Zwölftes Kapitel.

Ein Gehirn, in welchem Tonie Häußler und der Herzog Wittekind, der Professor Amos Comenius und Fräulein Adelaide von Saint-Trouin, Louis XV. und Madam Scrofa aus Krodebeck zugleich mit Jane Warwolf aus Hüttenrode, dem Ritter von Glaubigern und der gestrengen Frau Adelheid einen Tanz aufführen, soll wohl wirr und müde werden! Auf das Gezappel und Geschwirr von Figuren und Stimmen folgte das dunkle, unermeßliche, raum- und zeitlose Nichts, und dann war es plötzlich wieder Morgen für den Junker von Lauen, und ein neuer Tag seines Daseins hatte unter veränderten Aspekten begonnen.
Die große Hausglocke des Lauenhofes machte allem Spuk der Nacht ein Ende. Früher als sonst war Meister Hennig aus den Federn und in den Kleidern und suchte sofort die Frau Jane in der Gesindestube auf, um die frischgeschlossene Freundschaft nicht erkalten zu lassen. Die Warwölfin begrüßte ihn aufs höflichste und erkundigte sich teilnehmend nach seinem Befinden überhaupt, aber vorzüglich, wie ihm das kalte Bad des vorigen Tages bekommen sei. Er bezeigte jetzt einige Lust zu renommieren und sich als Held aufzuspielen, doch da kam er an die Unrechte und wurde an der Nase auf den richtigen Standpunkt zurückgeführt, ohne daß jedoch die Freundschaft darunter litt. Nachher begleitete er die wandernde Frau bis an das Hoftor und sah sie durch den immer noch fortdauernden Regen abmarschieren, dem Siechenhause zu, und sah ihr dumm mit offenem Munde nach, bis die liebliche helle Stimme Fräulein Adelaides ihn zum Frühstück rief und an die nahende französische Lektion mahnte. Das Frühstück ging vorüber, ohne daß weiter nach den Vorgängen des vergangenen Nachmittags gefragt wurde; die französische Stunde nahm ihren Anfang.
Mit dem Glockenschlage winkte die Chevalière mit spitzem Zeigefinger über ihre Tasse und den Tisch weg, erhob sich langsam mit einem würdigen Rundgruß an alle Tischgenossen und ergriff die Schulter des noch dämischer und grämlicher als gewöhnlich aussehenden Hennig. Widerwillig erhob auch er sich und folgte der grausigen Notwendigkeit – verstockt, giftig und doch dem Weinen nah folgte er ihr treppauf, und die Tür der weisen und strengen jungfräulichen Lehrmeisterin öffnete sich vor ihm, verschlang ihn und schloß sich. Adelaide hatte ihn – es war keine Rettung mehr für ihn vorhanden, und unaufgefordert ließ er alle Hoffnung draußen.
Draußen vor den angehauchten Fensterscheiben mischten sich die ersten Schneeflocken des Winters in den Regen. Lieblich duftete in den Fensterbänken die altjungferliche Blume, das Geranium, und Peccadillo suchte seinen gewohnten Platz in der Sofaecke und setzte sich bequem hin, um die kommenden Erörterungen zu notieren. Auf den Kupferstichen an der Wand schwuren die Gardedukorps im Ballsaal und sangen „O Richard, o mon roi“ – beschäftigte sich Marie Antoinette zu Trianon mit Menschenliebe und Kindererziehung – stieg der Sohn des heiligen Ludwig zum Himmel empor, während der Flegel Santerre die Trommeln rühren ließ, um die Rührung der neugierigen Pariser in der Geburt zu ersticken. Es war sehr warm und altjungferlich behaglich in dem Zimmer der Erbin Johanns von Brienne. Die närrischen Blumen und Vögel auf den Stuhllehnen und Kissen, die vergilbten Zeichnungen des Grafen von Pardiac über der Kommode, der dicke wackelköpfige Chinese auf derselben, der Spiegel im Rokokorahmen, in den Vasen die Sträuße künstlicher Blumen, die Potpourrivase auf dem Rokokoschrank – alles dies konnte nicht netter und behaglicher sein, und auf nichts in der Welt blickte der Junker von Lauen in seiner jetzigen Seelenstimmung mit solchem Verdruß als auf alles dieses. Freilich an und für sich war jedes Ding freundlich genug, wenn sich nur von jedem Dinge das Fräulein von Saint-Trouin hätte trennen lassen! Aber hier saß sie in ihrem Reich, und kein oströmischer Kaiser, kein Johanniter-Großmeister von Rhodus oder Malta blickte je saurer von seinem Stuhl auf einen abzuurteilenden Verbrecher als Adelaide anjetzo auf den Junker Hennig.
„Hennig“, sagte sie, „Hennig, Hennig, ich habe die ganze Nacht kein Auge geschlossen, und der Kummer – der Kummer um dich ließ mich nicht schlafen.“
„Frölen Trine –“
„Wieder ein Dolchstoß!“ ächzte das Fräulein. „Kind, Kind, du treibst mich zur Verzweiflung; – du bringst mich dahin, auch an dir zu verzweifeln, an dir, welcher mich bis jetzt allein noch an dieses kummervolle, arme, verachtete Dasein gefesselt hat! Hennig, du bist ein abscheulicher Taugenichts, und ich werde zu den strengsten Mitteln greifen, um dich auf den Pfaden des Anstandes und der Selbstachtung zu erhalten. Ist denn alles, alles vergebens gewesen? Habe ich wirklich diese ganzen Jahre hindurch diesen täglichen, stündlichen Kampf um dich gegen all diese schädlichen Einwirkungen – ich könnte viele derselben nennen! – vergeblich kämpfen müssen?... Und welchen Mächten soll ich unterliegen? Ich will nicht reden von den Einflüssen, die in nächster Nähe wirken, – ich will dich nur fragen, mein Sohn, um welche Gesellschaft du gestern nachmittag die meinige vertauscht hast?... Hélas, du antwortest nicht, du saugst an dem Daumen, welches gleichfalls ein Horreur ist, – du weißt keine Antwort. Stelle dich auf beide Füße, mein Kind; es ist anständiger; ja, gebrauch nur dein Mouchoir, es ist freilich nützlich, jedoch zu Tränen wirst du dich dadurch wohl nicht zwingen –“
„Ich zwinge mich auch nicht, ich schneuze mich, und was ich gestern getan habe, das tut jeder ordentliche Junge jeden Tag, und ich will auch ein ordentlicher Junge sein, und Tonie gefällt mir recht gut, und ich habe ihr versprochen, jeden Jungen durchzuprügeln, der sie nur schief ansieht. Und Frölen, ich weiß gar nicht, was Sie wollen, und ich weiß gar nicht, wenn Sie mich spazierenführen, weshalb ich immer anhören soll, daß die Welt so schlecht sei, und daß es besser wäre, man stürbe, und daß alle Leute nur alle Leute nicht erkennten und alle Leute alle Leute nur verachteten und kein Adel mehr sei und hier auf dem Hofe gar nicht, und daß es sonst besser war und nur immer schlechter würde, und, was schrecklich ist, daß ich der Beste werden soll und alles wiedergutmachen soll, und gar keinen Spaß für mich allein haben soll und nur alles soll, was ich nicht mag, was gar zu schrecklich und langweilig ist, huhi, huhi – hihihi!“
Der Junker, von seinen Gefühlen überwältigt, heulte gradhinaus, Peccadillo, steif auf alle viere sich stellend, bellte. Das Fräulein aber, aus allen Illusionen und Idealen hinausgeschlagen, sah das Tabernakel in ihrem Herzen von einem Steinwurf zertrümmert, sah bleich, wortlos und als ob ihr übel werde, auf den Junker, lehnte sich zurück auf ihrem Stuhle und wies mit matter Hand auf das Lehrmaterial auf dem Tische und keuchte tonlos:
„Wir wollen fortfahren, wo wir gestern morgen stehengeblieben!“
Sie fuhren fort; jedoch nicht, wie sie aufgehört hatten. Es lag zuviel zwischen dem gestrigen Tage und dem heutigen. Wohl machte die treffliche Dame Adelaide Klotilde Paula von Pardiac und Valcroissant dem schäbigen neunzehnten Jahrhundert noch immer Filet unter der Nase; aber die Nadel, mit welcher sie von Zeit zu Zeit ihrem verstockten heimtückischen Zögling auf den Blättern seines Buches den Weg andeutete, zitterte und verlor selber den Weg. Seinen eigenen Weg fand Hennig schon allein durch die Porzellanpalmenwälder und Biskuitwildnisse des Monsieur Bernhardin de Saint-Pierre; und ob es auf Isle-de-France regnete oder auf Krodebeck und das Kuckelrucksholz, war ganz einerlei. Übrigens war der Paul doch gar zu weise und dumm, und der Unterrock Virginiens stammte unzweifelhaft ebenfalls aus der berühmten Fabrik von Sèvres, und es war eine ganz andere und viel lebendigere Sache, mit Tonie Häußler dem Chevalier und der Chevalière durchzugehen, den Meister Reineke in seinem eigenen Hauswesen aufzusuchen und im Sturm und Unwetter mit Jane Warwolf heimzukommen!
Als die alte schwarze Wanduhr auf dem Hausflur, welche dem braven Herrenhause durch so manchen bösen und guten Tag geholfen hatte, abermals die Stunde schlug, erwachten beide, Schüler und Lehrerin, aus einem tiefen Traum; doch jeder hatte etwas anderes geträumt, und als sich Hennig ein wenig schwankend erhob, um sich zu dem Ritter von Glaubigern zur zweiten Lektion zu begeben, erhob sich auch das Fräulein und sprach lemurenhaft:
„Was geschehen müßte, um mir und dir zu helfen, weiß ich nicht, mein Sohn; aber es müßte etwas geschehen, es müßte etwas geschehen, es müßte in der Tat etwas geschehen!“
Damit sank sie mit geschlossenen Augen von neuem zurück, und schleunigst nahm der Junker von Lauen Reißaus im panischen Schrecken vor dem unheimlichen Etwas, welches unbedingt geschehen mußte und welches nur augenblicklich noch der Schleier der Zukunft deckte.
Im vollen Galopp durchmaß Hennig den Korridor, stolperte und fiel zuerst gegen die Tür des Ritters und sodann in das Zimmer desselben, daß der gute, alte Herr ganz entsetzt auffuhr:
„Lümmel, ist dieses die Art, bei anständigen Leuten einzutreten?“
„Ich kann nichts dafür, Herr von Glaubigern“, winselte der Knabe. „Sie hat mir nachgesehen wie ein Gespenst. Ich habe mich gefürchtet; denn es muß etwas geschehen, sie weiß nur noch nicht, was. O Herr Ritter, ich hab geglaubt, sie ist hinter mir her, und ich habe mich so sehr gefürchtet!“
Der Chevalier griff stumm nach dem Handgelenk des Knaben, fühlte ihm den Puls, schüttelte das würdige Haupt und murmelte:
„Es ist die allerhöchste Zeit, daß dieses ein Ende nehme. Junge, bist du auf dem Lande aufgewachsen? Bist du ein Lauen? Bist du wirklich ein Sprößling jenes Lauen, welchen der gelahrte Hauspfaff als Hilmar Allantophilos in die Hauschronik eingetragen hat, daß ganze ungelehrte Generationen sich den Kopf über das grausame griechische Wort zerbrechen mußten, bis ich herauskriegte, daß es Wurstfreund hieß... Was ist geschehen, und was muß geschehen, du Narr?“
„Weil ich gestern dem Herrn Ritter und dem Frölen Trine weggelaufen bin, muß etwas geschehen!“ schluchzte Hennig. „Und weil ich in schlechte Gesellschaft geraten bin! Und weil ich der Beste in der ganzen Welt werden soll, und weil sich alle meine Großväter im Grabe umdrehen, wenn sie an mich denken, was noch das wenigste wäre, wenn sich nicht Frölen Trines Großväter alle miteinander mitdrehten!“
„Ei, ei, ei!“ murmelte der Chevalier.
„Ja, und es wird mir zuletzt alles einerlei, und ich will’s nur gestehen, Herr Ritter; ich habe gesagt: ich wäre schon so gut genug für mich, wenn man mich nur in Frieden ließe, und der Beste könnte ich in meinem ganzen Leben nicht werden und hätte auch keine Lust dazu, und der Herr Leutnant von Glaubigern wäre ja da, und wenn einmal die Welt absolut umgedreht werden müßte, so könnte der das allein tun, und mich brauche er ganz gewiß nicht dazu!“
„Hm, hm!“ machte der Chevalier, nahm eine sehr lange Prise und stand in seinem weißen, reinlichen Hausrock, dem wohlgefältelten Busenstreif, seinen hellgrauen Pantoffeln und seinem hellgrauen Hauskäppchen mit dem hellblauen Quast in der Tat wie ein Heros da, der aus höherer Region herniederstieg, um diese schlechte Erdenwelt in ihre Fugen wieder einzurenken; allein ziemlich verlegen erschien er dessenungeachtet. Wie dem heiligen Markus der Löwe, so strich ihm Mystax, sein Kater, um die Beine; er faßte den Schnurrenden am Genick, nahm ihn unter den Arm und sprach:
„Mein Sohn Hennig, das einzige, was ich dem soeben von dir hervorgebrachten Unsinn entnehme, ist, daß du gegenwärtig durchaus nicht fähig bist, dich den Musen mit der ihnen zukommenden stillen und feierlichen Subordination zu widmen. Hm, hm, ich halte es für besser, den Eutropium heute nicht hervorzulangen, und was Gatterers Abriß der Heraldik betreffen möchte, so wollen wir auch den dahin gestellt sein lassen, wo er steht. Mein Sohn Hennig, ich hätte mancherlei zu bemerken; allein da du doch nur das wenigste davon begreifen würdest, so mache ich dich nur auf den lustigen Schnee da draußen aufmerksam und rate dir, dich auf der Stelle zu trollen, das heißt aus der Tür zu scheren und mir höchstens in den Essensstunden wieder vor die Augen zu kommen.“
Mit großen Augen und weit offenem Munde starrte der Knabe den wackern Lehrmeister an.
„Ich soll allein laufen? Ohne Sie und – ohne das Fräulein?“ stammelte er.
Der Ritter neigte das Haupt.
„Wenn ich aus der Haustür gehe, so ruft – sie mich um! Nachher sitze ich wieder da, und es ist alles zu Ende.“
„Ei, Mystax, Mystax, gutes Tier“, sprach leise der Ritter zu seinem Kater, indem er ihm zärtlich den Pelz streichelte. „Das Haus hat auch eine Hinterpforte, nicht wahr, Mystax? Ei, ei, Mystax, gutes Tier!“
Es war unmöglich, daß der Junker von Lauen Augen und Mund noch weiter aufreißen konnte. Mit einem Male drehte er sich auf den Hacken, stürzte aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu, daß der Helm, der Brustharnisch und der Kürassiersäbel von Ligny an der Wand klirrten.
Es roch auch in dem Gemache des Leutnants von Glaubigern ein wenig altjungferlich; allein es herrschte noch ein anderer Duft darin, der sich freilich schwer bestimmen ließ.
„Ei, ei, ei“, sagte der Ritter von Glaubigern, ans Fenster tretend, „sie wäre imstande, auch mich umzurufen, wenn ich aus der Haupttür ginge und nicht die Hinterpforte benutzte!“
Es würde uns zu weit führen, wenn wir den Junker von Lauen auf allen seinen Wegen bis zur Mittagsstunde begleiteten. Als die Eßglocke erklang, erschien er pünktlich; aber selbst in diesen wenigen Stunden, die verflossen waren, seit ihn das Fräulein kummervoll entließ, hatte er die bedauerlichsten Fortschritte zum Schlimmern gemacht. Mit herzzerreißender Wehmut betrachtete ihn das Fräulein, als er über seinen Teller herfiel. Sein Gemüt schien noch verstockter geworden zu sein; sein Äußeres war jedenfalls schmutziger geworden, seine Ausdrucksweise plebejischer oder, wie Adelaide es bezeichnete, – volkstümlicher. Er bezeigte weder als Christ noch als Edelmann Reue, daß er gestern allen höheren, reineren, tugendhafteren, heiligeren Gesinnungen durch die Lappen gegangen war, und nur, wenn es Art der Menschheit wäre, Buße durch erhöhte Gefräßigkeit zu tun, hätte er einige Hoffnung für die Zukunft gegeben.
Nach aufgehobener Tafel fühlte sich das Fräulein zu schwach, um den Kampf um diese verlorene Seele mit den bösen Mächten von neuem aufzunehmen, tief gebeugt und halb gebrochen zog es sich zur Mittagsruhe zurück; der Ritter hatte noch eine halb heitere und halb ernste Unterredung mit der gnädigen Frau, und der Junker ging abermals seiner Wege, ohne daß ihm jemand dieselben verlegte. Auch dieses Mal trauete er dem Dinge noch nicht und verließ, vorsichtig über die Schulter zurückblickend, den Lauenhof wiederum auf Nebenwegen. Er hatte die Hosen in die Stiefelschäfte gesteckt; unter den Armen trug er, was ihm von seinen Schätzen als das Begehrenswerteste erschien, eine Schachtel mit arg mitgenommener königlich preußischer Infanterie im Sturmschritt, eine sehr lecke Arche Noah und eine in Fetzen zerflatternde Ausgabe des Robinson Krusoe mit schönen, bunten Bildern. Dazu trug er an den Ohren sein sehr erstauntes und deshalb sehr zappelndes Lieblingskaninchen mit den schönen roten Augen vor sich her, und so war’s kein Wunder, daß er ziemlich keuchend – das Siechenhaus von Krodebeck erreichte.
Tonie Häußler, die vom Fenster aus gleichfalls in den ersten Schneefall des Winters hinausblickte und ihre Kinderbetrachtungen darüber anstellte, sah den Genossen von gestern hinter den Hecken hervorkommen, stieg herab von ihrem Stuhl und verkroch sich, ohne ein Wort zu sagen, hinter dem Ofen. Die alte Hanne, welche am Ofen spann, hatte den Schnee allzuoft kommen und gehen sehen, um viel darauf zu achten; aber verwundert erhob sie das Haupt, als es vor ihrer Stubentür kratzte und stolperte und der Junker von Lauen, ohne anzuklopfen und ohne die Begleitung der Mutter oder des Herrn von Glaubigern, in ihrem grauen, trüben Reich erschien. Die Alte war sehr verlegen über die hohe Ehre, wackelte ein wenig ängstlich hin und her, sagte: Ei, ei, ei! wie der Chevalier, erkundigte sich zaghaft nach der gnädigen Frau und noch zaghafter nach dem Befinden des gnädigen Fräuleins.
„ Der bin ich zum zweitenmal durchgegangen!“ sprach Hennig, „und es wird nicht das letztemal sein, und hier bin ich mit dem Karnickel und mit den Zweiundzwanzigern im Sturmschritt und dem Noahkasten; ich habe gestern der Tonie versprochen, es zu bringen, und da ist es!“
Der ehrliche Bursche kramte seine Herrlichkeiten aus auf dem zertretenen Fußboden; aber wo war der Kobold aus dem Kuckelrucksholz? Der steckte hinter dem Ofen und leuchtete nur mit verwunderten großen Augen aus der Dämmerung hervor. Es hielt sehr schwer, ihn aus seinem Versteck hervorzulocken; allein was dem Junker und dem weißen Kaninchen nicht gelingen zu wollen schien, das gelang den Magdeburger Füsilieren. Sie nahmen auch das Herz der jungen Dame mit Sturm, und die Familie Noah sowie der Robinson Krusoe vollendeten die Eroberung, und so wurde das, was sich gestern unter freiem Himmel, im Walde und im Windessausen angesponnen hatte, heute innerhalb der vier Wände des Siechenhauses weitergesponnen. Ergötztet ihr euch nicht lieber

an dem heitern Glück,
Womit am Schluß des drolligen Romans
Die Lieb ein leicht genecktes Paar belohnt?


Vielleicht! Sehr wahrscheinlich! Ja ohne alle Zweifel! – O wie schön, wie friedlich und freundlich könnte unser Weg sein ohne das dumpfe Poltern in der Ferne, ohne den schwarzen Wagen, der immerfort seinen Weg durch die Geschlechter alles Lebendigen fortsetzt, dessen Fuhrmann so schläfrig düster mit dem Kopfe nickt und dessen Begleiter, die Leidenschaften, mit Zähneknirschen und Hohnlachen die eisernen Stangen und Haken schwingen; denn ihrer ist ja das Reich und die Herrlichkeit der Welt, und wer kann sich rühmen, daß er im Kampfe wider sie wirklich den Sieg davongetragen habe?
Hanne Allmann hatte sich wieder an ihr Spinnrad gesetzt; sie drehte das Rad, zog den Faden und nickte ebenfalls mit dem Kopfe – schläfrig, aber doch verwundert über das junge Leben zu ihren Füßen. Sie mummelte und summte auch zu dem schnurrenden Rade, legte die Hände im Schoße zusammen und schüttelte das Haupt, uralte Weisheit dumpf und mühsam im stumpfen Gehirn und Herzen zusammensuchend. Sie und der Ritter von Glaubigern wußten ja am besten Bescheid in Krodebeck, was es auf sich habe mit dem Schüdderump; die andern waren viel zu sehr beschäftigt mit dem lärmenden Tage, und die beiden Kinder – dort am Tische des Siechenhauses – ja, die hatten noch nicht mitzureden; obgleich sie mitzuleiden hatten, wenn ihre Stunde kam.
„Erstorbenes Leben, blindes Augenlicht“ – es hatte die Greisin aus dem Siechenhause das Recht, vor einem größern Palast niederzusitzen zu Fluch und Klage als die beiden Königinnen und die alte Herzogin, die Mutter von Königen, die vor dem Königsschloß von England zu Klage und Fluch niedersaßen; und zuletzt wurde sie auch nur durch den wackern Freund Robinson Krusoe daran verhindert. Die blauröckige königlich preußische Infanterie füllte eben mit dem durch sie hervorgerufenen Interesse nicht den ganzen Nachmittag aus. Sie zog sich wieder in ihre Schachtel zurück, und das Karnickel trat als handelnde oder vielmehr leidende Person in das Spiel. Doch auch dieses hatte seine Zeit; nicht wenig zerzaust rettete sich das Tierchen unter den Ofen und sah von dorther aus seinen roten Augen ängstlich dem ferneren Treiben der beiden Kinder zu.
Es war nunmehr der erst so sehr mißratene und dann vom Schicksal so gut gezogene Meister Robinson an der Reihe, und der Junker Hennig fand die schönste Gelegenheit, durch ihn sich als einen welt- und bücherkundigen Mann zu erweisen. Mit den Augen und den Ohren folgte Tonie Häußler seinen deutenden Fingern und Erklärungen, und die Alte am Spinnrad wurde auch alles Wunderns voll und fragte einmal über das andere, ob das wirklich in dem Buche stehe, ob das nicht erstunken und erlogen sei.
„Nein“, sagte Antonie, „es ist wahr. In Hamburg hab ich einen schwarzen Menschen gesehen, der war ganz so schwarz als der liebe Freitag, und vielleicht war er auch aus seinem Dorfe. Seinen Vater Donnerstag hätt ich zu gern gesehen, aber der ist ja tot. Es steht ganz gewiß in dem Buche, und hier ist sein Bild, wie er gebunden im Kahn liegt und eben an den Bratspieß gesteckt werden soll.“
Sie legte das zerfetzte Buch der Alten auf die Kniee, und trotz ihrer blöden Augen mußte Hanne Allmann von Blatt zu Blatt die herrliche Historia in den Bildern betrachten und erhub die Hände über Heiden und Türken und menschenfressende Mohren und fand ein großes Behagen und Wohlgefallen an den frommen Lamas, wie sich das in Anbetracht ihrer Verwandtschaft mit dem „lieben Vieh“ eigentlich von selbst verstand. Stolz, mit den Händen in den Hosentaschen, stand der Sohn des reichen Hauses in der Stube der Bettelleute und gab noch sonst mancherlei aus dem reichen Schatze seiner Studien zum besten; ja er hätte fast sogar in dem noch reichern Schatze der Studien seiner Lehrmeisterin, des Fräuleins Adelaide, Stoff zum Prahlen und Großtun gefunden, allein da ging ihm doch ein Schrecken durch die Gebeine; denn plötzlich fiel ihm ein, daß vielleicht grad in diesem Augenblick das Fräulein von Saint-Trouin auf dem Lauenhofe sich aus seiner Mittagsruhe erhebe und flötend durch die Säle und Gänge des Kastells den lockenden Ruf erschallen lasse:
„Hennig! Hennig! Lieber Hennig!“
Da zog er schnell die Hände aus den Taschen hervor und warf mißtrauische Blicke nach dem Fenster und der Tür. Er wußte nicht, daß das Fräulein mit einer argen Migräne aus dem Schlafe der Edlen erwacht war und den Chevalier von Glaubigern zu einer Partie „Tokadille“ zu sich gebeten hatte. Er wußte nicht, daß schon seit einer Stunde der Chevalier ihm mit einer bedenklichen Anlage zum Trismus, das heißt der Maulsperre und dem Kinnbackenkrampf, gegenübersaß und daß der Chevalier in dieser einzigen Stunde für alle Sünden seines Lebens Genugtuung geleistet hatte. Er wußte nicht, daß der Chevalier sich bereits ein kleines Guthaben zuschreiben durfte und daß in diesem Moment die gnädige Mama in der Milchkammer zu ihrer Adjutantin sagte:
„Mamsell Molkemeyer, Sie sind erst nach den Sommergewittern auf dem Lauenhofe eingetreten, deshalb will ich Ihnen von einem Mittel hier in der Milchstube reden, und ich lasse mich darauf totschlagen, daß es jedesmal hilft. Sehen Sie, es steigt kein Unwetter am Himmel auf, ohne daß ich nicht den Herrn Leutnant auf irgendeine Weise und auf Umwegen hierherkriege und mit angenehmer Unterhaltung bis zum letzten Donnerschlag festhalte. Wissen Sie, unser drittletzter Erster Verwalter war ein Gelehrter von den Ökonomieuniversitäten, der hat es mir griechisch gesagt, nämlich der Herr Ritter verneutralisiert die Elektrizität; aber das gnädige Fräulein darf freilich nicht dazukommen oder nur in die Nähe; denn das verneutralisiert den Herrn Ritter, und so haben wir denn leider auf dem Lauenhof gradso viel und häufig sauer gewordene Milch wie andere Leute; denn das Frölen halte sich einmal einer vom Leibe und noch gar beim Gewitter!“
Hennig wußte aber auch nicht, daß seine Mutter an diese liebliche Anekdote und das treffliche Hausmittel eine bedenklichere Frage nach seinem eigenen Verbleiben geknüpft hatte und daß die Mamsell Molkemeyer ziemlich sichere Auskunft darüber gegeben hatte. Er wußte nicht, daß die gnädige Frau darauf einen Blick in das Wetter geworfen, und als sie es befriedigend fand, eine ziemliche Neigung kundgegeben hatte, in eigener Person den Spuren des Sohnes und Erben zu folgen und den mit dem Ritter von Glaubigern verabredeten Besuch im Siechenhause fürs erste einmal allein abzustatten.
Der Regen ließ gegen Abend allmählich nach und hörte mit einem letzten tüchtigen Guß ganz auf. Von dem Schnee war selbstverständlich in derselben Minute keine Spur mehr vorhanden. Die kahlen Pappeln an den Wegen zeichneten sich scharf gegen die Luft ab. Rote Streifen des Sonnenunterganges spiegelten sich in den Lachen und wassergefüllten Gleisen der aufgeweichten zerfahrenen Landstraße, und auch vor den Harzbergen rollte das schwere Gewölk langsam fort. Nur der alte Brocken blieb verdrießlich unter seiner Nebelkappe: die Vorberge lagen bald gänzlich klar da, und das weiße Schloß der Stolberge zu Wernigerode blickte ganz hell herüber.
Beide Kinder in dem Siechenhause hatten sich wieder zu dem Fenster gezogen und sahen nach den roten Wolken und den schwarzen Krähen, welche letztere in großen Schwärmen von den Bergen kamen oder nach den Bergen reisten und auf den Pappeln von Krodebeck ihre Neuigkeiten gegeneinander austauschten.
„Da kommt deine Mutter, Hennig!“ sagte Antonie Häußler.
Sie kam wirklich; und später, das heißt lange Jahre nach ihrem Tode, erinnerte sich Hennig daran, wie sie kam und wie sie gewöhnlich zu kommen pflegte. Natürlich wieder mit aufgeschürzten Röcken, die wackern Waden in den glänzendsten, weißesten Strümpfen, und auf dem solidesten Rindsleder marschierte sie heran vom Lauenhof. Sie hätte der Spitze des größesten und tapfersten Heeres keine Schande gemacht, und ihr Humor blieb derselbe, ob sie auf eigenem Gebiet freundschaftlich begrüßt einherzog oder die Grenze feindlichen Territoriums kriegerisch überschritt.
„Komm hinter den Ofen!“ flüsterte der Junker, eilig und tölpisch seine Siebensachen zusammensuchend; aber auch Tonie Häußler stellte sich fest auf ihren kleinen Füßen und sagte:
„Ich brauche mich vor niemand zu verkriechen und vor deiner Mutter gar nicht. Sie kann mich ganz gut leiden, und ich sie auch.“
„Wer kommt? Von wem sprecht ihr, Kinder?“ fragte Hanne Allmann, die Hand hinter das halbtaube Ohr haltend.
„Von der gnädigen Frau, Mutter Hanne“, rief Tonie. „Da ist sie am Fenster.“
Die gnädige Frau guckte richtig in das Fenster: sie hatte die Gewohnheit, erst in das Fenster zu gucken, ehe sie das Haus der Leute betrat, denen sie einen Besuch zugedacht hatte. Ihr Sprößling stand mit der Arche Noah, dem Robinson und dem blauröckigen Fußvolk unter den Armen und zog den Kopf zwischen die Schultern. Sie aber stand mit in die Hüften gestemmten Händen auf der Stubenschwelle, blickte helläugig und durchaus nicht blöde umher und erst ganz zuletzt auf den Stammhalter.
„So!?“ sagte sie mit leichtfragender Betonung und faßte den ganzen Lauf der in diesem Teile des Buches enthaltenen Dinge merkwürdig gut in diesem einzigen kleinen Worte zusammen. Fünf Minuten später saß sie behaglich neben der greisen Bewohnerin des Siechenhauses und hielt den allergemütlichsten Dorfklatsch ab. Von dem, was sonst noch besprochen wurde, wird im zweiten Teile die Rede sein.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump