenhofes, dort grüßte ein bekannter Bauer, dort erhob sich die Gartenterrasse mit dem morschen Sommerhause – die letzte Wendung des Weges, und dort ragten die alten braunen Giebel, die Schieferdächer und Schornsteine seines alten, wackern Vaterhauses empor! Er hörte das Gebell seiner Hunde, und ein freudiges Grinsen verbreitete sich über sein Gesicht, und seine Seele füllte sich mit den gewohnten Bildern. Er dachte an den Freund Fröschler, und er dachte an seine Gäule, an die Wintersaat, an die neuen friesischen Kühe, die sich jetzt allgemach eingewöhnt haben mußten.
Der Kutscher Fritz klatschte lustig mit der Peitsche; der Wagen fuhr in das Hoftor – und Hennig von Lauen war in der Tat wieder zu Hause. Es fehlte wenig, daß er fast einen lauten Jubelruf hätte hören lassen – er seufzte vor Behagen!
Von allen Seiten drängten sich die Leute heran, ihn zu begrüßen. Fröschler kam im Laufschritt über den Hof und reichte dem heimkehrenden jungen Patron zuerst die Hand in den Wagen. Die Knechte und Mägde standen schüchtern in einiger Entfernung und ließen plötzlich das Jubelgeschrei hören, in welches der Junker von Lauen – so gern eingestimmt hätte. Sie schrieen laut genug, und ihr Vivat drang zu den Ohren von zwei alten Frauenzimmern, die soeben von der Vortreppe des Hauses herabhumpelten, einen Augenblick verwundert stehenblieben und sodann ebenfalls so eilig als möglich herbeikamen.
Da niemand auf sie achtete, so machte ihnen auch niemand Platz; aber die eine der beiden Alten verstand es, sich selber den Weg frei zu machen.
„Laßt mich hinzu!“ rief sie. „Glück auf, Herr von Lauen! Herr Ritter – o Herr Ritter, wo ist das Kind?“
Nun war der Chevalier von Glaubigern durch den Lärm der Hintersassen des Lauenhofes auch von neuem aus seinem Schlummer erweckt worden und sah dicht vor sich am Wagenschlag das verwitterte und im Staunen und Schrecken verzogene Gesicht Jane Warwolfs und neben der Jane die trümmerhafte Gestalt der einst so großen und hohen Freundin, Fräulein Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin. Schon aber hatte die Warwölfin mit den spitzen Ellenbogen den Junker zur Rechten und den Kandidaten der Theologie Franz Buschmann zur Linken auf die Seite geschoben. Sie umfaßte den Greis und hob ihn wie ein Kind aus dem Wagen. Er stand taumelnd und schwankend auf dem Boden des Lauenhofes und nahm den Hut ab und verbeugte sich und grüßte blöde und meinungslos lächelnd im Kreise.
„O du mein Gott im Himmel, Herr von Glaubigern, was bringen Sie uns heim?“ rief Jane, ihn immer noch unterstützend. „O Jesus Christus, was haben Sie uns mitgebracht, Herr von Glaubigern? Nichts weiter als solch ein Gesicht? O Himmel, was hat man aus Ihnen gemacht!“
Da ging unter den scharfen Augen Jane Warwolfs noch einmal und zum letzten Male ein Zug schärfsten Verständnisses über dieses Gesicht des kindisch gewordenen Ritters Karl Eustach von Glaubigern; er legte den Finger auf den Mund und sah hastig nach beiden Seiten hin über die Schultern. Dann faßte er die Hand der Greisin und flüsterte:
„Sei still! Ich kam zur rechten Zeit. Sie ist glücklich! Glaube niemandem, der dir sagen will, daß sie im Elend gestorben sei. Wie hieß der Mann, der sie uns nahm und wegführte und meinte, er habe ein Recht auf sie, und sie gehöre ihm an?! Ich habe den Namen vergessen, aber das ist einerlei, es war da eine ganze Welt, die denselben Namen führte und dasselbe von unserem Kinde behauptete. Es war eine Lüge – und jetzt ist alles gut und in Ordnung: wir bleiben beieinander; aber es ist ein Geheimnis. Achte nicht auf den Hennig und diese andern um uns her, sie wissen nichts, denn sie sind nur so lange glücklich, als die Sonne scheint und es ihnen wohlgeht! Auch das ist gut. Jetzt geh fort, ich muß mit dem Fräulein sprechen, sie nimmt es schon übel, daß ich so lange mit dir rede.“
Und der Chevalier bot dem Fräulein von Saint-Trouin den Arm und führte es mit der altgewohnten Höflichkeit und Zierlichkeit dem Hause zu, und sie erreichten das Haus als zwei alte, alte Kinder, für die das Erdenleben kaum noch einen klaren Sinn hatte.
Jane Warwolf sah ihnen finster und mit zitternden Lippen nach. Dann wendete sie sich an den Junker:
„Ist das so wahr, wie ich es mit meinem schlechten Verstande begriffen habe, Herr von Lauen?“
Hennig nickte traurig:
„Wir kommen von ihrem Begräbnis, Jane. Was ich durchgemacht habe, das hat noch kein anderer Mensch erlebt. Jetzt laß mich in Ruhe, es dreht sich alles um mich. Du wirst alles erfahren, ich gebe dir mein Wort darauf.“
„Das wäre denn freilich das Ende, wie ich es vom Anfang an gesehen habe!“ sagte Jane, wendete sich ab und ging still fort nach dem Siechenhause von Krodebeck.
Sie umschritt die Hütte und trat durch die Hecke auf den Kirchhof des Dorfes und setzte sich kopfschüttelnd auf das Grab Hanne Allmanns und murmelte:
„Glück auf – Glück herunter – ja freilich, darauf läuft’s hinaus, daß wir zuletzt doch alle beieinanderbleiben; aber wer am wenigsten darüber nachdenkt, der hat’s vielleicht doch am besten. Nun bin ich auf meine alten Tage aus einer Landläuferin eine Kinderfrau geworden; aber – lache, lache nicht, Hanne! Es ist gewiß und wahrhaftig nicht zum Lachen, Hanne Allmann. Den Ritter muß ich abwarten, von dem gnädigen Frölen gar nicht zu reden. Den Ritter! Den Herrn Ritter, Hanne Allmann!“
Und die Greisin bedeckte die Augen mit den Händen und weinte selber bitterlich; wir aber, wir haben uns bereits im Anfang dagegen verwahrt, daß wir imstande seien, aus dem Buche vom Schüdderump eine besonders lustige Geschichte zu machen. –
Im Dorfe von Tür zu Tür, von Gevatterin zu Gevatterin, von der Schmiede bis in die Schenke ging ein Geflüster: die beiden Herren vom Hofe seien heimgekehrt aus der großen Stadt da unten in Osterreich und hätten kuriose und üble Nachrichten mitgebracht von dem Kinde der schönen Marie. Es nutzt uns aber nicht, von den verschiedenen Gestalten und Färbungen zu reden, welche diese Nachrichten in den verschiedenen Köpfen und Mäulern annahmen. Es genügt uns, noch einmal die Ansicht eines einzigen Mannes zu vernehmen, auf dessen Denken und Fühlen wir im stillen immer ein hohes Gewicht legten, selbst dann und da, wo wir es gerade nicht hervorhoben oder hervorheben konnten. Uns genügt hier vollständig die Moral oder die Quintessenz der Moral, welche der teure Kandidat der Gottesgelahrtheit, Franz Buschmann, der nicht nur die beste Anwartschaft auf die Krodebecker Pfarre hatte, sondern auch wirklich die innigsten Gefühle eines bedeutenden Teiles der menschlichen Gesellschaft repräsentierte, aus dem betrüblichen Fall abzog. Nach außen hin neigte er nur das Haupt, seufzte schwer und sprach ganz im allgemeinen von der Nichtigkeit des Lebens, von dem einen, was allein not tue und ohne welches freilich alle irdische Herrlichkeit und Schönheit, alle Klugheit und geistige Pracht zu Schlingen des ewigen Verderbens würden. Im Innern aber tanzten folgende Betrachtungen eines gewiß nicht irdisch-dummen Menschen den seltsamsten Tanz:
„Das war ein reizendes Mädchen – jammerschade drum! Ich hatte das liebe Kind ungemein gern und habe stets mein möglichstes getan, um in einem angenehmen Verhältnisse mit ihr zu bleiben. Welch ein Schicksal, und welch ein Charakter! Und – welche Moral, o Gott, welche Moral! Ein eigentümliches Kind, so ganz unweiblich und doch allerliebst-scharmant; sie hat mich häufig in Verlegenheit gesetzt und noch häufiger recht geärgert. Also ist sie tot! wirklich tot! Laßt mich sehen – sie kann kaum zwanzig Jahre alt geworden sein. Ach, ich hätte sie wohl sehen mögen in ihrem Glanze in Wien. Apage, apage! – welche unnützen Vorstellungen! Und doch wird man das nicht los, man hat sie zu gut gekannt. Wie wäre das geworden, wenn sich mein Herr Vater ihrer Erziehung angenommen hätte – wie glücklich hätte dann ihr Leben sein können – und sie würde heute leben und glücklich sein. Es ist gar nicht auszudrücken, in was für eine glänzende Ferne man da hinaussieht. Apage! Als der brave Papa, der Großpapa, der Edle Häußler von Haußenbleib kam, war’s freilich bereits zu spät. Jaja, wir werden eben unerforschliche Wege geführt, und es ist nur ein Trost, daß der Herr den Seinen die besten anweiset. Sela.“
Daß der Herr die Seinigen die besten Wege zu führen weiß, ist wohl auch durch dieses Buch wieder einmal gezeigt worden, und wir könnten nunmehr still unsere Feder weglegen, unser Manuskript schließen und es den Leuten überlassen, wie sie sich mit dem Buche vom Schüdderump abfinden mögen.
Der Edle Dietrich Häußler von Haußenbleib hat augenblicklich in Fiume vielen Verdruß und führt eine verwickelte Korrespondenz mit der Admiralität zu Triest. Aber er baut an der zweiten Million und verspürt keine Lust mehr, mit dem Grafen Basilides Conexionsky zu teilen. Der Junker von Lauen möchte gern seine Zigarre in Frieden rauchen und seinen melancholischen Gedanken in Ruhe nachhängen; allein er kommt selten dazu, sein Freund Fröschler und ein Dutzend gute Nachbarn und die Eichsfelder dulden es nicht.
Wenn die Witterung es erlaubt, schleichen drei alte, kümmerliche Gestalten nach dem Siechenhause, das wieder leer steht, und Jane Warwolf trägt den Schlüssel und öffnet so schnell als möglich; denn der Ritter von Glaubigern wird sehr böse jetzt, wenn er nicht sogleich seinen Willen bekommt. Die drei sitzen in einer Reihe auf der Bank und betrachten die kahlen Wände. Wenn jedoch plötzlich ein Schein über die morsche Wand hinliefe und eine lichte Gestalt leise winkend und freundlich lächelnd vorbeiginge und den Finger auf den Mund legte, so würden sie sich kaum darüber wundern.
Wir sind am Schlusse – und es war ein langer und mühseliger Weg von der Hungerpfarre zu Grunzenow an der Ostsee über Abu Telfan im Tumurkielande und im Schatten des Mondgebirges bis in dieses Siechenhaus zu Krodebeck am Fuße des alten germanischen Zauberberges!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump