Kapitel 4 - Die westöstliche Stimme.

Um zu verstehen, wie ein Strom, ein Gebirge, eine Entfernung von der See oder die Lagerung einer Landschaft inmitten anderer Landschaften das Schicksal eines Volkes mitbestimmen, scheint es nötig zu sein, den Blick ebenso auf die besonderen Bedingungen jeder Landschaft hinzulenken, wie ihn über die Welt schweifen zu lassen, die voller Wiederholungen, Ähnlichkeiten und Gleichnisse auf sich selber ist. Keine Landschaft zum Beispiel scheint jetzt wie ehedem in ihrem Schicksal und in ihren Anlagen so sehr ein Urbild der europäischen Großlandschaft zu sein, wie Österreich, — Österreich in jenem höheren Sinne, der mehr als ein untergegangenes Reich bedeutet. Auf diesen Breiten haben die aus Ost und West vorgeschobenen und tief ineinander verschränkten Völker und Volksteile, die zuletzt im Machtgebilde einer sinkenden Monarchie vereinigt waren, heute die Freiheit gewonnen, ihre natürliche Gemeinschaft auf dem natürlichen Boden neu zu bilden. Der Rhein fasst andere Stämme zusammen und durchströmt ein anderes Kulturgebiet als die Donau; dennoch erscheinen Rhein und Donau wie Gleichnisse voneinander, und das Gebot des westöstlichen Menschen gilt hier wie dort. Das künftige Schicksal Europas wird nicht mehr Gegenstand der Politik von Kabinetten sein, sondern Angelegenheit von Völkern, die Klarheit über sich selbst gewinnen. Nichts ist für Europa notwendiger als die Einheit der Auffassung vom Wesen der Menschen und von der Menschwerdung; die Einheit ihres schöpferischen Verhältnisses zum Boden, ihres unbeirrten Gleichgefühles zum Mitmenschen und ihrer Gefasstheit den außermenschlichen Kräften gegenüber. Im siebzehnten Jahrhundert sagte das auf seine fromme bibelgläubige Art der Menschheitsdiener Arnos Comenius. Das Wort dieses Weisen, zu einer Zeit geschrieben, die der unseren an Wirrnissen nicht nachstand, hat nicht auf Erden seinen festen Ort, sondern am Himmel; dort aber glänzt es, ein milder unerloschener Stern, noch heute über der Sintflut der Meinungen. Eines allein bildet den Unterschied zwischen seiner Erkenntnis und unserer Erkenntnis: nämlich, daß inzwischen das gesellschaftliche Problem der Masse und das Problem der gesellschaftlichen Schuld einen furchtbaren und drohenden Ernst gewonnen hat, und daß dieses Problem eine Lösung fordert, die nach Niederlagen und Siegen nur durch das Emporsteigen eines neuen Standes, des glaubensfähigsten, unverbrauchten, endet. Über den Unterschied der Diktion hinweg will ich es wagen, diesem kleinen Buch, das vom johanneischen Geiste spricht, ein Kapitel aus Comenius als Abschluß zu geben. Zur Hinleitung diene ein Aufsatz von Erwin Hanslik. Hanslik, als Urheber einer modernen Methode der Kulturforschung, bekennt sich zu der allmenschlichen Idee seines mährischen Landsmannes und europäischen Vorgängers Comenius. Das von ihm gegründete Institut für Kulturforschung mit seinen Arbeitsstätten in Wien und Berlin und den ihm befreundeten Gelehrten und Künstlern in vielen Ländern, hat sich seit einigen Jahren an die Aufgabe begeben, durch die Schaffung und Verbreitung neuer dem Leben entnommener Anschauungsmittel, durch Karten, Bilder und Filme die Schule des neuen Menschen zu schaffen, der Europas Hoffnung ist. Nichts, scheint mir, kommt so sehr dem Verlangen nach Ursprünglichkeit, Einfachheit und Geschlossenheit des Weltbildes entgegen, wie die Arbeit dieses Institutes, in der sich Erdkunde und Geistesforschung bewusst durchdringen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Rhein als Schicksal oder Das Problem der Völker