Kapitel 5 - Pansophia- und Kulturforschung von E. Hanslik.

*) Unter den Schriften des Verlags Institut für Kulturforschung erschien in Wien 1917 das merkwürdige und an großen Gedanken reiche Buch ,,Wesen der Menschheit“ von Professor Dr. Erwin Hanslik mit 18 Weltbildern und 2 Tafeln. Diesem Buch sind die obigen Seiten entnommen.




Einst gab es eine Zeit, in der die Menschheit Europas von unaufhörlichen Kämpfen um den Glauben zerrissen war. Ein Krieg, der nicht enden wollte, führte die Völker dem Untergange entgegen. Auch Österreich war von den Schrecken des Glaubenskampfes und der Kriegsverheerungen auf das schwerste betroffen. Die Ränder der slawischen Welt, die westlichen Teile der polnischen und der tschechoslowakischen Landschaften waren mithineingezogen in das Ringen des Westens.

Damals ereignete sich etwas sehr Seltsames, was man bis zum heutigen Tage nicht recht verstehen konnte.

Die Weißen Karpathen und die Mährischen Beskiden schließen ein Tal ein, in dem, von den Wellen des Westens unberührt oder nur wenig erregt, slowakische Menschen wohnen. Weiter reicht das heilige römische Reich deutscher Nation nicht, als bis an die Höhen, die jenes Tal begrenzen. Jenseits von ihnen liegt Ungarn und mit diesem beginnt die östliche staatliche Welt. Hier kam um das Jahr 1600 etwa Komensky, von den Westlichen Comenius genannt, zur Welt. Der junge Slowake oder, wie er sich nannte, Moraviensis, d. i. Mährer, wurde als ganzer Mensch in den Kreislauf des Geistes und des Lebens der damaligen westlichen Welt hineingezogen. Deutschlands, Schwedens, Hollands, Englands Sorgen und Leiden, Freuden und Schätze wurden auch die seinen.

Was man aber in ihm bisher nicht verstanden hat, ist folgendes: Er war der einzige slawische Mensch, der unter den Westlichen gelebt hat, ohne das östliche Wesen aufzugeben. Im Gegenteil: aus diesem hat er bis an sein Lebensende jene unerschöpfliche Kraft genommen, die es ihm ermöglichte, dem Westen etwas zu sein. Er war ganz anders als alle seine Zeitgenossen, und zwar nur deswegen, weil er ein ehrlicher Mähr er war.

Wodurch unterschied sich nun Comenius von der westlichen Welt? Er lehrte: Es gibt eine Allweisheit, eine Pansophia. Nur eines ist notwendig: diese letzte Weisheit allen zu sagen. Auf allen Wegen ist die ganze Welt der Erweckung zuzuführen. Er schrieb ein Buch „Die Welt in Bildern, orbis pictus“ und ein anderes „Die offene Tür“, welche den Zugang zu den verschiedenen Sprachen öffnet, welche die Menschen scheiden. Er wollte einen Tempel der Allweisheit bauen, um durch die Wissenschaft zum Frieden zu gelangen und hat die Volks- und Mutterschule begründet.

Ein Deutscher, Engländer oder Franzose weiß mit solchen Gedanken nichts anzufangen. In ihm lebt das Bedürfnis, so zu leben, nicht. Die Welt ist den westlichen Völkern keineswegs ein Heim aller. Viel zu stark ist die Trennung der Menschen im Westen durchgeführt, als daß sie jemanden ernst nehmen könnten, der alles allen mitteilen will. Was der Franzose hat, ist dem Deutschen nicht eigen. Der Engländer, der Holländer und der Schwede aber gehen wieder ihre eigenen Wege. Da gibt es Könige, hochmögende Fürsten, wohlhabende Bürger, Dienstboten und Bauern. Was alle diese gemein haben sollen, ist einem westlichen Menschen unverständlich. Die starke Gliederung der Gesellschaft in Völker und Klassen macht den Allmenschheitsgedanken unverständlich.

Zwischen den Weißen Karpathen und den Beskiden gibt es aber diese Trennung nicht. Die slawische Welt hat kaum begonnen, sich in Völker zu gliedern, und Klassen gibt es bei den Slawen auch nicht. Derjenige versteht die östliche Gesellschaft schlecht, der Schlachzizen oder Bojaren, Magnaten oder sonstige Aristokraten für eine Klasse des Ostens ansieht. Alle diese Herrschaften sind der östlichen Gesellschaft aufgesetzte Fremdkörper und haben mit ihr sehr wenig gemein. Sie haben sich aus ihr keineswegs durch Gliederung entwickelt. Vielmehr sind sie durch Zwang von außen dem östlichen Volkswesen aufgedrungen worden. Jeder Slawe ist bis zum heutigen Tage ein Mensch der ungegliederten Gemeinde. Einer ist wie der andere und alle sind wie Brüder. Das französische Wort der Brüderlichkeit hat einen ganz anderen Inhalt als der slawische Brudergedanke.

Comenius ist ein sehr aufrichtiger Mensch gewesen. Dazu hat ihn wohl vor allem der Krieg gebracht. Wenn man so alle Tage das Ganze in Frage gestellt sieht, dann wird man ehrlich. Man geht auf das Wesen, weil ja doch niemand weiß, ob nicht morgen alles aus ist. Und da nun damals das Bewusstsein der Menschheit zwischen Deutschen, Schweden, Engländern und Franzosen spielte, so ist Komensky mit der ganzen ungebrochenen Kraft seines östlichen Menschentums an die Auflösung der menschlichen Probleme gegangen. Die Menschen zwischen Karpathen und Atlantischem Ozean, zwischen Mittelmeer und Ostsee verstehen einander nicht. Was macht ein mährischer Bauer, wenn zu ihm ein paar Leute kommen, von denen alle der Sprache nach verschieden sind. Er fängt an, mit allen Mitteln jedem einzelnen die Kenntnis der. Sprache des andern zu vermitteln. So entstand die Sprachtür des Comenius. Auf diese Weise sucht ein Ostmensch des zentralen Problems der westlichen Menschheit Herr zu werden. Hat jemand außer Comenius bis auf den heutigen Tag so hoffnungsfreudig und ehrlich diese Grundfrage des praktischen Lebens des Westens angegriffen? Heute noch greift der Soldat nach den Büchern des Comenius, wenn er der Sprachnot Herr werden will. Das Wichtigste aber ist, daß auch nicht einmal der Gedanke, diese brennende Sorge des Westens ernsthaft anzugehen, den meisten Westlichen gekommen ist. So fern liegt dem Bewusstsein des Westens die Vorstellung, es sei überhaupt möglich, der nationalen Vielfältigkeit Herr zu werden und ein Verstehen aller herbeizuführen.

Aber nicht bloß in Völker ist der Westen geteilt, nicht bloß die Sprachnot peinigt die Gemeinschaft der Menschen zwischen Mittelmeer, Atlantischem Ozean, Ostsee und Karpathen, mannigfaches anderes Elend ist auch noch da. Der gesunde Mährer mit dem einfachen östlichen Wesen ist an alles dieses Elend herzhaft herangegangen und hat es bekämpft, so gut er eben konnte. Alle rund um ihn legten die Hände in den Schoß und fügten sich wie in ein Schicksal; er aber sann auf Besserung.

So ein westlicher Mensch kommt auf die Welt und kennt sich nicht aus. Rings um ihn ein Lärmen, ein Schreien wie auf einem Jahrmarkt. Der eine preist diesen Glauben an, der andere jenen, der eine empfiehlt dieses, der andere jenes Ideal. Man kommt auf eine Hohe Schule. Da gibt es Hunderte von Fächern, hier steht ein Lehrer und ruft zu seinem Fache, dort ein anderer, der in seins zu locken sucht. Sittlichkeit und Unsittlichkeit, Mäßigkeit und Leben ohne Maß, Sinnlichkeit und Übersinnlichkeit, alles findet Vertretung. Wahrhaftig, die Welt wird auf diese Weise ein „Labyrinth“, in dem sich niemand auskennt. Der mannhafte Slawe hat sich mit den Wirren des Lebens seiner Zeit so herumgeschlagen wie nur irgendeiner. Während aber alle Westlichen sich wie in ein Schicksal in die unauflösbare, widerspruchsvolle Vielfältigkeit der Welt fügten, rang seine Ostseele nach dem Einen, Notwendigen, nach dem Unum necessarium.

Hat sich je ein Westlicher eine solche Frage gestellt? Es ist keinem in den Sinn gekommen. Alle haben darauf verzichtet, in ihrem ganzen Leben nur eines zu tun. Sie haben soviel zu schaffen, daß sie sich gar nicht zu denken getrauen, es könnte nur eines zu tun sein. Der Zauber, der von dem Gedanken ausgeht, es sei nur eines notwendig, ist von den Westlichen empfunden worden, aber alles in der Ansicht, diese Idee sei ein schöner Traum und nicht mehr; mit der Wirklichkeit habe sie nichts zu schaffen.

Dem einfachen Sinn des östlichen Menschen liegt das Paradies des Herzens in dieser Einheit des Wesens. In seiner Schrift „das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens“, hat Comenius den Gegensatz von Einheit und Vielheit aufzulösen gesucht.

Nichts ist schrecklicher als die Zerrissenheit der Gemüter, welche sich in Zeiten großer Kriege und schwerer Erschütterungen der Staatswesen aller zu bemächtigen pflegt. Ist aber auch nur einer der Menschen des 17. Jahrhunderts darauf ausgegangen, hier zu helfen? Alle fühlten sich viel zu schwach dazu, jeder suchte in seinem kleinen Kreis zu schaffen. Um die Not des Ganzen hat sich niemand angenommen. Dem einfältigen Sinn des Mannes aus dem Osten, des Geistes, der im entferntesten deutschfremden Winkel des deutschen Staates erwachsen war, blieb es vorbehalten, das westliche Wesen von dieser Not zu befreien. Ewigen Wert hat sein reiner Wille und sein reines Eingeständnis der Verworrenheit alles Westlichen. Soweit damals irgendein Mensch mit den Mitteln des Wissens dringen konnte, ist Comenius gegangen, ohne dabei je das Ziel aus den Augen zu verlieren, dem eigenen Geschlechte das verlorene Glück mit den Mitteln des Wissens wiederzugeben.

Jeder westliche Mensch schuf damals für seinen westlichen Kreis. Über den Rahmen des Landes, in dem er wohnte, des Glaubens, zu dem er sich bekannte, des Standes, dem er angehörte, ist er nie hinausgegangen, und doch bildeten Deutsche, Schweden, Engländer, Holländer und Franzosen, Katholiken und Protestanten, Landesherren, Bürger und Bauern eine einzige Gemeinschaft, die in Wohl und Wehe für immer zusammengehörte. Sie bildeten eine Welt für sich. Entweder allem oder keinem zu helfen, war die Aufgabe, vor der jeder einzelne stand. Kein Westlicher hat das je gesehen. Dem Sohne des Ostens war es vorbehalten, den Westen als einheitliche Welt klar vor sich zu sehen. Nichts war natürlicher, als daß er aus dieser Erkenntnis die Folgerungen zog und sich ohne Bedenken an die Welterweckung machte. Darum schrieb er sein Buch „Panegersia“. Seine Absicht ist, dem Menschenvolke zu vollem Heile zu verhelfen. Der Erfolg bei dieser Arbeit beruhe auf klarer Einsicht, der Weg zur Verbesserung der Welt führe durch Einheit, Einfachheit und Freiwilligkeit. Alle Nationen und Sekten, alle Berufe sind zu einer gemeinschaftlichen Beratung einzuladen, um das Heil der Menschheit zu fördern. Wenn die einzelnen dabei Vertrauen, Aufrichtigkeit, Gefühl für Eintracht, Hilfsbegierde an den Tag legen, dann wird eine wirkliche Verbesserung eintreten. Wenn alle ein von Streitsucht reines Gemüt mitbringen, wenn sie auch bei abweichender Meinung die Hand nicht vom Werke abziehen, so wird das Ziel erreicht werden.

Ein letzter zentraler Gedanke des Comenius war der, der universalen Wissenschaft. Die Zerfetzung der Wissenschaften hindert das Aufkommen einer Wissenschaft vom Ganzen, der Welt und des Lebens. Er nannte diese Pansophie. Sie sollte ein Brevier der Bildung, eine Tabulatur der Geschäfte und eine Norm der Wahrheit sein. Eine Weltgeschichte, eine Weltsystematik und eine Welterweckung sind dazu notwendig.

Der Gedanke einer Weltwissenschaft und einer Welterweckung ist von keinem westlichen Menschen in den Mittelpunkt der Arbeit gerückt worden. Bei Leibnitz und Lessing, bei den tiefsten Denkern des deutschen Volkes, findet er sich überall wieder. Er tritt aber nur als Nebengedanke auf. Er ist eine Idee, der man in Stunden besonderer Kraft und Freudigkeit nachhängt. Comenius aber war er etwas Alltägliches, ein klares Ziel seiner täglichen Arbeit.

Wissenschaft vom Ganzen der Welt und Erweckung aller sind echte Ostgedanken. Dem Westen ging in jeder Richtung die Einheit verloren. Der Aufbau der Einzelwissenschaften führte zum Untergang des Gedankens der Wissenschaft ebenso wie der Ausbau der Einzelvölker zum Untergang des Bewusstseins der Menschheit geführt hat. Die Sonderungen waren stärker als das Einende. Im Ostmenschen ist es umgekehrt. Was ist ihm Einzelwissenschaft? Nie mehr als ein Zweig der Wissenschaft. Was ist ihm Einzelvolk? Nie mehr als ein Einzelglied. Wie jemand die Wissenschaft verlieren kann, um Fachmann zu werden, wie jemand die Menschheit aufgeben kann, um national zu werden, wird dem richtigen Ostmenschen niemand verständlich machen. Es liegt im Wesen seiner ungegliederten seelischen Natur, daß er sich in Wissenschaft ebensowohl wie in der Frage nach Nation und Menschheit an den Stamm hält und nicht an Zweige und Blätter. So ist es etwas durchaus Natürliches, daß des deutschen Reiches Ostsohn, Comenius, der einzige war, der eine Weltwissenschaft begründen wollte und an die Menschheit einen Aufruf zur Welterweckung schrieb.

Der ganze Gegensatz zwischen West und Ost offenbart sich in der Art, wie der Westen die Gedanken des Comenius aufgenommen und fortgeführt hat.

Als Prediger der Einheit des Geistes und der Gemeinschaft ist Comenius dem gemeinsamen Besitze aller westlichen Völker einverleibt worden. Deutsche, Franzosen, Schweden, Holländer, Engländer zählen ihn zu dem Kreise derjenigen Schöpfer geistigen Lebens, welche Grundlagen des heutigen Bewusstseins geschaffen haben. Aber eine Fortführung im Geiste des Comenius hat keiner seiner Gedanken erfahren. Die Welt in Bildern kam in die Hände fleißiger deutscher Professoren. Sie machten das Buch mit der Fülle ihrer Kenntnisse verwickelt und vollständig und zerstörten so das Große, das in der genialen Auffassung des Wesentlichen und in der Vereinfachung des Vielfältigen lag. Der Gedanke einer Welt in Bildern geht jedem westlichen Menschen, mag er nun ein Deutscher oder Engländer sein, wider die Natur. Das Konversationslexikon, welches die Welt in fünfzig dicken Bänden darstellt, ist der Ausdruck der Weltvorstellung der Westlichen.

Der Gedanke der Allforschung ist den Westlichen ebenso unerträglich. Comenius selbst hat den Westen bereist und überall die Gründung von Gesellschaften zur Förderung der Forschung durchgeführt. Was ist aber im Laufe der Jahrhunderte im Westen für eine Entwicklung eingetreten? Wie sieht der Gedanke der Forschung heute aus? Man hat Akademien der Wissenschaft gegründet, jedes Volk hat seine eigene Akademie geschaffen. Der Staat hat sich der Akademien überall bemächtigt. Dadurch ist alles Völkertrennende in die Wissenschaft hineingekommen. Alle Akademien der Welt sind nationale Einrichtungen geworden. Deutscher staatlicher Geist erfüllt die Berliner Akademie, französischer die Pariser u. s. f. Wie dadurch die Objektivität in allen menschlichen Dingen von Grund aus untergraben wird, zeigt sich bei jeder Erschütterung des Bewusstseins. Die Wissenschaft hat ihre Kraft dadurch verloren, daß man sie nach Staaten und Ländern organisiert hat. Am verhängnisvollsten war es, daß der Staat sich der Forschung bemächtigt hat. Denn dadurch ist vor allem der Geist der Sonderung hervorgerufen worden.

Die Akademien selbst sollten dazu dienen, Weltforschung zu fördern, sie sollten der Zersplitterung in Einzelfächer entgegenarbeiten. Was sind sie geworden? Pflegestätten einseitiger Fachforschung, die sich prinzipiell zur Aufgabe gemacht haben, allen Arbeiten die Unterstützung zu versagen, die nicht rein spezialistischer Art sind. Das ist eine Entwicklung, wie sie in Deutschland, in Frankreich und überall sonst eingetreten ist. Sie liegt im Geiste des Westens begründet und es wäre verfehlt, dagegen anzukämpfen. Es ist zum allgemeinen Gebrauche geworden, den Menschen zu opfern, um Fachmann zu werden.

So ist auch der Gedanke des Comenius durch den westlichen Geist in sein Gegenteil gekehrt worden.

Die Akademien sperren sich vom Leben ab. Sie sind die Burgen der reinen Wissenschaft, die mit dem Leben direkt nichts zu tun haben. Kein praktischer Mensch darf in diesen Kreis, der streng der fachmännischen Wissenschaft vorbehalten bleibt, Einzug halten. Dadurch ist der letzte Gedanke des Comenius von Grund auf zerstört worden. Er suchte Gesellschaften zu schaffen, welche Forschung und Praxis vereinigen, um der Menschheit das Heil zu bringen.

Was die Volksschule im Westen geworden ist, wissen wir, eine Fachschule, die Kenntnisse vermittelt, statt Menschen zu bilden. Jahrhunderte werden vergehen, bevor des Slowaken einfache Forderungen von der westlichen Menschheit werden begriffen und durchgeführt werden.

Als ein fremdes Element hat der Westen die Gedanken des Comenius immer empfunden. Die größten Geister der Jahrhunderte haben sich seither vor der Gewalt und Unwiderleglichkeit der Forderungen dieses Einsamen gebeugt, niemand aber ist den Weg weitergegangen, der damals betreten worden ist. Im Gegenteil. Als das Bedürfnis, gegen die eigene Verwicklung anzukämpfen, zu stark wurde, da hat man sich allerhand luftige, übersinnliche Weisheit konstruiert und sich damit zufrieden gegeben. Kosmopolitische Annahmen wurden aufgebaut, um der Forderung nach Einheit, die das Gewissen jedes Menschen erhebt, zu genügen. Auf die ehrliche Arbeit des slowakischen Weltbürgers ist man nie zurückgegangen. Dem Westen war es eben um die Einigkeit nie ernstlich zu tun. Internationalismus ist ihm nie mehr gewesen als unpraktische ideale Forderung. An das Niederreißen der Schranken zwischen den Völkern, Berufen und Fächern ist man nie mit dem festen Willen gegangen, die direkten einfachen Mittel anzuwenden. So starrt denn der Westen bis zum heutigen Tage noch in seiner Vielheit. Die Völker stehen innerlich unverbunden nebeneinander, ja sie sind einander sogar bis zum äußersten entgegengesetzt. Die Fächer arbeiten ohne jeden Zusammenhang miteinander, Forschung und Leben gehen getrennte Wege. Die Akademien sind ein Hohn auf den Gedanken der Objektivität der Wissenschaft. Die Gestalt des Comenius aber steht in diesem Chaos des Westens wie der Vorbote einer Künftigkeit da, die heute noch kein Mensch im Westen sich auszudenken getraut. Wenn der Krieg nicht gewesen wäre, der alles ehrlich gemacht hat, wenn die westliche Kultur unter dem Bankerott eines dreißigjährigen Mordens nicht schwach und hinfällig geworden wäre, dann hätte sich kein Ostmensch damals getraut, dem Westen zu sagen, was er ist: ein Labyrinth der Vielfältigkeit, in dem das Eine, was not tut, vergessen wird über den tausend unnützen Dingen; ein wahnwitzig gewordenes Menschenreich, das noch nicht weiß, was es ist und wohin es soll. Vielerlei Bewusstsein kreuzt sich in der Seele des Westens, und die Einheit und mit ihr das Glück der westlichen Menschheit geht dadurch verloren. Im Zeitalter der tiefsten Erniedrigung der westlichen Kultur hat ein Ostmensch die Kraft gefunden, dem Westen die Wahrheit zu sagen und ihn zur Besinnung zu rufen . . .

Es war ungefähr dreihundert Jahre später. Ein fürchterlicher Krieg ergriff mit zehnmal größeren Schrecken die europäische Menschheit. Abermals kam eine Zeit gesteigerter Aufrichtigkeit. Täuschungen, die durch Jahrhunderte vorgehalten hatten, wurden durchschaut.

Aus dem heiligen römischen Reiche deutscher Nation hatte sich ein Grenzstaat abgelöst, dessen Tätigkeit vor allem darauf gerichtet war, tiefer in den Osten hinein einen Gemeinschaftskreis auszubauen, der eine innige Verbindung von West und Ost vorstellte. So kam es, daß Ostmenschen auch von jenseits der deutschen Seite, wie der alte deutsche Reichsboden immer noch heißt, in das Werden des Westens einbezogen wurden. Je weiter nun gegen Osten die Ausschöpfung der Menschen fortschritt, desto tiefer und klarer erfassten die Ostnaturen ihre Selbständigkeit, desto sicherer vermochten sie ihre Ursprünglichkeit dem Ansturm des Westens gegenüber zu behaupten, Comenius hat nicht gewusst, wer er war. Erst das zwanzigste Jahrhundert brachte dem östlichen Geiste die Auferstehung.

In der Mitte derselben Beskiden, an deren Westende Comenius geboren war, kam etwa dreihundert Jahre nach diesem der Urheber der Kulturforschung zur Welt. Erst nach Abschluß seines Lebenswerkes lernte er das Schaffen und die Schriften des Comenius kennen.

Ein Bild der Menschheit zu entwerfen ist ein echt östlicher Gedanke. Oder hat einer der vielen Millionen Menschen, die über die Erde geschritten sind, von Anbeginn den Mut eines solchen Gedankens gehabt. Außer Comenius niemand. Und wenn bis ins einzelne hinein, bis in die Einteilung und bis in das Wort sich Gleichheiten finden, so ist es die Selbigkeit des Geistes, die daraus spricht. Die Weltgeschichte, von der die Deutschen träumen, das Werk über den Gang der Kultur, das Ibsen kommen sah, ist dem Osten vorbehalten. Wenn eine Menschheit aufwacht, dann klingen die ersten Laute, die sich der Seele entringen, wenn sie die Welt ansieht, wie Glocken der Ewigkeit über das Land. Die Ilias des Ostens wird die Geschichte der Menschheit sein, das Testament des Ostens an die Welt und seine Morgengabe zugleich! Die bräutlichen Völker, die ihre Vermählung mit der Erde feiern, schenken der Menschheit als das Kind ihres Herzens das Sonnenbildnis der menschlichen Zukunft. Nicht eines Menschen Werk ist die Blüte einer Menschheit. Alles sprießt und entfaltet entzückende Pracht. So die österreichische Kunst. Und warum gerade sie? Weil in ihr der Osten in glühenden Farben sein Erschauen der Welt darstellt. Ob deutsch, ob slawisch, fragen die anderen. Menschheitlich, lautet die Antwort. Wir wollen sehr viel mehr als die feurigsten Bekenner eines einzelnen Volkes. Es soll niemanden auf der ganzen Erde geben, der auch nur annähernd etwas so Mächtiges, Prächtiges und Lebenstiefes schafft wie wir. Darin besteht unsere nationale Gesinnung. Nun aber geschieht in diesem Streben die seltsame Wiedergeburt der Volkshaftigkeit. Der Deutsche in Österreich schöpft aus der innigsten Gemeinschaft mit dem erdnahen Osten seine höchste Kraft. Der Tscheche, Pole, Magyare, Ukrainer, Serbe und Rumäne wird erst durch den Westen zum Menschen. Beide Teile erheben sich in der Einigung zur Höhe der Menschheit.

Comenius stand allein, er wusste selbst nicht, was er wollte und warum er so anders war als alle. Dreihundert Jahre später entströmt dem Innern völlig getrennter Menschen der gleiche Wille, die gleiche Begeisterung. Nicht Willkür ist's, was sie bewegt. In ewiger Gleichheit drängt vielmehr an den Grenzen des Ostens der Geist der Menschheit in ihnen empor.

Um das Wesen jenes Strebens zu verstehen, das mit dem Worte Kulturforschung seit einigen Jahren bezeichnet wird, gilt es, sich vor allem den vollständigen Bankerott der Einzel-Wissenschaft in allen Lebensfragen der Kultur vorzustellen.

Es gibt keine Grundfrage der Kultur, welche für die Wissenschaft, wie sie bis heute organisiert war, ein lösbares Problem sein könnte. Jede Einzelwissenschaft für sich und alle zusammengenommen sind unfähig, auch nur eine einzige Grundfrage der Kultur aufzulösen. Für die Lebensfragen der Menschheit gibt es heutzutage keine zuständige Forschung. In Zeiten, wo man einfach von Tag zu Tag weiterarbeitet, lässt sich zur Not in diesem Zustand weiterdämmern. Wenn aber eine solche Krisis über die Gesamtheit hereinbricht, wie die gegenwärtige, dann zeigt sich die gänzliche Unfähigkeit und Unzuständigkeit der Kulturwissenschaft in allen zentralen Fragen. Oder wagt es angesichts des Zusammenbruchs aller Objektivität während dieser Krisis jemand noch zu behaupten, daß es eine allen Völkern und Fachgemeinschaften in gleicher Weise eigene Summe fester Erkenntnis über Kultur gibt? Die höchsten Führer des Geistes in England und Frankreich haben die Kultur des deutschen Volkes etwas Barbarisches geheißen. Und deutsche Gelehrte und Leiter des geistigen Lebens haben den englischen und französischen Menschen das gleiche nachgesagt. Was Barbaren sind, lässt sich bis zu einem hohen Grade objektiv feststellen, aber die Einzelwissenschaft hat sich einmütig dagegen ausgesprochen, daß dies überhaupt festgestellt werden könne, und so ist denn dieser Begriff vogelfrei und wird als Geschoss der Beschimpfung verwendet, mit der die Einzelfachmänner hüben und drüben nicht gespart haben. Vor dem Kriege hätte niemand das Recht gehabt, die Unfähigkeit der Kulturwissenschaft, wie sie heute organisiert ist, auch nur eine einzige Lebensorientierung der Menschheit fest und sicher zu schaffen, klar hinzustellen. Fünf Jahre täglicher Beweise, wie nutzlos alle Versuche der Spezialisten sind, menschen- und völkerverbindend zu wirken, machen es zur Pflicht, sich offen einzugestehen: auf die alte Art geht es nicht weiter. Es ist einfach nicht wahr, daß wir eine objektive Kulturwissenschaft schon haben. Wozu länger so tun, als ob die Menschheit schon im Besitze eines solchen Gutes wäre, wenn dies doch nicht der Fall ist? Wozu die kläglichen Versuche altmodischer Internationalität weiterzuführen? Sie sind ja doch Selbsttäuschung. Man kann bei internationalen Gradmessungen ganz gut zusammenarbeiten, auch Landkarten lassen sich im gleichen Maßstabe von allen Staaten herausgeben. In allen Fragen, welche die Erde und die äußere Natur betreffen, wird sich auf dem bisherigen Boden weiter arbeiten lassen. Die Zusammenfügung ist aber doch nur eine mechanische. Die Grundvorstellungen, von denen man ausgeht, sind die gleichen. Ein Grad ist ein Grad und mißt 111,3 Kilometer, ob ihn ein Engländer anschaut oder ein Franzose.

Etwas ganz anderes ist es mit den Reichen des Lebens, die dort anfangen, wo der Mensch ins Spiel kommt. Da ist es mit der Einigkeit aus. Was ein Mensch ist, darüber sind nicht zwei Menschen auf der Erde einig. Jeder denkt anders über alles Menschliche, weil er von Grund aus ein anderer ist. Wie soll man da eine gemeinsame Menschenforschung einrichten? Was ein Volk ist, wissen heute nicht einmal diejenigen, welche immer von dem Auftrage sprechen, die kleinen Völker zu schützen. Und da soll Völkerforschung gemeinsam von allen ins Werk gesetzt werden. Was Menschheit ist, hat sich überhaupt niemand gefragt. Nicht etwa deswegen, weil es niemand interessiert hätte, sondern einzig darum, weil sich niemand getraut hat, an diese Frage als Forscher heranzutreten. Und so geht es weiter. Weiß heute jemand, was Kunst ist? Ist das Wesen des Staatlichen einwandfrei klargestellt? Sind sichere, von allen anerkannte Kenntnisse vorhanden, welche darstellen, was Wirtschaft, Recht, Sitte, Erziehung ist? Wer da in das Einzelne einzudringen sich müht, wird finden, daß in allen Hauptfragen des Lebens eine Nichtübereinstimmung vorhanden ist, die deutlich davon zeugt, daß es feste Grundlagen der Kulturwissenschaft bisher nicht gibt. Die Menschen stehen einander nicht bloß nach Völkern geordnet auf das feindlichste entgegen, sondern auch nach Parteien gegliedert und selbst nach Lebensanschauungen. Es ist notwendig, für ein und dasselbe Fach womöglich die Vertreter von entgegengesetzten Lehrmeinungen zu berufen, um der Gerechtigkeit und Allseitigkeit Genüge zu leisten. Haltlos schwanken die Meinungen der Fachleute gerade in allen zentralen Fragen des Lebens und neigen sich bald dahin, bald dorthin.

Ist es nicht eine dankbare Aufgabe, den Versuch zu machen, den Vorstellungen über Kultur Festigkeit und Gemeinsamkeit zu verleihen? Das und nicht mehr und nicht weniger ist die Aufgabe der Kulturforschung. Der Name spielt dabei keine Rolle. Comenius hat von Pansophia gesprochen. Wir sagen Kulturforschung.

Die Aufgaben der Kultur- und Menschenforschung sind klar geworden. Es gilt, die ungelösten Kulturfragen des Lebens, eine nach der anderen, in Angriff zu nehmen. Jedem einzelnen Menschen ist die Welt zurückzugeben, die er verloren hat, aus Kaufleuten sind ebenso Menschen zu machen, wie aus Historikern und Dichtern, aus Männern ebenso wie aus Frauen und Kindern. Wer selber darauf verzichtet hat, Mensch zu sein, wie jeder Nur-Spezialist und Nur-Volksgläubige, der kann niemanden zum Menschen machen. Wer aber darauf ausgeht, die großen Lebensaufgaben aufzulösen, der muss vor allem dazuschauen, daß er ein Mensch werde und die Wiedergeburt erfahre.

Menschwerdung zu befördern ist das Ziel der Kulturforschung, eine Menschenschule aufzubauen, in dem eine ganze Menschheit im Begriffe ist, zu werden, das ist das Ziel, über welches klares Licht gebreitet wird. Der Weg aber dahin ist das Leben. Wir hätten es uns nicht schaffen können, was die letzten Jahre gebracht haben. Millionen haben den Osten gesehen und in ihm gelebt; nicht als Reisende erster oder zweiter Klasse in den vornehmen Hotels und im Schlafwagen, sondern als Landeskinder mit dem Volke. Die alle, die durch Monate in den Karpathen haben hausen müssen, die von Kurland bis zum Schwarzen Meer wie in einem Lande gelebt haben, das sie sich seit der Kinderzeit und seit Gullivers Reisen nicht hätten träumen lassen, die werden uns verstehen. Wer aber daheim geblieben ist, dem werden unsere Worte so vorkommen, wie wenn sich jemand an die Tore der Welt hingestellt hätte, die Stützen des Daches umfassend und wie, wenn er dann am Hause gerüttelt hätte, bis es zusammenstürzte. Das Leben aber ist es, das die Kraft gibt, ein solches Riesenwerk zu vollführen.

Menschliches lässt sich nicht teilen. Jeder wird seinen Weg gehen, aber alle werden dasselbe werden. Dann erst wird das Verstehen zwischen Deutschen und Slawen, zwischen Westlichen und Östlichen Einzug halten und Österreich wird auferstehen. Der träumende Dichter wird erwachen und eine neue Kunst wird geschaffen werden. Dem Geschichtsschreiber wird es wie Schuppen von den Augen fallen, er wird Europa sehen. Und in dem Jubel, daß sie endlich wissen, was sie sollen, werden die Menschen an der Donau der ganzen Menschheit weit voranstürmen. Einem Springbrunnen gleich wird die Kraft aufspringen und niemand wird wissen woher. Man wird über das Alte lachen und die neue Freude wird mit einem Schlage äußeren und inneren Erfolg bringen.

Dies ist nicht Österreichs wegen gesagt, sondern um der Menschheit willen. Ist die Menschheit nicht ein größeres Österreich, liegt nicht angesichts der Weltstadt Europa die heilige Landschaft von Schantung in vollem Lichte der Sonne? Kennt aber Europa die Rätsel des Ostens? Gibt es jemanden in der westlichen Welt, der wüsste, was in der östlichen vergeht? Ist eine Gemeinschaft zwischen Westen und Osten da? Mag noch so stark Indien mit Europa staatlich verbunden sein, es gibt keine Gemeinschaft zwischen uns und jener tropischen Welt. Das alles ist erst aufzurichten. Ein Tor ist, wer sich einbildet, hier vor getaner Arbeit zu stehen. Es gibt keine Menschheit, sie ist erst aufzurichten und unser ist das Werk und der Auftrag.

Gibt es einen Dichter der Menschheit? Noch nie hat eines künstlerischen Menschen Auge die ganze Majestät der wirklichen Menschheit erschaut. Schiller und Goethe haben von ihr geträumt. Beide sahen hinüber zu den Brüdern im Osten und Süden, beiden aber entfiel alles Werkzeug des Geistes bei dem Gedanken an die Möglichkeit einer einstigen kommenden Menschheit. Wie Grillparzer von Österreich, so hat Goethe von der Menschheit geträumt und sein Lebenswerk zerbrach und er wurde stumm, als er sie gestalten wollte. Faust ist unvollendet geblieben und nur Bruchstücke bezeugen den harten Kampf des verzweifelnden Mannes, der erst kurz vor seinem Tode zur Einheit von Natur- und Geisteseinsicht gelangte. Es gibt keine Menschheitskunst. Wir müssen sie schaffen und wir wissen, wie wir zu ihr gelangen.

Gibt es ein Wirtschaftsleben der Menschheit? Gewiss nicht. Jeder schafft für sich und beutet so die Erde aus und das Leben. Der Gedanke der Gemeinschaft aller Wirtschaftsvölker muss erst geschaffen werden und wer sich soweit bringt, daß dieser Bau in ihm entsteht, wird der erste wahrhafte Wirtschaftsgestalter sein.

Es gibt keinen Staat der Menschheit! In wilder Bewegung bekämpfen einander die zügellosen Einbildungen von Weltfrieden und ewigem Kampfe aller gegen alle. Die Staatengemeinschaft der Menschheit, wie sie aus der Besonderheit der Lebenszwecke in allen Teilen des einen Gemeinwesens herauswächst, das die Erde heiß umspannt, und aus ihrem steten Wechsel nach dem Wandel des Lebens im Träger alles Staatlichen, in der Menschheit zu schaffen, ist eine Aufgabe der Zukunft.

Erfassung der Wirklichkeit ist hier besonders geboten, und wie Träume erscheinen die politischen Einbildungen der einander bekämpfenden Parteien.

Es gibt keine Geschichte und keine Geographie der Menschheit. Unbegründete Vorstellung ist die, die Wissenschaft in ihrer Vereinzelung wäre imstande, zur Einigung zu führen. Und wenn sich tausend Gelehrte, die ersten der Welt, die zusammen alles verstehen, was es überhaupt gibt, in einer Bücherburg von riesenhaften Ausdehnungen dreißig Jahre zusammensetzen würden, um sorgenfrei nichts anderem zu leben, als der Erschaffung eines Bildes der Menschheit, es würde ihnen so gehen wie den Völkern beim Turmbau zu Babel. Gott hat ihnen einmal die Sprache verwirrt und jeder versteht bei demselben Worte etwas anderes. Darum ist es besser, es setzt sich jeder auf seinen Karren und fährt heim. Universitäten und Akademien werden die unlösbare Aufgabe der Kultureinheit in alle Ewigkeit nicht auflösen. Wie Gespenster werden zwischen ihnen die Staaten stehen, auf deren Boden sie sich gestellt haben. Sie büßen damit eine Schuld, welche bei Begründung der Geistesforschung begangen wurde. Nur in voller Menschlichkeit werden die Lebensaufgaben der Menschheit gelöst werden.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Rhein als Schicksal oder Das Problem der Völker