Abschnitt. 1

Ja, da stand er! – so alt, so kümmerlich, halb blind und tief gebückt, und doch ein Ritter und ein Held, dieser Chevalier Karl Eustach von Glaubigern – wie vielleicht in diesen Tagen die menschenbevölkerte Erde keinen zweiten aufweisen konnte, um damit vor dem milden Auge der Sonne zu prangen und sich zu rühmen!
Es war ein weiter Weg aus dem chinesischen Gartenhäuschen auf der Terrasse zu Krodebeck in die Vorstadt Mariahilf; aber es war ein noch viel weiterer und wunderbarerer Weg aus der müden, schlaftrunkenen, längst wie in sich selber verlorengegangenen Existenz des Greises in diese helle, grelle, wirbelnde gegenwärtige Stunde hinein. Wahrlich lag ein Heroentum sondergleichen in dieser Kraft, mit welcher der alte Mann aus der vergangenen Zeit den Leuten der Gegenwart unter die Augen trat – ein vom Kopf bis zu den Füßen geharnischter Streiter, ein waffenrasselndes Gespenst, das den besten Willen hatte, den Kampf auf Leben und Tod mit den erstaunten und bestürzten Herrschaften aufzunehmen, und welches sich durchaus nicht aus dem goldenen, heiterblauen, vergnüglichen Tage, aus dem hellen Mittage hinweglächeln ließ.
Was der Edle von Haußenbleib auf der Stelle wußte, das ahnten die übrigen bereits im nächsten Moment so bestimmt und deutlich, daß der Herr des Hauses sich jede weitere Erklärung ersparen mochte. Der Graf Basilides Conexionsky wußte ganz genau, was ihm die Ankunft dieses wunderlichen Ritters bedeute; er erschien als der Ruhigste im Kreise, und da wir die Ehre hatten, ihn ziemlich genau kennenzulernen, so wissen wir, daß er auch wirklich vielleicht der Ruhigste war. Er lehnte sich jetzt freundlich-nachdenklich auf den Sessel der schönen Zoe, und um Augen und Mund zwinkerte und zuckte ein gar nicht geheimgehaltenes Ergötzen über die händereibende Verlegenheit seines lieben, teuern, verehrungswürdigen und verehrten Geschäftsfreundes, seines Nonno Teodorico von Haußenbleib, seines babbo carissimo, oder wie er ihn sonst in den Momenten zärtlichster Vertraulichkeit zu nennen beliebte.
Der Edle war in der Tat verlegen und rieb sich wirklich die Hände. Er sprach von der großen Ehre, die ihm und seinem Hause widerfahre, er bat seine Enkelin, sich doch zu fassen und zu beruhigen; er bat mit dem kläglichsten Blick im Kreise umher um Hülfe, und vor allen Dingen wünschte er den Chevalier von Glaubigern, die holde Zoe, die heitere Emanuele, den norddeutschen Krautjunker und – sich selber zu allen Teufeln oder – mit Ausnahme der letzterwähnten Persönlichkeit – in die allerunterste, tiefste und kühlste Kasematte der von ihm so unendlich geliebten und verpflegten Festung Verona.
„Sollen wir gehen?“ flüsterte Emanuele Werdenberg der Freiin von Wanesch zu, und Zoe bewegte leise das Haupt:
„Nein!... Natürlich nicht!“
Sie blieben natürlich, und sie blieben auch nicht die einzigen, welche an diesem seltsamen Morgen dem Edlen von Haußenbleib und seiner Enkelin einen Besuch machten. Es hielten noch mehrere Wagen vor dem Hause, und die Türglocke klang, und Toinette meldete manchen wohlklingenden Namen. Es rauschten Schleppen herein, und Kavaliere von allen Lebensaltern und Stellungen kamen, ihre Glückwünsche zu bringen; die glänzenden, im Sonnenschein tanzenden Wogen stiegen immer höher um den Greis und sein Pflegekind, und beide sahen und hörten nichts mehr von dem, was sie umgab, umflüsterte und in wachsender Verwirrung umdrängte.
Der Ritter von Glaubigern hatte seinen Pflegesohn zurückgeschoben und sich über die Tonie geneigt. Er hatte sie wortlos aufgehoben, und sie hatte die Arme um seinen Nacken geschlungen und hing an ihm, und er war stark genug, sie zu halten und zu stützen. Sie weinte laut und bitterlich, als ob sie beide allein miteinander in einer Wüste gewesen wären. Es war für beide die Zeit vergangen, wo sie auf die Gefühle der Leute um sie her Rücksicht nahmen, den Anstand bewahrten und Furcht hatten, sich lächerlich zu machen. Sie waren ja allein in einer Wüste – allein in der Wüste des Lebens, der Lebendigkeit. Sie fühlten wohl den Boden, den Fels, auf welchem sie standen, unter sich wanken, sie wußten, daß die Wogen um sie her wuchsen, daß das Leben, die Lebendigkeit immer recht behält, sie wußten, daß sie verloren waren, und sie waren doch glücklich und sicher – gerade darum waren sie glücklich und sicher.
Mit zärtlicher, liebkosender Hand streichelte der Ritter von Glaubigern unter den Blicken des Edlen von Haußenbleib, des Grafen Basil, der schönen Damen und des Junkers Hennig von Lauen der Tonie Häußler die Wangen:
„Mein Kind!... Mein liebes, liebes Kind! Da bin ich; ich bleibe bei dir. Sei still, mein Kind.“
„Ich kann nichts sagen! Mein Vater, mein Vater! Und ich habe gedacht, daß niemand mir helfen würde! Mein Freund – mein Vater, wie bin ich nun in Sicherheit! Hab Dank – Dank –“
Sie schloß die Augen und glitt mit einem schweren schmerzlichen Seufzer langsam an der Brust des Greises herab. Der Ritter von Glaubigern sah mit einem wilden, zornigen Blick umher; er schwankte unter der Last, und Tonie würde ihn mit sich zu Boden gezogen haben, wenn jetzt nicht Hennig und die Kammerjungfer beide aufgefaßt hätten.
„Pardon“, sagte der Graf, „das gnädige Fräulein“ – aber er vollendete nicht; der Chevalier winkte ihm zu schweigen, und er schwieg wirklich. Für die übrigen Herren und Damen wurde die Szene allmählich ein wenig peinlich trotz dem Interesse, welches sie so überreichlich darbot. Es wurde leer in dem Salon des Edlen von Haußenbleib, und selbst Zoe von Wanesch und Emanuele Werdenberg nahmen endlich mit Tränen in den Augen und wiederholten heftigen Küssen von der wehrlosen, halb bewußtlosen jungen Freundin Abschied und entrauschten, um mit lebhaftesten Farben und glühender Phantasie das Erlebte weiterzutragen im Kreise der Bekannten und Freunde des Hauses und überall eine lächelnde Verwunderung zu erregen.
Die Nächstbeteiligten fanden sich allein, und mit einem Ton und Ausdruck, den wir bis jetzt noch nie von ihm vernahmen, sprach der Ritter von Glaubigern, die Hand seines Pflegekindes fest in der seinigen und ihr Haupt auf den Kissen des Diwans im Arm haltend:
„Meine Herren, ich habe vielleicht in irgendeiner Weise die Formen des heutigen Tages verfehlt, und ich bitte, das zu entschuldigen. Ich bin sehr alt, um ein bedeutendes älter als der Herr von Häußler, und der Herr von Häußler weiß, aus welchem abgeschlossenen Dasein ich hierherkomme, und wird dem Herrn Grafen gewiß später das Notwendige darüber mitteilen. Ich bitte, Geduld mit mir zu haben; denn ich komme, vieles zu fordern – ein ungeschriebenes Recht, mein Recht an dieses Kind – diese junge Dame.“
Der Graf Basilides verbeugte sich stumm vor dem alten Herrn. Er stand da wie Buffon mit dem Knochen eines vorsintflutlichen Tieres vor sich, und nicht ohne einen geheimen Reiz baute auch er aus der Erscheinung, den ersten Worten und Gesten des Chevaliers eine untergegangene Welt auf. Der Edle aber ergoß sich wiederum in einen Schwall von Worten und konnte doch nicht Worte genug für seine Gefühle finden. Mit der Hand auf dem Herzen versicherte er immer von neuem, daß er sich unendlich geehrt durch diesen Besuch des Herrn von Glaubigern und durch dessen Teilnahme an dem Wohle seiner Familie tief gerührt fühle. Er habe es nie vergessen und werde es nie vergessen, was das berühmte, edle, alte Haus unter den Harzbergen für ihn – den Edlen von Haußenbleib – und seine Enkelin getan habe. Daß das Haus derer von Haußenbleib dem Herrn Leutnant zur unbeschränkten Verfügung stehe, sei so selbstverständlich, daß er hoffentlich darüber kein Wort zu verlieren brauche.
Der Ritter von Glaubigern neigte das Haupt und verwendete diese Verbeugung zu gleicher Zeit mit zu einem kurzen Gruße für Hennig, den er bis jetzt von allen Anwesenden am wenigsten beachtet hatte. Dann sagte er ruhig:
„Ich danke Ihnen, mein Herr von Häußler. Ich werde Ihre Freundlichkeit nicht mißbrauchen. Ich werde niemand ein wirkliches Recht streitig machen; aber auch das meinige wünsche ich mir zu erhalten und bitte deshalb, mein Erscheinen allhier so ernsthaft als möglich zu nehmen. Herr Graf, ich bitte Sie, sich der Vorteile der Jugend nicht überall in unserm Verkehr miteinander zu erinnern.“
„Mein Herr“, sagte der Graf sehr ernsthaft, „ich fühle mich so alt wie Sie, und ich vertrete eine Welt, die nicht jünger ist als die Ihrige. Ich bin mir keines Vorteils gegen Sie bewußt.“
Zitternd faßte die Hand des Mädchens den Arm des Greises fester; aber der Chevalier legte der Tonie seine Hand auf die Stirn und sprach:
„Der Herr Graf hat recht, Tonie, und wir werden freundlich miteinander verkehren und friedlich miteinander auskommen. Liege still, mein Kind! Du liegst wie auf dem Strohlager der Hanne Allmann im Siechenhause zu Krodebeck; – der Schnee fällt draußen – liege still, wir wachen.“
„Herr von Glaubigern, Herr von Glaubigern, ich bitte Sie!“ rief der Edle von Haußenbleib trotz aller seiner Selbstbeherrschung in halber Verzweiflung und sah wie hülferufend auf den Grafen; allein dieser kam ihm keineswegs zu Hülfe, sondern sagte mit einem eigentümlichen Blick auf den Edlen:
„Unsere arme Antonie scheint in der Tat durch die plötzliche und heftige Gemütsbewegung sehr angegriffen worden zu sein. Mein Herr von Glaubigern, ich finde mich plötzlich sowohl dem Fräulein wie Ihnen gegenüber in einer ziemlich verlegenen Stellung. Ach, Antonie, Sie werden nicht an meiner Aufrichtigkeit zweifeln, wenn ich Ihnen sage, daß ich von ganzem Herzen wünsche, daß dieser – dieser Besuch für Sie, für uns alle seinen Zweck erreiche! Wenden Sie sich nicht ab, Antonie; ich habe Ihnen nie einen Grund dazu gegeben, an meiner Ehrlichkeit zu zweifeln, und ich habe Sie mir nur gewonnen, um Sie glücklich zu machen!“
Antonie Häußler schauderte leise, und der Ritter von Glaubigern fühlte, wie ihr ganzer Körper erzitterte.
„Wir haben einander beide sehr erschreckt, das Kind und ich“, sagte der Ritter. „Die Herren sollten uns einen Augenblick allein lassen. Es ist eine Bitte, Herr Graf.“
„Die ich vollständig erklärlich finde und der ich gern und willig Folge leiste, mein verehrter Herr; Sie werden in allen Dingen während Ihres hiesigen Aufenthalts verfügen – in allen Dingen, mein teuerer Herr von Glaubigern; und wo wir einander als Gegner finden, da wollen wir wenigstens mit ehrlichen Waffen kämpfen. Kommen Sie, Haußenbleib.“
Er winkte dem Edlen, und dieser sah zum erstenmal in dieser Geschichte dumm aus, vollendet dumm. Er blickte auf Antonie, er sah auf den Ritter, und er sah sehr fragend auf den Grafen Basil. Aber der letztere zuckte ungeduldig die Achseln und trat leise mit dem Fuße auf. So blieb denn dem Edlen nichts übrig, als dem Winke des Grafen zu folgen.
„Kommen Sie denn, mein lieber junger Freund“, ächzte er, seinen Arm zärtlich in den des Junkers von Lauen schiebend. „Vielleicht ist es wirklich das beste, daß wir den Herrn Ritter und meine Enkelin einige Augenblicke allein lassen.“
Das war der schlimmste Moment, den Hennig je in seinem Leben durchlitt. Zorn, Angst, Selbstvorwürfe ballten sich zu einem Chaos in seiner Brust. Er warf einen ratlosen, hülfeflehenden Blick auf den Chevalier, welcher denselben gänzlich unbeachtet ließ. Betäubt und zerschmettert hatte der Junker den dringenden Nötigungen des einstigen Barbiers von Krodebeck zu folgen, und vor der Tür blieb der Graf Basilides Conexionsky kurz stehen, klopfte den Herrn des Hauses auf die Schulter und sagte sehr kühl und ruhig:
„Babbo Teodorico, ich rate Ihnen herzlich, einen genügenden Vorrat philosophischer Trostgründe einzulegen. Ich hoffe übrigens, daß Sie fest im Auge halten werden, bis zu welcher zarten Nuance des Lächerlichwerdens Sie mich kompromittieren dürfen. Meine Herren, ich habe die Ehre, mich zu empfehlen.“
Hennig war zu betäubt, um ihn aufhalten oder ihm folgen zu können. Der Graf Basilides sagte auf der ersten Treppe: „Maledetto!“, auf der zweiten: „Ah, ah, on n’a pas toutes ses aises en ce monde!“, und als er in der Gasse sein Pferd bestieg, murmelte er: „Das war freilich ein raffinierter Geschmack, sich in eine Sterbende zu verlieben, und noch dazu unter den übrigen lächerlichen Umständen. Da ist es freilich kein Wunder, wenn die Toten am hellen Mittag aufstehen, um das Ihrige in Anspruch zu nehmen!“
Er blickte grimmig an dem Hause hinauf und stieß mit einem slawischen Fluch seinem Pferde die Sporen in die Seiten, daß es hoch aufstieg. So ritt er davon.
„Sie sind alle fort – wir sind allein“, flüsterte der Ritter von Glaubigern, und sein Pflegekind legte das Haupt an seine Brust und küßte seine Hand.
„Wir sind allein, Tonie“, sagte der Ritter. „Aber sie mögen zurückkommen – fürchte dich nicht – wir bleiben zusammen. Hast du wirklich gedacht, daß Krodebeck dich ganz und gar im Stich lassen würde?“
Das junge Mädchen schüttelte den Kopf:
„Ich konnte es mir nicht vorstellen, aber so schön hab ich’s mir doch nicht gedacht! Es war mir immer, als könne ich die Heimat zuletzt doch noch mit meinem Herzen herziehen; aber jetzt ist die Wirklichkeit doch viel wundervoller als jeder Traum, als jeder heiße, weinende Wunsch und Gedanke. Mein Vater, mein einziger Freund, wie hat man Ihr armes Kind gequält! Ist es Ihnen in der Nacht langsam, langsam wie heiße Blutstropfen auf Ihre Seele gefallen? Haben Sie so tief fühlen müssen, wie ich mich nach Ihnen sehnte, daß auch Sie keine Ruhe mehr in der Heimat hatten, daß Sie einen so weiten, weiten Weg kommen mußten, um mir zu helfen, um mir Ruhe und Erlösung zu bringen in meiner Not?“
„Freilich, freilich hab ich das, und der Hennig hat geschrieben, und es war schlecht bestellt um unsere Ruhe und Freude dort oben. Von dem weiten Wege habe ich nichts gespürt. Da richtet das arme, gemeine Volk, auf seinen Wegen übers Meer in fremde Wildnisse hinein, größere Wunder aus! Lache mich nicht aus, Tonie; ich bin noch sehr jung, und die Reise hat mich noch jünger gemacht; – wenn wir beiden zusammenhalten, können wir es noch mit vielen Leuten aufnehmen. Und höre – ich bringe die allerschönsten Grüße von Krodebeck, dem alten Hause, deinem Gärtchen und dem Fräulein Adelaide, von der Jane Warwolf – ja, die läßt dich tausendmal grüßen – und hundert andern Leuten und Dingen, welche allesamt eine große Sehnsucht nach ihrer kleinen Wiener Freundin haben und sie auf das feurigste zu sich zurückwünschen.“
„Sie werden mich nicht wiedersehen“, sagte Antonie Häußler. „Für die Hoffnung ist es zu spät; aber ich bin so glücklich, so glücklich in der Gegenwart, daß die über alle Träume und Hoffnungen geht.“
„Kind, Kind, das dürfte ich sagen; aber nicht du, mein liebes Kind!“ rief der Chevalier.
„Doch, mein Vater, ich darf es auch sagen, denn es ist die Wahrheit, und gerade in dieser Wahrheit bin ich ruhig und glücklich und verlange nichts mehr. Die Heimat wird mich nicht wiedersehen; aber sie hat mir ihren liebsten Abgesandten geschickt, und der soll ihr nachher von meiner Liebe und Dankbarkeit erzählen.“
„Nachher, nachher!“ murmelte der Greis. „Nachher ist ein Wort, das für fünfundsiebenzig Lebensjahre und diesen kahlen Schädel nicht mehr paßt, von einem solchen jungen Munde gesprochen.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump