Abschnitt. 2

„Es ist doch wahr, mein Vater! Du von allen, die mich liebgehabt haben im Leben, hast zuerst gewußt, wie schwer es sein werde, eine ruhige Stelle für mich in diesem Leben zu finden. Du hast vielleicht Freude an mir gehabt, denn ich habe das sehr gewünscht; aber die schwere Sorge um mich bist du nie losgeworden. Und weshalb wärst du jetzt zu mir gekommen? Hast du einen Platz auf Erden gefunden, wohin du mich führen und allein lassen und lächelnd sagen könntest: Da sitze still und sei zufrieden, denn du bist geborgen!? – Nein, mein Herr Ritter, in jener Nacht, in welcher der alte Mann aus dem Siechenhause mir am Grabe meiner Mutter die Hand auf die Schulter legte, bin ich zum Tode erschreckt worden. Seit der Nacht friert mich in der Sonne. Seit jener Nacht habe ich angefangen, mich vor der Sonne zu fürchten. Der Chevalier von Glaubigern wird nach Krodebeck zurückkehren und den Leuten sagen, wo das Kind, das mit der schönen Marie ins Dorf gebracht wurde, geblieben ist. Ach, er wird den Leuten nicht erzählen, welch einen Segen er jenem Kinde in der letzten Stunde aus seinem treuen guten Herzen brachte!“
„Und mit einem solchen Glauben, mit einer solchen Gewißheit in deinem Herzen hast du dem Mann, welcher da eben hinausging, deine Hand gegeben?“
„Mein Großvater hat das getan, und Sie, mein Vater, sind zu mir gekommen, als Sie davon hörten. Nicht wahr, Sie sind nicht zu mir gekommen, um mich so schlecht Komödie spielen zu sehen? Ach, das ist heute nicht anders, als es gestern, als es vor einem Jahre war, als es seit dem Tage ist, an welchem man mich von dem Lauenhofe fortführte: ich habe immer Komödie spielen sollen, und weil ich stets meine Rolle schlecht machte, habe ich schlechte Tage und Nächte gehabt. Nun hat man mir meine letzte Rolle gegeben. Sie glauben es nicht, daß es meine letzte sein wird; aber ich weiß es, und da lache ich zum erstenmal über das Spiel, in welchem ich selber von den harten Händen um mich her vor- und zurückgeschoben werde. O mein Vater, dies Lachen müssen Sie mir gönnen; es ist der einzige Gewinn, den ich mir aus meinem Leben, meinem schrecklichen Leben in dem Hause meines Großvaters erworben habe.“
„Wehe über sie alle, welche dich so lachen machten!“ rief der Ritter von Glaubigern. „Du hast recht; ich bin zu dir gekommen, nicht um dein hiesiges Leben persönlich zu erkunden, sondern um dich mir zurückzufordern. Du sollst mit mir heimgehen, Antonie! Sie haben ja jetzt erfahren, daß du nicht zu ihnen gehörst, – der alte Mann haßt dich und fürchtet dich; er wird dich gern freilassen. Du spielst nicht Komödie; aber nun mache dem Spiel der andern mit dir ein Ende – dieser Graf wird dich nicht halten, ich habe in seiner Seele wie in der deines Großvaters gelesen. Sie wissen, warum ich hier bin; sie haben heute Furcht vor mir gehabt. Sie wissen, daß sie keine Macht mehr über dich haben; sie haben Furcht auch vor dir, und du hast gesiegt in diesen Jahren, nicht sie! Sie wissen das ganz genau und werden uns nicht auf unserm Wege aufhalten! Ich führe dich heim nach dem Lauenhofe.“
„Nach dem Lauenhofe?“ rief Antonie, in Angst und Scham und Schrecken die Hände erhebend. „Nach dem Lauenhofe? Wissen Sie nicht, mein Freund, daß Hennig mich aus Mitleid dahin führen wollte? Da ist der Tod unwiderruflich in mein Herz getreten, als er mir seine Hand aus Mitleid anbot. Mein Vater, mein Vater, ich rede zu Ihnen über die Schulter, schon halb verdeckt von dem Schatten, der nach dem Tage kommt und zur ewigen Dunkelheit wird – deshalb allein kann ich so zu Ihnen sprechen! Ahnen Sie nicht, weshalb mein Heimatsrecht an den Lauenhof nur bei Ihnen ist und bei den zwei Gräbern auf dem Kirchhof, dicht an der Hecke des Siechenhauses?“
Sie barg von neuem ihr Gesicht an der Brust des Greises und weinte sehr. Der Ritter von Glaubigern sah in ratloser Verzweiflung umher – er wußte freilich jetzt alles. Er wußte vor allen Dingen, weshalb das Kind der schönen Marie, sein Pflegekind, die arme Antonie Häußler, so wenig Widerstand gegen den Willen ihres Großvaters in betreff des Grafen Basilides Conexionsky geleistet hatte. Sie spielte doch Komödie! Das Herz zerbrach ihm im tiefen Schauder über die tragische, entsetzliche Rolle, die sie diesmal auf sich genommen hatte.
„Sie liebt den Knaben – den törichten, nichtigen Knaben, der nichts als ein halb unbewußtes, ein schnell vergehendes Mitleid für sie hat!“ murmelte er. „O sie sieht furchtbar klar – sie wäre doch verloren in der Heimat. Sie hat recht, sie hat keine Heimat – dort nicht – dort nicht. Und weil sie weiß, daß man an einer Rolle wie der ihrigen wirklich stirbt, so hat sie sich in dieselbe hineingeflüchtet, und ich – ich habe ihr nichts mehr zu sagen, nichts mehr zu bieten!“ –
Da merkte er, daß er nicht umsonst mehr denn siebenzig Jahre alt geworden war und das Vermögen, über sein eigen Dasein und das seiner Brüder und Schwestern im Leben nachzudenken, behalten oder doch für einen kurzen Augenblick wiedererhalten hatte. Grimmig richtete sich die furchtbare Sphinx vor ihm empor und sah ihn an mit den großen, kalten, unergründlichen Augen.
Was war es auch, was ihn hier in dem Geschicke seines Pflegekindes so tief bewegte? War es wirklich so spät am Abend der Mühe und der Tränen wert? So spät am Abend! Was hatte er selber dadurch gewonnen, daß er siebenzig Jahre alt geworden war und daß er es, wie die Leute in Krodebeck sagten, in seinem Leben gut gehabt hatte? –
Hatte er es in seiner träumerischen, einsiedlerischen, verlorenen Abgeschiedenheit wirklich so gut gehabt, wie die Leute in Krodebeck meinten?
Ach, er fühlte sich als ein gar armer Mann, als er so spät am Abend seinen Gewinn zusammenzählte, während das bleiche Pflegekind von seinen Kissen ihn ebenfalls mit großen, unergründlichen Augen anblickte, als warte es darauf, daß er ihm das Ergebnis seiner Rechnung leise sage.
Er hatte hier Hülfe bringen wollen? Er? – – – So alt, so alt und ebenso allein und hülflos in dem wilden, wimmelnden, vorwärts stürzenden Leben wie dieses junge Wesen – ja hülfloser noch!
Er blickte auf den Weg zurück, auf welchem er gekommen war, und er sah ihn leer. Nur die Nacht schritt hinter ihm her, die Schatten wuchsen um ihn.
„Ach, lebte doch die Frau Adelheid noch!“ sagte er, und dann dachte er an die zwei andern alten Weiber, die noch auf dem Lauenhofe saßen; aber was konnten die ihm und der Tonie helfen?
Er dachte an das hohe Alter der beiden, und das kam ihm auf einmal ganz außergewöhnlich gespenstisch vor, und dann blickte er sich von neuem in seiner Umgebung um und besann sich mühsam, wo er sich befinde. Er strich langsam über die dünnen weißen Haare und murmelte ganz ängstlich fragend:
„Tonie, Tonie?“
Sie verstand schnell, was das bedeute, und faßte seine Hand und flüsterte ihm zärtlich ermutigend zu: „Fürchte dich nicht, Vater. Du bist bei mir – bei deinem Kinde! Wir halten zusammen, wir bleiben zusammen. Niemand kann uns mehr ein Leid antun. O wir können ruhig sein, ganz ruhig, mein Vater!“
Da nickte er mit dem Kopfe, und das Kinn sank ihm tiefer auf die Brust herab. Die greisenhafte Erschöpfung gewann langsam wieder ihr Recht über ihn.
Noch wehrte er sich tapfer und ritterlich dagegen; aber schon wußte er, daß er unterliegen müsse, und jammernd rief er:
„Tonie, Tonie, weshalb bin ich denn hier? Weshalb bin ich hergekommen? Wo bin ich?“
„Du bist zu meinem höchsten Glück zu mir gekommen. In der höchsten Not. Nun bist du bei mir, mein Vater, und ich bin bei dir, und wir bleiben zusammen, niemand soll uns voneinander trennen. Sei ruhig, wir gehen denselben Weg, mein Vater!“
Noch einmal und zum letztenmal ging eine große Helle, ein großes Licht durch die Seele des Ritters Karl Eustach von Glaubigern. Noch einmal sah er sein Leben vom ersten Augenblick des selbständigen Denkens bis in diese feierliche Stunde in höchster Klarheit vor sich, und ganz klar erkannte er plötzlich, inwiefern seine tapfere Fahrt vollkommen mißlungen war und inwiefern dieselbe vollständig ihren Zweck erfüllte.
„Du sagst die Wahrheit, Tonie“, sprach er. „Wir wollen zusammenbleiben und zusammengehen, mein Kind, denn wir treffen auf ein und demselben Wege zusammen; ich komme nur ein wenig weiter her. Das sind deine jungen Locken, mein armes Kind; – man sollte es nicht denken, daß wir auf demselben Wege zusammentreffen könnten; aber es ist so. Wir können in dieser Welt einander nicht helfen, Tonie; wir können nur den Rest unseres Weges zusammen gehen.“
„Mein Glück, das ist mein Glück, lieber Vater! Und jetzt wollen wir die anderen Herren zurückrufen, und wir wollen verschwiegen sein und haben das leicht; denn wir müßten laut rufen, um uns hörbar zu machen.“ –
Gerufen von Toinette, kam der Edle von Haußenbleib mit dem Junker von Lauen, stumm, sorgenvoll, verlegen und verstört. Sie hatten allen Grund, über den Ritter und sein Pflegekind zu erstaunen, denn Tonie empfing sie mit einem ruhigen Lächeln, und der Chevalier erschien ihnen nur ein wenig erschöpft von der Reise, und das konnte kein Wunder sein. Sie rieten ihm – dem Ritter von Glaubigern –, sich früh niederzulegen, und das versprach er gern, und als er dann mit Hennig nach der Taborstraße fuhr, schlief er wirklich schon im Wagen ein und schlief ruhig und fest die Nacht durch.
Auch Antonie Häußler schlief ruhig und lächelte im Schlafe; aber alle andern wachten in großer Unruhe und vielen Sorgen; vor allen andern aber wachte in Sorgen, Angst und großem Grimm der Edle Dietrich Häußler von Haußenbleib, denn er hatte gesiegt und triumphiert; – auch diesmal hatte er seinen Willen gehabt und den Sieg gewonnen, wie er unter allen Gestalten und in allen Verhältnissen, in der Tiefe und in der Höhe seit vielen, vielen tausend Jahren den Sieg gewinnt. – –
Und er war so zufrieden mit seinem Siege, wie er es seit Jahrtausenden stets ist; nämlich er zuckte die Achseln, da er die, welche ihm das Feld räumen mußten, nicht halten konnte. Daß er von allerlei verdrießlichen und unbequemen Gemütsbewegungen geplagt wurde, haben wir soeben erst gesagt; allein er wußte sich nach seiner Art ganz vortrefflich zu beherrschen, erschien dann und wann sogar recht gerührt und – erwies sich diesmal sogar außergewöhnlich höflich, nachgiebig und zuvorkommend gegen die Scheidenden bis – zum Schluß, bis zur Vollendung dessen, was er sein – gewöhnliches schlechtes Glück zu nennen beliebte.
Auch mit dem Grafen Basilides Conexionsky hatte sich jetzt der Edle von neuem auseinanderzusetzen, und dieses war für ein feinfühliges Gemüt, gleich dem seinigen, vor allem eine peinliche Aufgabe. Er versuchte es nach gewohnter freundschaftlicher Weise und, um die Wirkung zu erhöhen, mit dem Taschentuche vor den Augen. Aber wenn ihm der Graf Basil selbstverständlich auch auf halbem Wege entgegenkam, so machte doch das Taschentuch nicht die geringste Wirkung auf ihn.
„Mein lieber Herr“, sagte der Graf mit großem Ernst und mit gerade nicht geheimgehaltenem Ekel, „mein lieber Herr, ich hielt Sie für einen besseren Impresario, als Sie sich gezeigt haben. Per Bacco, ich schäme mich selber und finde für mich nur in meinem langen Aufenthalt in Italien eine Entschuldigung für die entsetzliche Gutmütigkeit, mit welcher ich mich Ihnen zur Verfügung stellte. Ich glaubte, mich für eine Buffoneria engagieren zu lassen, und nun finde ich mich als Arlecchino im fünften Akt einer Tragödie sondergleichen und hätte Lust, Sie, mein teurer capo della compagnia, auf eine Art dafür verantwortlich zu machen, die Ihnen für alle Zeit derartige Spekulationen verleiden müßte.“
„Ich bitte Sie, Basil!“ rief der Edle mit gefalteten Händen.
„Lassen Sie das nur, mein wertester Exbabbo; aber danken Sie gehorsamst Ihren Göttern, daß meine Weltanschauung objektiv genug ist, um Sie wenigstens zu verstehen und deshalb milde gegen Sie sein zu können. Bei Ihrer Ehre, Sie haben nicht gewußt, daß Ihre Enkelin aus bloßem Eigensinn und Trotz unser lustiges Leben so tragisch nehmen würde! Natürlich! Sie waren mit Geschäften überhäuft, Sie hatten das Quadrilatère zu verproviantieren, und Sie wollten eben noch ein letztes Geschäft machen und verrechneten sich ein wenig. Sie dachten mit dem Strohmann zu spielen, und an seiner Stelle setzt sich der Tod an den Tisch; und – nun sage ich Ihnen, bei meiner Ehre, Signor Pantalone, wenn mir etwas unsere Situation in einer eigentümlich fahlen Beleuchtung zeigt, so ist es die Art und Weise, in der mir dieses arme Mädchen den Korb gegeben hat. Es ist Schick darin, mein Bester. Und es ist Schick in diesem alten Herrn vom Blocksberg, diesem gespensterhaften Kavalier aus Thule, der uns alle mit einer Handbewegung über den Haufen wirft und dem ich unbedingt mein Kompliment in jeder Hinsicht zu machen habe. Wahrhaftig, ich bin heute ein guter Freund – hören Sie wohl – ein sehr guter Freund Antonias; aber vor diesem süperben Greise streiche ich gern und willig die Flagge. Sie werden mich verstehen, mein Bester, wenn ich Ihnen wiederhole, daß Fräulein Antonie heute nur einen bessern Freund hat als mich – daß ich mich als ihr Freund behaupten werde und daß Sie bei Ihrem fernern Vorgehen gegen die Signorina dieses wohl im Auge behalten werden; denn ich würde unter Umständen dereinst Rechenschaft über die nächsten Wochen von Ihnen erbitten. Im übrigen empfehle ich mich jetzt. Man hat auf meinen Wunsch im Ministerium des Auswärtigen ausfindig gemacht, daß eine Verstärkung unseres diplomatischen Apparats zu Konstantinopel durch meine bescheidene Persönlichkeit höchst wünschenswert sein werde. Nach den Erfahrungen der letzten Zeit kann mir nur ein längerer Aufenthalt unter einfachern Menschen und in gesunderen sozialen Verhältnissen einigermaßen wieder auf die Beine helfen – ich reise. Addio, mein Teuerer; wir sind unwiderruflich geschlagen und haben uns, jeder in seiner Weise, mit den Siegern abzufinden.“
Der Graf Basilides Conexionsky hatte niemals ein wahreres Wort gesprochen, und der Edle von Haußenbleib hatte noch niemals so scharf mit seinen Gefühlen abzurechnen als in den traurigen Wochen, welche dieser Unterhaltung folgten. –

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump