Dreizehntes Kapitel.

Die Frau Adelheid von Lauen war eine kluge Frau, und wer das bisher nicht merkte, dem wird kaum zu helfen sein. Sie war vielleicht das klügste Weib auf viele Meilen in der Runde, jedenfalls aber sämtlichen Bewohnerinnen Krodebecks und des Lauenhofes doppelt gewachsen in Hinsicht auf Verstand und den guten Willen, bemeldeten Verstand zu gebrauchen. Wenn wir sie nicht stets und überall zuerst hervortreten und frisch ihre Meinung sagen ließen, so handelten wir dabei ganz nach ihrem Sinne; denn sie pflegte im Leben keineswegs eher auf der Bühne zu erscheinen, als bis es Zeit und ihr Stichwort gefallen war. War dann aber ihre Zeit wirklich gekommen, so kannte sie jedesmal ihre Rolle durch und durch, griff munter und tapfer mit beiden Händen in die jedesmalige Komödie oder Tragödie des Tages ein und wußte Hindernisse, vor denen andere Leute ratlos stillstanden, ungemein schnell aus dem Wege zu räumen.
So hatte sie nun auch die Erziehung ihres Kindes den beiden alten Hausfreunden überlassen, ohne die daraus hervorgehenden Unzukömmlichkeiten anders als von Zeit zu Zeit durch eine vergnügte Bemerkung zu rügen. Nun hielt sie diese mehr oder minder segensreiche Epoche der Entwickelung ihres Junkers für abgeschlossen, und daß der Ritter von Glaubigern darin mit ihr übereinstimmte, trug nichts zur Befestigung ihrer Ansichten bei, aber war ihr doch in hohem Grade angenehm. Die Summe ihrer Meinungen hatte sie wahrscheinlich am vorigen Abend während der Jagd auf das nützliche, fette, aber felone Borstenvieh gefunden, hatte die Sache zuguterletzt noch einmal beschlafen und war jetzt gekommen, um in dem Siechenhause von Krodebeck unter Gegenzeichnung von Hanne Allmann das Siegel unter ihre Entschlüsse zu drücken. Die gnädige Frau hatte keine bessere Gevatterin, um eine längere Gedankenreihe vor ihr zu rekapitulieren, als die Alte im Armenhause. Daß dann für das Kind der schönen Marie auch einiges dabei abfiel, war sehr natürlich; übrigens müssen nicht selten die Hauptpersonen im bunten Erdengewühl sich mit dem begnügen, was beiläufig für sie abfällt, – sie sind nicht immer daran gewöhnt, daß der Tag sich viel um sie kümmere.
Die Witterung und die Gesundheit waren besprochen, einige interessante Dorfgeschichten kurz und gut zurechtgerückt, und die gnädige Frau holte jetzt mit einem hellen suchenden Blick und bedeutsamen Wink den Sohn aus dem Ofenwinkel hervor und sagte:
„Hanne Allmann, wir kennen uns jetzt lange genug, um zu wissen, was wir voneinander zu halten haben. Du bist eine kluge Frau und hast mir schon manchen guten Rat gegeben, also unbeschadet dessen, was meine eigene Meinung ist, sage mir, was fange ich mit meinem Jungen da an?“
„O gnädige Frau“, sprach die Alte, ohne sich im geringsten zu besinnen, „wenn es mein Junge wäre, so täte ich ihn ganz gewiß um Ostern künftigen Jahres weg vom Hofe.“
Der Junker Hennig sperrte wieder einmal den Mund auf und bereitete sich zu einem dumpfen Jammergeheul vor. Die Idee, daß man ihn vom Hofe „weg“ und irgendwo „hin tun“ könne und unter Umständen werde, erschien ihm im hohen Grade ungemütlich und bedrohlich.
„Ich täte ihn auf Schulen; er ist nichts nütze mehr allhier“, fuhr Hanne Allmann fort.
„Sieh, das wollte ich nur hören, Hanne!“ rief die Frau Adelheid. „Wenn zwei verständige Leute wie wir dasselbe denken und der Herr von Glaubigern auch nichts dagegen einwendet, so kann man abwarten, wie sich die übrige Menschheit dazu stellt, und weiß, worauf man sich beruft, wenn andere Leute anderer Meinung sind. Das wäre also abgemacht. Munter!“
Mit einer frei und sicher einen Kreis, sozusagen in das Universum hinein beschreibenden Handbewegung schien das Geschick des Junkers in der Tat abgemacht zu sein; aber dieselbe Hand, welche diesen Kreis in die Luft gezogen hatte, griff jetzt noch weiter, zog die kleine Antonie Häußler hinter dem Rücken des Knaben hervor und stellte sie in das letzte Licht des scheidenden Tages.
„Und nun zu dieser, Hanne. Auch darüber hab ich längst mit dir reden wollen; aber du weißt ja, wie es auf dem Hofe zugeht, wie unsereins bei Tag und Nacht in seinen Knochen und Gedanken zusammengeschüttelt wird und wie man vor allen Sorgen und Dummheiten kaum am Sonntag in der Kirche zu einem ruhigen Augenblick und vernünftigen Nachdenken kommt. Da hast du’s besser als wir alle, Hanne Allmann; dir summt dein Leben jetzo hin wie dein Spinnrad da; dir springt niemand mit beiden Füßen in deinen stillen Tag, und wenn dir einmal ein Faden reißt, so ist’s ein Ereignis für dich. Aber davon wollten wir nicht sprechen, sondern von dem Kinde. Du handelst brav an ihm – es sieht ganz menschlich aus; – ich möchte dir gern helfen, alte Sünden und altes Elend gutzumachen; aber das weiß ich eben nicht, ob du mich schon jetzt dazu gebrauchen kannst. Wie ist es mit dem Kinde? Wie hat es sich? Und vor allen Dingen, was fangen wir mit ihm an?“
Die alte Frau rieb hastig die Hände im Schoß aneinander und sah mit den wunderlichsten Augen von Tonie Häußler auf die Frau von Lauen.
„Gnädige Frau“, sagte sie sodann leise, „ich lebe über ein Menschenalter unter diesem Dache, und ich will nichts Nachteiliges darüber sagen; aber es ist ein kurioses Dach, und allerlei habe ich darunter sehen und hören und fühlen können, was kaum ein anderer Mensch ausgehalten hätte, und Sie hat recht, Gnädige, je weniger man darüber spricht und spintisiert, desto besser ist’s. Doch von diesem Kinde muß man freilich sprechen; denn das ist wie aus einem fremden, fremden Land unter das Dach gekommen, und nun leben wir miteinander, es und ich, und wissen nicht Bescheid umeinander und müssen uns zu jeder Stunde übereinander verwundern. Ach, gnädige Frau, das muß ein sehr kluger Mensch sein, der hier Bescheid weiß; ich aber sehe es des Nachts im Traum mit zwei goldenen Flügeln, und am Tage ist’s doch nur ein Bettlerkind und das Kind der Marie Häußler; ich bin zu dumm, um klug daraus zu werden. Weiß Sie, Gnädige, manchmal fürchte ich mich mehr vor dem Kinde, als ich mich sonsten vor irgendeinem Menschen hier im Siechenhause gefürchtet habe; aber lassen kann ich nicht mehr von ihm, und wenn man mir es nähme, so wär’s mein Tod. Komm, Tonie, laß die gnädige Frau in deine Augen gucken; der Herr Ritter hat das schon häufig getan und hat jedesmal den Kopf geschüttelt.“
„Und gesagt hat er nichts?“ fragte die Frau Adelheid.
„Freilich hat er manches gesagt; aber davon habe ich nichts verstanden. Er hat von Wundern gesprochen, die täglich auf Erden geschähen und von niemand begriffen würden. Er hat auch von der Schönheit gesprochen, die komme, ohne daß man wisse woher und wozu, da doch niemand nach ihr verlange, als um sie zu schänden und zu ruinieren. Zuletzt hat er mich gefragt, ob ich wissen könne, wie diese jungen Augen auf dem Totenbett dreinsehen würden; aber, Gnädige, das muß Sie doch selber sagen: im Siechenhause zu Krodebeck sollte man solche Fragen nicht stellen!“
„Mit dir kann man vielerlei aufs Tapet bringen, Hanne Allmann; also ziere dich nicht. Und daß ich hier sitze, um Rat mit dir zu halten, das ist wohl auch kein kleines Zeichen davon, daß man dich für eine gescheite Person hält. Was du freilich hier eben durcheinanderworfelst, das verstehe ich auch nicht; aber deinen Willen sollst du haben. Komm her, Kleine; zeig mir deine Augen, Mädchen, und fürchte dich nicht, ich reiße dir den Hals nicht ab.“
Die Kleine sträubte sich zwar im ersten Schrecken ein wenig gegen den festen Griff der Gnädigen; allein das ging blitzschnell vorüber; schon im nächsten Augenblick sah sie nicht mehr aus, als ob sie sich vor irgend etwas in der Welt fürchte, und was ihre Augen anbetraf, so öffnete sie dieselben womöglich noch weiter als sonst, und tapfer ließ sie sich hineinblicken.
„Es ist ihre Mutter, wie sie leibt und lebt!“ rief die Frau Adelheid. „O Frölen! Frölen! Frölen Adelaide!... Seht doch die kleine Hexe –“
Die alte Bewohnerin des Siechenhauses zupfte ängstlich die Lehnsherrin am Rock und legte bittend den Finger auf den Mund. Die gnädige Frau wendete sich schnell zu ihr und sagte:
„Du hast recht, Hanne Allmann, es ist nicht gut, alte böse Dinge aufzurühren, wenn niemand es verlangt und nichts dadurch verbessert wird. Und du hast weiter recht, und der Chevalier hat gleichfalls recht: die Augen sind wunderlich und kommen nicht zum zweitenmal in Krodebeck vor, und vielleicht ist das ein Glück. Da sollte man freilich meinen, das winzige Ding habe mehr erlebt als das ganze Dorf seit hundert Jahren; – da sollte man es wirklich fragen, ob es vor hundert Jahren schon einmal vorhanden gewesen sei und heute durch die Augen davon erzähle –“
„Grad wie das liebe Vieh!“ sagte Hanne Allmann ernst und tiefsinnig.
„Ich schicke dir dein Teil von der frischen Wurst, Hanne!“ rief die Gnädige, ihre Begriffe seltsam, aber ganz regelrecht aneinanderhängend. „Jetzt gehe, Kind, und spiele; das ist das beste für dich. Du gefällst mir recht gut, trotz deiner Augen. Sei brav und fürchte dich nicht; wir wollen trotz allem als Christenmenschen an dir handeln.“
„Ich fürchte mich nicht“, sagte Tonie Häußler; „nicht einmal in der Schule und in der Kirche.“
Die beiden Frauen sahen sich ziemlich betroffen an; Hanne Allmann aber sagte schnell:
„Das hat seinen Grund, Gnädige, und ich will nachher noch ein Wort darüber sagen. Sonst aber ist das Kind wirklich ein gutes Kind, und wir haben schon unsern Trost aneinander gefunden. Nicht wahr, Tonie?“
Statt aller Antwort drängte sich das kleine Mädchen dicht an die greise Pflegemutter heran und umfaßte sie zärtlich. Dies Beispiel wirkte, und der Junker von Lauen schmiegte sich gleichfalls an seine Mutter, welche, obgleich sie sonst für überflüssige, unnötige Zärtlichkeitsbeweise wenig Sinn und noch weniger Zeit hatte, es diesmal ganz gutmütig duldete und freundlich dem Sohne die Haare aus der Stirn strich. Der Tag war vergangen, die schwarzen Wände des Siechenhauses und die schwarze niedere Decke drückten schwer das Herz zusammen, und selbst die muntere, helle Frau Adelheid von Lauen fühlte sich ganz schwermütig und bänglich gestimmt. Sie sah sich um in dem traurigen Raume und sagte:
„Es ist nicht meine Schuld, daß du hier sitzest, Hanne. Du weißt, wie oft ich dich herausnehmen wollte, seit ich das Regiment führe; aber einem Trotzkopf wie dir rückt die ganze preußische Armee den Kopf nicht zurecht.“
„Es ist aber doch auch nicht meine Schuld“, sprach die Greisin mit rührender Einfachheit. „Als Ihr noch ein jung Mädel auf Eures Vaters Hof waret, da habe ich freilich bei Tag und Nacht die Hände gerungen nach einem, der mich aus meinem Jammer erlöse; doch es ist schon manches Jahr seit der Zeit gegangen und gekommen. Nun ist es lange, lange zu spät, mich anders aus dem Hause herauszunehmen als im Sarge. Ich bin hineingewachsen in das Haus. Also, gnädige Frau, lasse Sie mich darin; aber nachher – Sie weiß: nachher! Nachher hole Sie sich das Kind heraus, und verdiene Sie sich einen Gotteslohn, ohne sich um die Welt zu kümmern. Die schöne Marie wird bald vergessen sein, also ist wenig Gefahr und Schande dabei vorhanden. Verdiene Sie sich einen Kranz, liebe Frau, um uns Weiber, und nehme Sie eins von uns in die Höhe, und lasse Sie sich vom Herrn Ritter von Glaubigern dabei raten; dann kann ein gut und edel Werk daraus werden und der Lauenhof große Ehre davon haben.“
Die Frau von Lauen strich noch immer ihrem Sohn mechanisch über die wirren Haare; jetzt nickte sie ins Weite und sagte:
„Jaja, Junge, wir Weiber haben sicher unsere schwere Not, und es wäre wohl zu wünschen, daß sich eines des andern annähme. Ich denke, ich habe es gut gehabt, sowohl in meines Vaters Hause wie unter deines seligen Vaters Zucht, Junge; aber das weiß doch keiner auszusagen, wie schwer es uns gemacht wird, uns durch die Welt zu schlagen und uns stramm und fest so zu halten, daß die Welt uns nicht nach ihrem Sinn als Spielzeug behandele. Halt den Schnabel, dummer Junge; denn das verstehst du nicht!“
„Ich sage ja gar nichts!“ winselte der Junker, der „das“ in der Tat nicht verstand; denn vergeblich mochte er sich wohl auf den kühnen Gesellen besinnen, der es gewagt haben konnte, seine Frau Mutter als Spielzeug zu behandeln. Es fiel ihm nur ein der Landwirtschaft sich als Volontär widmender junger Herr von Waschewitz ein; doch der konnte nicht als Exemplum gelten; denn nach dem ersten schwachen Versuch, seine Lebensanschauungen der gnädigen Frau gegenüber geltend zu machen, hatte er schleunigst den Lauenhof verlassen und sich seines Versuchs nimmer gerühmt.
„Du sollst kein vergebliches Wort geredet haben, Hanne Allmann“, sprach die Gnädige, sich erhebend. „Das muß ich aber sagen, wenn es einem Menschen gegeben ist, mir das Herz schwer zu machen, so bist du’s, Hanne. Da sollte man sich ja wahrhaftig nach dem Frölen Trine sehnen! Hier hast du meine Hand darauf, Alte: der Lauenhof soll für das Kind der Marie eintreten, wenn du deine Vollmacht abgegeben hast, und der hochlöbliche Gemeinderat samt dem Gevatter Klodenberg werden sich hüten, mir dreinzuräsonieren. Übrigens hoffe ich, du wirst mir noch lange zum Trost in solchen Dämmerstunden wie heute dienen, und du sollst mir doch in Anbetracht dieses erlauben, dir auch jetzt schon ein wenig mehr zu helfen.“
„Es ist mir wirklich nichts nütz, Gnädige, und dem Kinde wäre es jetzo noch weniger nütz. Sie tut schon übergenug an uns, Fraue, und wenn ich mehr von Eurer Güte brauche, so schicke ich das Kind. Jetzt bleib drin, Tonie; das letzte Wörtlein sage ich der gnädigen Frau draußen.“
Auch die Alte erhob sich von ihrem Schemel und begleitete die Frau Adelheid und den Junker von Lauen vor die Tür ihrer Hütte. Hier sprach sie:
„Darum wollte ich Sie bitten, Fraue, legt ein gut Wort ein beim Schulmeister für die Antonie, daß er die andern Kinder mehr von ihr zurückhalte; das Elend begreift keiner, dem nicht tagtäglich unter diesem Dache mit Tränen davon vorgesungen wird. Und wenn Sie sich auch an den Herrn Pastor wagen will, so –“
„Ja, ich wage mich daran, und es soll alles besorgt werden, wie du es wünschest, Hanne!“ rief die Frau Adelheid. „Du kannst das übrige für dich behalten; es wird mir ein Pläsier sein, den Herren deine Meinung nach meiner Melodie vorzugeigen.“
„Mache Sie es nicht zu arg“, sagte die Alte lächelnd, „hätt ich solche Musik gewollt, so hätt ich die Jane Warwolf geschickt.“
„Keine Sorge, Hanne!“ sprach die gnädige Frau mit großer Würde. „Ich weiß mit der hohen Geistlichkeit umzugehen, sowohl vor als nach Tisch. Guten Abend, Hanne, – also fürs erste wäre alles zwischen uns wieder in Ordnung.“
Sie hielt noch immer ihren Sohn am Oberarm; jetzt faßte sie ihn fester und führte ihn ab, tapfer durch den Schmutz der Landstraße, den väterlichen Laren und Penaten zu.
Unter dem Tor des Lauenhofes sprach sie:
„Junge, Junge, was machst du für ein Gesicht? Es werden jedermann zu seiner Zeit die Koffer gepackt, und du Narr wirst keine Ausnahme machen wollen; – schäme dich! Übrigens – bei besserer Überlegung brauchst du heut abend dem Fräulein Adelaide noch nichts von deinem jämmerlichen Schicksal zu sagen. Wenn erst der Metzger vom Hofe ist, paßt die Zeit besser zu allen freundschaftlichen Erörterungen, und man hat seine Gedanken mehr beisammen, um auf nichtsnutzige Einwendungen und unangenehme Tränenfluten dienen zu können.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump