Abschnitt. 1

Die Alte hatte recht; sie hatte viel Unruhe, aber auch viel Freude und großen Segen von dem Kinde, welches die schöne Marie in der Welt und in dem Siechenhause von Krodebeck zurückließ. Die Unruhe und Sorge entsprang bald ganz und gar den Gedanken an die Zukunft; die Gegenwart bot nur Freude und Licht. Ja, Licht! Es folgte überall ein glänzender Schein den kleinen Füßen, welche das Siechenhaus nun so lustig machten und die Greisin in stets neue Verwunderung setzten. Es war ja auch das erstaunlichste, daß diese kleinen Füße so viele und verschlungene Wege über Berg und Tal, durch Städte und Dörfer geführt worden waren, um endlich das Siechenhaus von Krodebeck zu erreichen und die alte Hanne Allmann zu umtanzen und zu umtrippeln, wie nur Elfenfüße trippeln und tanzen konnten.
Ein Lebensjahr war der Hanne Allmann noch zugemessen, gerechnet von der Ankunft Marie Häußlers an, – ein Jahr des Segens von Sommer zu Sommer! Es war, wie wenn zuguterletzt nun doch noch aller Welt Lieblichkeit und Schönheit in den dunkeln Winkel der Alten blicke und lächelnd rede: „Hattest du gar keine Ahnung davon, Hanne, daß man diese kurzen fünfundsiebenzig Jahre hindurch nur seinen Spaß mit dir getrieben habe? Du Närrin, es war ja nur ein Versteckenspiel; – jetzt mach die Augen auf, so weit du kannst, und sieh uns, wie wir sind und wie schön die Erde für ihre Bewohner, wie süß das Leben sein kann!“
Die Greisin sperrte die trüben Augen freilich so weit auf, als sie konnte, und merkte, wie das immer geschieht, wenn die Freude auf Erden in ein Haus und in ein Herz kommt, durchaus nicht den bittern Hohn, der aus den Falten des blauen Gewandes der Göttin die Zähne wies. Sie war dankbar, als ob wirklich eine Verpflichtung dazu vorhanden sei. Ganz menschlich vergaß sie die fünfundsiebenzig Jahre der Dunkelheit um einen Augenblick nicht des Lichtes, sondern des Widerscheins des Lichtes. Sie vergaß den Scherz, welchen das Schicksal mit ihr getrieben hatte, im fünfundsiebenzigsten Lebensjahre, als ihre Augen bereits stumpf geworden waren und ihre Glieder zitterten unter der Last des höchsten Alters.
Jauchzend brachte das Kind sein Spielzeug und füllte die Hütte damit an – das alte, das uralte Spielzeug der Menschheit, die Lust an den roten Morgen- und Abendsonnen, den treibenden Wolken, dem Reif am Baum, dem Mondschein auf den beschneiten Feldern! Die Tür stand jetzt immer offen; denn das Kind ging aus und ein und hatte die volle Schürze mit beiden Händen zusammenzuhalten, um nichts von seinen Schätzen zu verlieren.
Fünfundsiebenzig Jahre war Hanne Allmann alt geworden, und immer noch rief es in dem Walde:

Kuckuck up der Wie’n,
Wannehr schall eck frien?


Immer noch blies man auf die befiederte Samenkugel der abgeblühten Butterblume und fragte den Tod um seine Meinung und Absicht, während Mutter Natur ihr beschwingtes Blütenleben auf dem Kinderhauche weiter in die Welt hineinbeförderte. Noch immer war der Apfelbaum im Frühling aller Schönheit und im Herbste aller Herrlichkeit voll, und noch immer gab es nichts Geheimnis- und Ahnungsvolleres als im Februar den Haselstrauch mit seinen blutroten Kämmchen und gelben Troddeln.
Antonie Häußler, das verwahrloste, verwilderte Kind der Vagabundin, kam wie die Tochter eines gar reichen, hohen Hauses in das Siechenhaus von Krodebeck. Die kleinen Hände, die zierlichen Füßchen, die klaren, klugen Augen und der lachende Mund waren gleich der Mitgift eines Königskindes zu achten, und der kluge, verständige Sinn, das leichte, gute Herz des Kindes, an welches niemand ein Recht hatte, stammten aus dem tiefsten, reichsten Grunde der Welt. Die Alte im Siechenhause schlug offen oder im stillen die Hände zusammen über den Reichtum, welchen ihr Tonie mitgebracht hatte; die Alte vor allem war berufen, den Schatz zu erkennen und den höchsten Genuß sowie die größeste Sorge davon zu haben. Daß dem so war, sprach sich im vorigen Kapitel in der Unterredung mit der gnädigen Frau deutlich aus.
Aber das Kind, das Kind war da in seiner ganzen Lieblichkeit, und die Sorge nahm in dem Gemüt der Greisin doch nur einen geringen Raum ein! Erst kam die Verwunderung, dann das Lachen in das Siechenhaus zurück; es ging kaum ein Tag vorüber, an welchem Hanne Allmann nicht sich und die schwarzen Wände fragte:
„Wo kommt sie her? Und wie komme ich zu ihr?“ Wenn Tonie dann zufällig die halblaute Frage verstand, so schmiegte sie sich dichter an die Pflegemutter und rief dagegen:
„Von wem sprichst du, Mutter? Sprichst du von mir? Wenn du von mir sprichst, so sag’s; – ich will dir sagen, woher ich komme. Ich war bei meiner Mutter auf dem Kirchhofe, und nachher habe ich mich doppelt gesehen im Entenweiher. Wo ist meine Mutter geblieben? Ich bin doch mit ihr in so vielen Ländern und unter so vielen Menschen umhergezogen, bis ich hierher zu dir gekommen bin. Meine Mutter hat mich immer auf dem Arm getragen, und wenn die Leute schlecht gegen sie gewesen sind und sie in der Nacht oder auf dem Wege hat weinen müssen, so habe ich sie an den Flechten gezogen und an den Ohren gezogen und ihr die Augen zugehalten, daß sie hat lachen müssen. Ich sehe sie nicht mehr und höre sie nicht mehr – sie ist gestorben; – ist das nicht kurios und recht traurig? Sieh, wie grau der Himmel ist, es ist gar kein grün Blatt mehr an den Bäumen und nicht eine einzige Blume auf dem Kirchhof. Das Gras ist noch da, das ist auch noch grün, aber es gefällt mir nicht; meine Mutter liegt darunter und sagt nichts und rührt sich nicht. Der Wind pfiff über den Zaun, und mir ist bange geworden, und ich habe mich gefürchtet, bis die Enten durch die Hecke krochen und über die Gräber und Steine wackelten. Sie schnatterten und schlugen mit den Flügeln und steckten die Schnäbel durch das Gras. Die dickste wollte sich auf meiner Mutter Kopf stellen; aber da habe ich sie gescheucht, und es hat einen großen Lärm gegeben, und wir sind alle zu gleicher Zeit am Weiher angelangt. Sie sind hinein- und hinübergefahren; aber ich bin auf der Brunnenröhre sitzen geblieben, bis das Wasser wieder ruhig war, und nachher habe ich mich doppelt gesehen. In dem Wasser war der graue Himmel auch; weißt du, und meine Mutter hat oft gesagt, sie wolle in das Wasser gehen, da sei ihr allein geholfen. Weshalb habt ihr sie denn in die Erde gegraben, wenn ihr im Wasser geholfen war? Ich gehe gern an das Wasser, vorzüglich im Sommer an den Teich im Walde. Darin sieht man viel, und die Enten stören einen nicht. Da fährt’s leise und schnell drauf hin und her, und von unten auf wächst Kraut und kommen Blumen auf langen Stengeln. Wenn die Sonne drein scheint, sehe ich doch noch mal meine Mutter darin; aber heute am schmutzigen Weiher, da habe ich nichts gesehen als mich, und das Wasser hat mich ganz häßlich gemacht. Dann sind zu den Enten die Gänse gestanden, und alle haben die Hälse nach mir gereckt und geschrieen und gezischt. Ich habe einen Stein nach mir im Wasser geworfen, da war alles aus; und weil das lange gelbe Fräulein vom gnädigen Hofe mit dem guten Herrn auf der Landstraße dahergekommen ist, habe ich mich wieder gefürchtet und bin gelaufen. Sieh, nun weißt du, woher ich gekommen bin. Vor dem guten Herrn allein hätte ich mich nicht gefürchtet; doch das ist alles gleich, mir kann doch ja keiner helfen.“
„Kind“, rief die Alte, „jetzt hab ich dich lange genug angehört. Was schwatzest du da stundenlang her? Und weshalb soll dir keiner helfen können?“
„Die Leute im Dorfe sagen es. Sie sagen, ich sei nichts nutz und nichts wert, und als die Buben neulich die Katze versäuft haben, haben sie mich mit versäufen wollen und sind mit einem Strick und einem Stein hinter mir drein gerannt; aber diesmal bin ich ihnen noch zu schnell gewesen. Die Mädchen haben aber nachher gelacht und gesagt, es helfe mir doch nichts, daß ich so flink sei; ins Wasser müsse ich doch einmal. Nun sage du, muß ich ins Wasser, und ist mir dann geholfen?“
Wenn nun in diesem Augenblick die Wände des Siechenhauses zu Krodebeck auseinandergerückt wären, wenn die hellste Sonne eines Wiener Sommertages durch rotseidene geschlossene Vorhänge in das hohe, stolze Gemach gefallen wäre und den modernen, weißen, silberbeschlagenen zierlichen Sarg in der Mitte dieses Gemaches mit einem rosigen Schimmer bemalt hätte, so würde die Alte im Siechenhause nicht schmerzensreicher und angstvoller dreingesehen haben als jetzt, wo alles fürs erste beim alten blieb und sie mit abwehrenden Händen nur stöhnen konnte:
„O Kind, Kind, was für Unsinn redest du und was für schlechte Dummheiten lässest du dir in den Kopf setzen!“
Hüpfend und lachend in die Hände klatschend, rief Tonie Häußler:
„Sei ganz ruhig, ich gehe mein Lebtage nicht ins Wasser; es gefällt mir zu gut auf der Erde und bei dir, Mutter! Und heute hab ich viel trocken Fallholz aus dem Kuckelrucksholz geholt, nun können wir heut abend warm sitzen und hören, wie’s im Ofen schilt und schwatzt. Nachher kriech ich zu dir ins Bett; dann braucht sich keiner zu fürchten vor Gluhschwänzen, Tückebolden und Gespenstern. Wenn du im Schlaf Angst hast, zupf ich dich an deiner alten spitzen Nase; dann wachst du auf und merkst, daß du bei mir bist, und alles ist gut. Und wenn ich vom gelben gnädigen Fräulein träume, so schüttle mich nur tüchtig; – wenn ich wache, fürchte ich mich vor niemandem. Den möcht ich sehen, dem zuliebe ich ins Wasser ginge! Ich habe es ganz gut in der Welt und verlange es nicht besser.“
Das letztere war mehr, als der Junker Hennig von Lauen in diesen Zeiten von sich behaupten konnte. Seine Verdauung war noch immer vortrefflich; allein sein Gemütszustand ließ vieles zu wünschen übrig, und daß auch ihm dann und wann vom Fräulein Adelaide von Saint-Trouin träumte, war noch das wenigste; denn er hatte die wohlmeinende Dame auch im Wachen um sich, und da ließ sie sich keineswegs abschütteln wie ein Traum. Nachdem der Metzger vom Hofe war, hatte sich der ruhige Moment zur „freundschaftlichen Erörterung“ in der Tat bald gefunden, und das darauf folgende Geschrei war freilich entsetzlich gewesen.
Während der Chevalier mit billigend erhobenen Augenbrauen und zustimmendem Kopfnicken eine stumme Prise nach der andern nahm, hatte die Enkelin Jehans de Brienne gleichfalls eine Prise nach der andern genommen, nachdem der erste Stupor vorüber war, jedoch nicht stumm. Keine tragische „Madame“ ihrer klassischen Landsleute erhob je den Dolch der Verzweiflung oder den Giftbecher der Rache mit furchtbarerem Pathos; die Frau Adelheid hatte – so was in ihrem Leben noch nicht gesehen.
Das sei zu arg, rief Adelaide von Saint-Trouin – das habe sie nicht um den Lauenhof verdient.
Sie ging so weit, als eine zimpferliche alte Jungfer nur irgend gehen kann, und behauptete, sie habe dieses Kind geliebt, als ob sie es selber geboren und gesäugt habe.
Ja, sie sagte „gesäugt“ und rührte selbst den jüngsten Verwalter dadurch zu Tränen!
Sie behauptete: Da sie es – das Kind – in einer andern und bessern Weise als sonst jemand unter den Barbaren des Lauenhofes gebildet habe, so habe sie auch ihre Meinung über dasselbe, und ihre Meinung sei, daß man dieses Kind, bloß um sie – Adelaide Klotilde Paula – zu ärgern, auf den Pfad des Verderbens hinausstoße. Sie wußte fest, daß es sich hier gar nicht um die Sorge für die Edukation des Junkers handle, sondern einzig und allein um eine giftige, heimtückische, boshafte Verschwörung und Verabredung gegen eine unglückliche, hülflose Persönlichkeit, deren Namen sie nicht nennen wolle, da es doch nichts helfe. Wie die eben versteinernde Niobe ihr Jüngstes, umfaßte sie den zerknirschten Hennig und fand ebensowenig Erbarmen als jene, obgleich sie jedesmal, ehe sie in Krämpfe verfiel, außer sich vor tragischem Weh, schrie: noch nie sei für einen echten Kavalier etwas Gutes und Anständiges aus diesem In- und Auf-Schulen-Gehen zum Vorschein gekommen, und durch hundert traurige Beispiele aus der Geschichte des hohen und niedern europäischen Adels wolle sie das beweisen und belegen.
Wenn sie dabei auf den Chevalier von Glaubigern sah, wie die Gemahlin Amphions auf den hochgebildeten, aber rachgierigen Gott Apollo, so hatte das weiter keine Folgen, als daß der erstere alte Herr im Innersten seiner Seele wehmütig sagte:
„Ach du lieber Gott, das wird eine schöne Zeit werden!“
Die gnädige Frau erwiderte auf alles, was das gnädige Fräulein vorbrachte, einfach:
„Liebste Seele, daß Sie ein arges Lamento erheben würden, das hab ich im voraus gewußt, und daß ich mich sehr davor gefürchtet habe, das können Sie mir auf mein Wort glauben. Aber was hilft’s? Die Sache ist einmal beschlossen, und ich meine, Sie kennen mich gut genug, um zu wissen, daß sie nicht übers Knie abgebrochen wurde. Daß ich auf Ihre Meinung viel halte, Frölen, wissen Sie gleichfalls, wenn Sie’s auch nicht zugestehen werden; aber mein Seliger hat doch auch ein Wort mitzureden, und dessen Meinung war’s item, daß der Junge nicht gänzlich unter uns Mistfinken hocken bleibe und ebenfalls zu einem werde.“
Mistfinke!... Wir müssen leider das scheußliche Wort noch einmal hinschreiben; denn seine Wirkung auf die Erbin von Byzanz war zu fürchterlich und wirkte wie ein Topf voll griechischen Feuers von den Mauern Konstantinopels auf ein sarazenisches Admiralschiff. Es hob die Versteinerung der Tochter des Tantalus vollständig auf; Fräulein Adelaide ließ den Junker frei aus den Falten ihres Gewandes, richtete sich zur vollen Höhe ihrer majestätischen Erscheinung empor, sprach: „Ich habe keine Macht, mir das zu verbitten; aber ich verbitte es mir doch!“, wandte sich, ging die Treppe hinauf und ließ sich acht Tage lang das Essen auf ihr Zimmer schicken! –

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Schuedderump