Kapitel 2 - Die Wertung des Stromes.

So wie einst nach langer Abhängigkeit von römischen Legaten, normannischen Herren und niederländischen Zwischenhändlern für die britischen Inseln eine Zeit anbrach, wo sie bestimmen konnten, daß nur Schiffe ihrer Flagge das Recht hätten, britische Häfen anzulaufen, und wo dann die Lage und die Tiefe dieser Häfen begann, die Lage von Städten und Industrien, die Größe der Schiffe, die das Meer befuhren, das Hinwegsinken von Herrensitzen, Bauernhöfen und Weideplätzen zu bestimmen, so wird eines Tages für das europäische Festland die Zeit anbrechen, wo sein geographisches Karma sich erfüllt, — als Vorzeichen eines neuen Geschichtsabschnittes. Belgien ist über seinen Kohlelagern eine einzige von Ruß überzogene Stadt geworden; ähnlich begann am unteren Rhein von Aachen bis Dortmund eine Gruppe von Städten zu einer von acht Millionen Menschen bewohnten Siedelung zusammenzuwachsen, die nach allen Seiten weiterstrahlt; die Wirkung dieser Zusammenballung von Massen zeigt sich erst in dem Augenblick, wo der hier emporgewachsene Mensch, als der anklagende Typus, der er ist, die Schlacken historischer Formen von sich schüttelt. Es werden einst am Bodensee, wenn der Rhein seine noch halb verschlossenen Pforten öffnet, die Voraussetzungen für eine Siedelung entstehen, die gar nicht notwendig den Charakter einer Großstadt im älteren Sinne zu tragen hätte, um dennoch aus den lebendigen Kräften des Wassers eine Menschenbevölkerung zu empfangen, deren Regsamkeit nach allen Seiten Europas verspürbar ist. Das Emporwachsen immer größerer Siedelungen auf dem Kern der alten Handelsstädte am unteren Neckar und Main, in deren Hafenvierteln die Schiffer von der Donau, vom Rhein und von der Rhone sich begegnen werden, gehört zu den Perspektiven Europas ebenso wie ein neues westöstliches Wien und Prag. Unendliche Komplizierung gipfelt in Vereinfachungen; das Schwergewicht der Massenentwickelung durchstößt auf dem runzeligen Boden Europas die alten Trennungsschranken der Nationen und lässt das bisher Unverbundene zusammenfließen. Geschieht es, daß über das Nationale hinweg auch nur eine Zeitlang die revolutionäre Interessengleichheit der werktätigen Massen Geltung erlangt, so entstehen neue Staatsformen, vielleicht neue Nationen, deren Heimat eine Gemeinde der Gemeinden, die Korporation, die Großkommune ist.

Gegenwärtig stauen sich an den Pforten von Antwerpen und Rotterdam die Güter für den zerstörten, nicht aufnahmefähigen, ausgeplünderten mitteleuropäischen Markt; zwischen diesen Seehäfen der Küste und den Seehäfen am Strome tief im Innern des Landes sind die unübersteiglichen Unterschiede der Geldwährung; unnatürliche Grenzen zwischen Ländern, die geographisch eine einzige Landschaft bilden. Die im tiefsten revolutionäre Lage Europas ist die Folge solcher Umstände, die auch in ihrer früheren, schwächeren Form die anarchische Entwickelung des Welthandels und des aus ihr emporgewachsenen Geldwesens begünstigten. Die jetzige Krisis äußert sich notwendig vor allem als Krisis der Großstädte. Das beweist, daß das System und die Methoden, die der bisherigen kapitalistischen Entwickelung zugrunde lagen, die letzten Folgen der Massenentwickelung außer acht ließen. Europa ist nicht übervölkert, nur gewisse Städte sind es; das flache Land ist verwahrlost, es ist beinahe menschenleer zu nennen; gewisse Striche sind es mehr als andere; aber die Menschen dulden ja noch Missernten, schlechten Boden, rauhe Lage, Frost, Wind, schlechtes Klima. Seit Jahrzehnten flohen die Menschen vom Lande, dessen sie nicht Herr wurden, in die Städte, in den Machtrausch der Industrien. Der stoische, in Unwissenheit erzogene europäische Bauer lässt sich von Chinesen beschämen, statt das Beispiel seiner Brüder in Flandern oder Bulgarien, statt die Gärtner von Erfurt oder Genf nachzuahmen, statt im industriellen Maßstabe das Rüstzeug von Mauern, Glas, Elektrizität, Regenanlagen und Humusfabrikation, anzuwenden; er begnügt sich noch immer mit einer mäßigen und unsicheren Ernte statt mit drei Ernten im Jahr. Muss ihm nicht am Ende doch der Industriearbeiter den Weg zeigen? Angesichts der heutigen Not ist es erforderlich, daß Kolonnen von Ingenieuren, Arbeitern, Siedlern auf das flache Land hinausziehen, so wie sie einst in den Krieg zogen; daß sie so lange in Baracken und Unterständen wohnen bis der Stellungskrieg gegen den Boden gewonnen ist, bis dieser Boden jedem Menschen sein Dach und seine Nahrung hergibt. Wenn der Hamburger Leberecht Migge das deutsche Volk zur Technisierung des Bodens, zur Vergärtnerung der Landwirtschaft aufruft und den schnell entstandenen Städten des 19. Jahrhunderts ihren Tod ansagt, so spricht er in anderen Worten dasselbe aus wie Franz Oppenheimer mit seinem Vorschlag zur Sozialisierung des großen Grundbesitzes und seinem Aufruf zur intensivsten Bewirtschaftung des bisher lässig bewirtschafteten Landes, zum sofortigen Abmarsch des Proletariates auf das Land.


Aber noch keinerlei Ansätze, nur vereinzelte Stimmen zur Neugestaltung erheben sich mitten im Zusammenbruch des bisherigen Industriesystemes und der bisherigen Städteentwickelung. Die Folgen dieser Entwickelung liegen unerbittlich in der Revolutionierung der Landwirtschaft, in der Umgestaltung des kapitalistischen Unternehmerwesens durch neue genossenschaftliche Unternehmungsformen wie der Gilden, und in der konstruktiven Umgestaltung der städtischen Kommunen durch die planmäßige Weiterführung der Kommunalisierung der in ihrem Innern befindlichen Unternehmungen, und des Zweckverbandes mit Nachbarkommunen. Die Propaganda für Gutsräte und Kleinbauernräte, diese Anfänge einer sozialen Revolution auf dem Lande, mit ihrem praktischen Ziele der Annäherung der ländlichen Arbeiter an die Industriearbeiter, hat in der Tat nur einen negativen und produktionsfeindlichen Sinn, solange sie sich unterhalb des Gedankens der städtisch-ländlichen Produktionseinheit bewegt. Erreicht die Annäherung der Bauern und der Arbeiter diese Einheit, so muss sich die negative Bedeutung, die sie anfänglich besitzt, in eine positive verwandeln, die Einführung industrieller Methoden in die Landwirtschaft und die Befreiung der städtischen industriellen Produktion vom proletarischen Elend werden die Folge sein. Die tragische Entfremdung zwischen Stadt und Land ist heute der Nährboden des Bürgerkrieges; sie ist lange durch die Kurzsichtigkeit und den Egoismus der herrschenden Klassen gefördert worden; sie wird in Zukunft ebenso fallen müssen, wie die nationale Fessel der Wirtschaftsgebiete, diese Ursache der modernen Kriege.

Was den Gedanken der Industriegewerkschaften oder der Gilden betrifft, so hat in den Industrie Zentren bereits die Zusammenballung der Hand- und Kopfarbeiter begonnen, die ihr Schwergewicht der ewig zitternden, beweglichen, börsenmäßigen Kurve des Dividendenertrages und seiner Schreckensherrschaft entgegenstemmt. Es gibt Heimaten der Kohle und der Wasserkraft, der Maschine und des Motors; dort, scheint es, wird der Kampf um das Recht auf einen neuen Anfang bald in den Konkurrenzkampf zwischen den sozialisierten und den noch nicht sozialisierten Unternehmungen übergehen. Und was endlich die Zukunft der Städte anlangt, so scheint es, als werde ihre aus der Katastrophe geborene Steuerpolitik in kürzeren Jahren jene Mitbestimmung der Arbeiterklasse und jene Aufschließung der Städte gegenüber ihrer Umwelt herbeiführen, als es durch schnellfertige Sprengkommandos und mühsamen Wiederaufbau möglich wäre.

Wir betrachten hier, wie das Schicksal unseres gesamten Lebensraumes in Europa, das Schicksal der Rheinlandschaft unter dem Gesichtspunkt des Klassenkampfes. Im Rheinland hat sich in der Geschichte Deutschlands ein entscheidender Teil des mittelalterlichen Klassenkampfes abgespielt. Hier haben sich schon unter den staufischen Kaisern die Bürger im Bund ihrer Innungen und Schutzgilden erhoben, um die Gewalt der Herren und der Bischöfe abzuschütteln. Der große rheinische Städtebund überdauerte die Zeit des Interregnums und errichtete im Landfrieden sein eigenes vollständiges Verfassungsgebäude, das freilich in der späteren Reaktion zur Reichsstandschaft verkümmerte. Damals haben diese rheinischen Städte dem Prinzip der Konföderation in Deutschland Bahn gebrochen; sie waren die prophetischen Vorkämpfer des dritten Standes, Vertreter des uralten Volksrechts und der Gemeinfreiheit gegen geistliche und fürstliche Herrschsucht. Heute vollzieht sich auf dem Boden des ganzen Industrie-Deutschlands, diesem klassischen Boden der sozialen und geistigen Kämpfe, der herbe, auf neue Gesellschaftsformen drängende Aufstieg des vierten Standes. Die Weltrevolution wird auf deutschem Boden erst dann zur Etappe, wenn die Entscheidungsschlacht geschlagen ist. Nach dem Gesetz des geringsten Widerstandes, doch nach den Grundbedingungen, die überall die gleichen sind, hat die proletarische Revolution im östlichsten Lande Europas ihren Ausgang genommen. Aus dem Hirn der aus dem Rheinland hervorgegangenen Denker Karl Marx und Friedrich Engels ist sie geboren worden. In dieser Landschaft und nirgends sonst wird sie ihre den Deutschen angemessene europäische Form finden.

Die Lage in den mitteleuropäischen Landschaften ist eine andere als in den russischen, das Arbeitsproblem der mitteleuropäischen Landschaften ist ein anderes als das der russischen; also auch das der großen Ströme. Aber es ist bei der jetzigen Sachlage nicht müßig, auf das, was unterm Einfluss der Revolution aus den Wasserwegen des Ostens geworden ist, einen Blick zu werfen.

In Russland hat der oberste Rat für Volkswirtschaft eine Hauptverwaltung der gesamten Wasserwege geschaffen. Diese zerteilt sich, nach den Hauptgebieten der russischen Wasserwirtschaft, in fünf Landesverwaltungen, und jede dieser Verwaltungen stützt sich an ihrem Orte auf die Gewerkschaftsverbände der Arbeiter der Flussschifffahrt und auf die landschaftlichen Wirtschaftsräte. Die Arbeiter an der Wolga nahmen, als die Unternehmer im Frühjahr 1918 sich weigerten, die üblichen Frühjahrsreparaturen an ihrer Flotte von Dampfern und Barken auszuführen, die Reparaturen selber in die Hand und brachten in der Schifffahrtsperiode des Jahres 1919 den Verkehr auf ihrem Strome wieder in Gang. Auf der nördlichen Düna retteten die Sowjets die Flottille vor den aus Archangelsk vorrückenden feindlichen Truppen; zwischen Newa und Wolga arbeiteten sie an der Verbesserung des Kanalsystemes; auf den wiedergewonnenen sibirischen Strömen begannen sie die Wiederherstellung der durch den Bürgerkrieg verscheuchten Schifffahrt.

Auf diese Weise ist in dem revolutionären Russland die Frage der Mitbestimmung an der Verwaltung der Naturgaben gelöst worden: sie ruht in der Hand des arbeitenden Volkes, und daran ändern auch die viel besprochenen Konzessionen nichts, die von der Sowjetregierung ausländischen Unternehmern erteilt werden. Denn diese Konzessionen geschehen unter solchen Sicherungen, daß weder die Souveränität, noch das Kontrollrecht der Rätemacht, noch ihre Arbeitsgesetzgebung angetastet wird. Allgemein und in allen Ländern aber lautet die Frage der Mitbestimmung: wie bringen die Werktätigen ihr Schwergewicht zur Geltung gegenüber den Versuchen, die auf eine Ausbeutung der Wasserwege für die Zwecke von Finanzkonsortien hinauslaufen? Wie das Bergwerk, wie der Acker, und wie jedes andere Produktionsmittel, so ist auch der Strom von seinem Ursprung bis zur Mündung in erster Linie Eigentum des Volkes, das die lebendigen Kräfte seiner Arbeit mit den Kräften der Natur zur schaffenden Einheit verbindet.

Um die Möglichkeiten eines Stromes, eines Bergwerks, eines Industriezweiges zu erkennen, dazu braucht man ein doppeltes Studium, nämlich das technische Studium am Objekt und zugleich das spekulative Studium der von der Umwelt gestellten Bedingungen. Was den Rhein anlangt, so braucht man das Studium der physikalischen Möglichkeiten dieses Stromlaufes und seiner Verbindung mit den anderen Wasserstraßen. Das Studium dieser Möglichkeiten ist zunächst eine Aufgabe der Fachleute, aber kein Monopol der Fachleute; es ist eine öffentliche Angelegenheit. Und es wird zur öffentlichen Angelegenheit, sobald es nicht nur die miteinander im Zustande der Eifersucht und des Misstrauens lebenden „beteiligten Regierungen“ und ihre pseudokosmopolitischen Kommissionen beschäftigt, sondern die Gesamtheit der im Stromland ansässigen Arbeitergewerke, Kommunen und Kammern. Die Ausbaufähigkeit des Rheines zu einem Wasserwege der Großschifffahrt wird längst behauptet. Es müsste dann doch auch das ideale, von Ingenieuren entworfene Bild des vollendeten, ausgebauten Rheines vorhanden und selbst in den Schulen darstellbar sein; und wie einst Napoleon oder Zar Nikolaus der Erste auf der Landkarte Linien zog, so müsste eines Tages die Industriegewerkschaft des Rheines oder der Zweckverband aller Gewerkschaften, Handelskammern und Kommunen des Rheines bestimmen: diese Möglichkeiten sollen Wirklichkeiten werden, die Arbeit ist in dem Maße fortzuführen wie sie Aussicht hat sich selbst zu bezahlen.

Jedermann weiß, daß zwischen Rotterdam und Basel die zwei oder drei Knotenpunkte dieses möglichen Ausbaues liegen; die natürlichen Absätze des energischen Wasserlaufs im Gelände zwischen diesen beiden Zielen bedingen sowohl die Möglichkeiten wie die Grenzen seiner Ausbaufähigkeit und seiner künftigen Leistungskraft. Aber man müsste diese technischen Perspektiven auf das genaueste kennen, um damit auf Grund der seit 1918 gegebenen Sachlage die politische Perspektive des Rheinlandes klarer zu sehen als durch die Brille des Annexionismus auf der einen Seite und des nationalen Zentralismus auf der anderen. Denn solange nicht die Grundlagen der Technik des Stromes allen, die an seinen Ufern wohnen, bekannt sind, ist eine neue und fruchtbare Erörterung gar nicht möglich. Vielerlei Tendenzen für eine künftige politische Gestaltung des Rheinlandes sind vorhanden, die mit den natürlichen Entwickelungsbedingungen nicht das mindeste zu tun haben, ja ihnen gerade zuwiderlaufen. Es gibt eine Politik, die an dem Strom schmarotzen will, einerlei, ob andere daneben verkümmern; und es gibt eine andere Politik, die aus Mangel an Mut einer neuen Sachlage gegenüber in völliger Passivität verharrt. Es finden sich politische Tendenzen der kleinen partikularistischen Art, die nichts anderes als anarchisch sind, wenn man auf das Gesamtbild der Landschaft und der europäischen Zukunft hinschaut; es gibt hier einen kirchenstaatlichen Zug, der nicht nach vorwärts, sondern in das Mittelalter und nach Rom zurückweist, das seit einem Jahrtausend diese Landschaft kolonisierte und die Regungen eines selbständigen Geistes jetzt wie in vergangenen Zeiten zu unterdrücken sucht. Aber schon immer, schon seit 1868 und nicht erst seit dem Frieden von 1919, der die Internationalität des Stromes aufs neue bekräftigte, steht der Rhein allen Flaggen offen; außer der deutschen und der holländischen, die in der vergangenen Epoche am meisten auf dem Rhein zu sehen waren, werden nun auch die belgische, die englische, die französische und die schweizerische Flagge sich hier entfalten; praktisch gesprochen, die Flagge aller seefahrenden Nationen, denn es besteht kein Grund, die amerikanische oder die schwedische von dem Wege nach Mannheim oder Basel auszuschließen.

Frankreich aber macht die Absicht bekannt, den Oberrhein ausschließlich zur Gewinnung motorischer Kräfte auszunützen, die den Industrien von Mülhausen, Colmar und Straßburg dienen sollen; die Schiffbarkeit auf diesem Teil des Laufes dagegen auf einen Kanal zu verweisen, der zwischen Basel und Straßburg angelegt werden soll. Es ist anzunehmen, daß es sich dabei um den Ausbau des Rhein-Rhone-Kanals handelt, von dem man in den vergangenen Jahrzehnten nicht viel Gebrauch gemacht hat, der aber wohl von seinen Erbauern als ein Teil des großen französischen Kanalnetzes angelegt war, das zwar die Wasserverbindungen der gesamten Fläche auf der Landkarte Frankreichs erschließt, aber an dem Missgeschick leidet, nicht voll ausnutzbar zu sein, da die Niederschläge nicht genügen, um dieses künstliche Aderwerk das ganze Jahr hindurch mit schiffbarem Wasser auszufüllen. Der neue Kanal zwischen Basel und Straßburg soll, wie es heißt, die Bedeutung eines Großschifffahrtswegs erhalten. Man denkt daran, ihn an das französische Kanalnetz anzuknüpfen; er soll den Rhein durch einen Ausbau des Doubs, der Saone und der Rhone mit dem Mittelmeer verbinden; er soll Schiffe bis zu 1200 t Gehalt ohne Umladen vom Unterrhein nach Lyon, nach dem Mittelmeer führen. Auf diesem wichtigen Kanal wäre indessen die Schifffahrt weder für Deutschland, noch für die Schweiz, noch für andere Staaten frei. Der Kanal wäre, so weit er den Rhein begleitet, ein Raub an Deutschland, denn er würde den Wasserweg zerstören, der bisher den beiden einander am Oberlauf gegenüberliegenden alemannischen Ländern gemeinsam gehörte; für die Schweiz würde er die endgültige Abschneidung von der freien Verbindung mit der Nordsee bedeuten; er würde den Rhein in eine Sackgasse verwandeln.

Im Unterschiede gegen andere Ströme Europas, deren Benützungsdauer aus meteorologischen Ursachen eine geringere ist, kommt dem Rhein eine besondere Gunst geographischer Verhältnisse zustatten. Die Zeit der Benutzbarkeit dieser Wasserstraße geht erst unterhalb Kölns auf eine Dauer zurück, die für den Rhein in seinem ganzen Lauf gelten würde, wenn er nur von Mittelgebirgen her mit Wasser gespeist würde. Der Rhein hat zwischen Straßburg und Mannheim eine Fahrwassertiefe von anderthalb Meter. Um auch seinen Lauf oberhalb Straßburgs in einer Weise schiffbar zu machen, wie es bisher rheinaufwärts bis Straßburg möglich war, müsste also die künftige Fahrrinne zwischen Straßburg und Basel die gleiche Tiefe haben. Man denkt wohl an eine Fahrwassertiefe für diesen Kanal von mindestens zwei Meter. Um einen solchen Fahrweg für die Schifffahrtsbeziehungen zum Unterlauf des Rheins ausnützen zu können, müsste also auch die Strecke zwischen Straßburg und Mannheim auf zwei Meter Tiefe ausgebaut werden, eine Aufgabe, die denen zufiele, die an den Ufern zwischen Straßburg und der Neckarmündung zu gebieten haben. Warum aber nicht gleich diesen Ausbau noch günstiger zu gestalten, so daß er der Fahrwassertiefe zwischen Mannheim und St. Goar nahekäme? Von Köln ab ist der Rhein zu bestimmten Jahreszeiten für mittlere Seeschiffe fahrbar. Von dort ab bleibt die Rinne drei Meter tief. In Köln waren vor 1905 bereits 40 Seeleichter von 600 bis 1100 Lasttonnen und 33 Dampfer, die den mittelgroßen Seeschiffen entsprachen, beheimatet. Englische und holländische Schoner fuhren bis Köln den Rhein herauf. Seit dem Frieden gibt es wieder eine direkte See-Verbindung zwischen Köln und London. Die Engländer bezeichnen Köln als einen der wichtigsten Häfen Europas.

Was eine Steigerung der Schiffbarkeit des Stromes bedeuten würde, geht daraus hervor, daß die gesamte Flotte des Rheinstroms um das Jahr 1910 mit allen ihren Frachtdampfern, Tauereidampfern, Güterdampfern, Dampffähren, Barken und Kähnen bereits 3370000 Lasttonnen zu befördern vermochte. Das entspricht der Leistung eines Wagenparkes von 3.370.00 Eisenbahnwagen. Jede Steigerung der Schiffbarkeit des Rheines bedeutet also nicht nur eine weitere Öffnung der eigentlichen Rheinlandschaft zur Welt, sondern auch eine Kräftigung aller übrigen Verkehrsmittel, und die Schifffahrtsverbindung zwischen Rhein und Donau, der die neuen Mainhäfen bei Gustavsburg und bei Frankfurt schon angemessen wurden, dieser künftigen Straße zwischen Südfrankreich und dem Schwarzen Meere, würden den Verkehr vieler neuer Länder miteinander vom Unbestand des Meeres und seiner Beherrscher unabhängig machen.

Frankreich hat begonnen, sich lebhaft mit den Fragen der Rheinschifffahrt zu beschäftigen. Aber alle diese Erörterungen sind typisch nationalwirtschaftlich. Sie fußen auf Gewaltanwendung, Konflikt und Ausbeutung. Auf ihrem imperialistischen Wege betrachtet offenbar die französische Politik zunächst eine Förderung der direkten Verbindung zwischen Straßburg und Antwerpen als ihre dringendste Aufgabe. Maurice Panzani schreibt in der Economie Financiere, November 1919:

„Als Deutschland seine billigen Tarife einführte und seine Flusshäfen aufs modernste ausstattete, war es vom Bestreben geleitet, den Rhein so weit als möglich nur in den Dienst des deutschen Handels und der deutschen Industrie zu stellen. Deutschland versuchte den Rhein nicht nur von Belgien und Frankreich, sondern auch von der Schweiz und von der österreichischen Donau zu isolieren. Deutschland legte seine wirtschaftliche Hand auf Rotterdam, um den Rhein zum ausschließlichen Werkzeug Krupps und Thyssens zu gestalten. Mit dem Frieden von Versailles wurde der Rhein jedoch wieder frei; dieses darf man vielleicht als das wichtigste wirtschaftliche Ergebnis des Friedens bezeichnen.

Unter den Häfen am Rhein wird in Zukunft Straßburg einen besonderen Rang einnehmen. 1893 betrug der Verkehr 360.00 Tonnen, 1895 156.000 Tonnen, 1896 354.000 Tonnen und 1901 570.000 Tonnen, aber der eigentliche Aufschwung begann erst nach Abschluß umfangreicher Vergrößerungsarbeiten, deren Kosten die Stadt auf sich nahm. 1913 stieg der Verkehr auf 1.989.000 Tonnen. Straßburg kam unmittelbar nach Ruhrort und Mainz-Gustavsburg. Heute können Schiffe von 1.200, 1.800 und 2.400 Tonnen Wasserverdrängung in Straßburg einlaufen. Die elektrischen Hebevorrichtungen gestatten raschesten Ein- und Auslad. Zahlreiche Getreidespeicher sind vorhanden, gewaltige Mühlenbetriebe haben sich dort niedergelassen.

Die belgische Flussschifffahrt war an dem jährlich auf 15 Kilometertonnen berechneten Rheinverkehr mit 23 Prozent beteiligt. Dieses konnte erreicht werden dank dem großen Schiffsmaterial und dem Vorhandensein eines geschulten Schiffspersonals, das nicht weniger als 15.000 diplomierte Träger umfasste. So konnte Belgien den Wettbewerb mit den staatlich stark subventionierten und vortrefflich ausgerüsteten deutschen Rheinschifffahrtsgesellschaften aushalten.

Heute will Frankreich, nachdem es wieder Rheinuferstaat geworden ist, mit seinem deutschen Nachbarn auf dem Gebiete der Rheinschifffahrt den Kampf aufnehmen. Aber angesichts des Mangels an geschultem Personal und an Schiffen wird ihm dies schwer fallen. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen drängt daher sich auf diesem Gebiet eine französisch-belgische Interessengemeinschaft auf, wobei Frankreich seine Autorität am Rhein und seine Finanzkraft in die Wagschale zu werfen hätte. Belgien würde sein schwimmendes Material und sein geschultes Personal als Einlage bringen.

Straßburg wird morgen schon mit den bedeutendsten deutschen Rheinhäfen den Wettkampf aufnehmen können. Wenn der Rhein-Scheldekanal ausgeführt und wenn seine Bassins durch eine künstliche Wasserstraße mit dem Meerdijck verbunden sein werden, muss Antwerpen ein Rheinhafen werden wie Rotterdam. Da Belgien sich das Recht vorbehalten hat, den Rhein Maas-Kanal zu bauen, der gleichsam ein Nebenfluss des Rheins sein wird, so wird Antwerpen in höherem Grade als Rotterdam von der Verstärkung des Rheinverkehrs Vorteil haben können. Die Schaffung einer großen Wasserstraße Schelde-Rhein-Maas erhebt Antwerpen zum Verbindungsglied zwischen England und Westfalen. Die wachsende Bedeutung Straßburgs wird Antwerpen zum ersten Hafen des Kontinents erheben.“

Das, worauf es in der gegenwärtigen Lage des gesamten Rheinlandes ankommt, ist aber nicht der Kampf, sondern die Einheit. Wie weit die frühere Art der Verwaltung im Rheinland und das Wirken der Rheinkommission in Mannheim dieser Vereinheitlichung der Landschaft Rechnung getragen, wie weit sie ihr entgegengearbeitet hat, diese Frage zu beantworten, fällt den Wissenden nicht schwer; aber es ergibt sich aus der jetzigen Sachlage, daß der Bau eines Schifffahrtskanals von Basel nach Straßburg und die Verwandlung des Rheines in eine Sackgasse nicht allein eine Angelegenheit des Elsaß, also ebensowenig nur eine Angelegenheit Frankreichs ist, sondern auch eine Angelegenheit, an der das deutsche und das schweizerische Volk nicht weniger beteiligt ist als die Holländer und die Italiener, die über die Schweiz her ihre Beziehungen zum Rheinland zu beleben wünschen, wie der Amerikaner, denen die Frachtsätze für Verschiffungen bis Basel ebenfalls ein Interesse bedeuten. Der Bau eines Kanals, der einem einzigen Staat am Rhein allein gehörte, wäre ein Schlag gegen die Welt-Gemeinnützigkeit der Wasserstraße. Es liegt also im Interesse aller, die an den Rheinufern wohnen, diese Frage mitzubestimmen und hier von vornherein sich ihres Gewichtes, ihrer Wünsche und ihrer Machtmittel bewusst zu werden. Eine zwischengewerkschaftliche, interindustrielle, intersoziale und internationale Gilde, die nichts zum Gegenstande hat als die beste Vertretung der spezifisch rheinischen Interessen, würde durch ihre Machtmittel imstande sein, den Schlag, der gegen den Rhein geführt wird, abzuwehren. Das Zustandekommen einer solchen Gilde, einer solchen summarischen Verwaltung der Produktivkraft des Stromes müsste allen Beteiligten ein Gegenstand des Nachdenkens und Ziel des Willens sein. Allerdings hat diese ganze Rechnung ihre prinzipiellen Voraussetzungen. Zunächst ihre theoretischen, von denen wir gesprochen haben, zweitens ihre praktischen, deren Lösung nicht so sehr jenen Regierungen überlassen bleiben sollte, die von entlegenen Hauptstädten her die Rechte von Anliegern geltend machen, sondern vielmehr die Gesamtheit derer angeht, die den Ausbau des Rheines fordern sollten, also die werktätigen Bevölkerungen von Antwerpen und Rotterdam bis Straßburg und Basel. Der Wille dieser gesamten rheinländischen Bevölkerung, der Schiffer wie der Bauern, der Werftarbeiter wie der Industriearbeiter, der freien Berufe wie der Techniker und Direktoren in ihrer Vereinigung müsste gegen alle Hindernisse des privaten Interesses seinen Ausdruck schaffen und zum Durchbruch kommen. Das gemeinsame Arbeitsproblem müsste sie zu Beratungen und Handlungen zusammenschließen, die ohne den entschiedenen und positiven Zug einer neuen Heimatliebe und des Verlangens zur Betätigung der Kräfte in einer von Grund auf erneuerten Gemeinschaft, die alte Trennungen niederschmilzt, nicht denkbar sind.

Die englische Zeitschrift „Nation“ hat vor einiger Zeit zur Lösung eines internationalen Problems, das sich in Westeuropa bietet, den Vorschlag gemacht, aus der Schweiz, Elsaß Lothringen, Luxemburg, Belgien, Holland einen neutralen Streifen zu bilden, dem die Ehren und Verantwortungen, der Charakter und die Garantien eines Pufferstaates zwischen Mitteleuropa und Westeuropa zufielen. Ein Plan dieser Art ist nicht nur typisch durch seine Kontinentalfremdheit. Er scheitert an der Künstlichkeit dieser Fiktion eines Staatenbundes, der über einen verbindenden Landweg nicht verfügt, nicht einmal über eine Schnellzugsstrecke, die einen trocknen Rhein darstellen würde; er scheitert ebenso an der Hauptrichtung der zahlreichen, stets von West nach Ost gerichteten Verkehrswege, die diesen Streifen durchziehen, ganz abgesehen von der inneren Unmöglichkeit, Gebiete, die niemals durch das Feuer eines gemeinsamen Schicksals gegangen sind, auf die Dauer miteinander zu verbinden. Nur die soziale Revolution kann im heutigen Europa das gemeinsame Feuer sein. Wo aber die Werktätigen — und zu ihnen zählen mit gleichen Rechten die bisher als Kaufleute bewährten Organisatoren, die Künstler, Gelehrten und Ingenieure, sofern sie nicht in dem Wahn befangen sind, das Privileg einer absteigenden Klasse stützen zu müssen — wo einmal die Werktätigen ihren Einfluss auf die Ausgestaltung des Rheins zu einer entscheidenden europäischen Verkehrsstraße geltend machen, dort werden sie über die alten staatlichen Grenzen und Hoheitsrechte einfach hinweggehen und ein Gebilde schaffen, das uns zwar heute noch als international erscheint und doch keineswegs international wäre in dem Sinne einer Fremdheit gegen die Interessen der dadurch berührten großen Landschaft. Es wäre nicht international, sondern übernational, wie ein ähnliches Gebilde, das an der Donau entstände, übernational wäre. Die Ausführung eines solchen Gedankens, der einen von der Natur gegebenen Lauf des Stromes zu einem Wege umgestaltet, der wichtige Breiten des inneren europäischen Festlandes erst wirklich mit den Hochstraßen der Welt verbindet, wäre nicht nur die Verwirklichung von alten Plänen der Ingenieure. Es würde das Recht der Werktätigen zum Gebrauche bringen, und er würde aus der Befriedigung der Bürger in diesem Teile der Welt die Grundlagen für eine Politik der langen Friedensperioden erstehen lassen.

Eine Frage freilich ist dieser Rechnung vorzusetzen, die wichtigste: nämlich die Frage nach dem Glauben an Europa. Wenn wir Europa, und zunächst den Ländern, die in seiner Mitte liegen, die Prognose stellen müßten, daß die Zeit des Niedergangs unabsehbar sei, so mögen wir diese Pläne ruhig in den Ofen stecken und aus der Dachstube des Poeten auf die Politiker hinunterspucken, die ihren Froschmäusekrieg in der Gasse weiterführen. In dem jetzigen Deutschland ist die Staatsgewalt bereits zu einem Teile in den Händen der Werktätigen, aber erst zu einem Teile. Der Kampf zwischen den sogenannten besitzenden, bisher herrschenden Klassen in Deutschland und den bisher Besitzlosen ist noch nicht abgeschlossen, aber die Zersetzung des Kapitalismus geht ihren raschen Gang. Trotz aller Rückschläge werden die Massen auf ihrem Wege zur Macht nicht eher Halt machen, als bis für den bestimmenden, geistig führenden und wollenden Teil in diesen Massen der Gegensatz der Klassen überwunden und aus dem alten Bürgertum mit seinen alten Ideen ein neues Bürgertum mit neuen Ideen gebildet ist. Neue Ideen schaffen aber auch neue Beziehungen. Eines Tages wird sich die soziale Umgestaltung Europas in einer Weise vollzogen haben, daß die Knospen neuer ökonomischer und geistiger Entfaltungen sich öffnen. Und diese Entfaltungen werden in einer Weise vor sich gehen, die in den werktätigen Massen keinen Rest des Grolles übrig lässt, den sie jetzt gegen die Weigerer ihres Aufstiegs empfinden.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Rhein als Schicksal oder Das Problem der Völker