Kapitel 1 - Der Rhein als Schicksal.

Deutschland ist von den gewaltigen Ideen, denen es zur Zeit seiner äußeren Kraft gefolgt war, in schwere Leidenstage geführt und verlassen worden. Nicht mehr die geschienten und gepanzerten Engel sind seine Begleiter, sondern die milden, großen, wohlbekannten, die in seiner Geschichte eine Zeitlang zurückgetreten waren. Ohne den Weg der geistigen Stürme zu kennen, die über unser Haupt weiterbrausen, stehen wir ahnungsvoll im Wellenschlag des Meeres, in dem der Aufstieg und Zerfall der Reiche sich vollzieht.

Wir betrachten mit Sorge das Schicksal des ganzen Volkes, aber auch das Schicksal der einzelnen, uns vertrauten Gesichter; das Schicksal des ganzen Landes, aber auch der einzelnen, uns vertrauten Landschaften. So betrachten wir das Schicksal des Rheinlandes, gerade dieser Landschaft, wo der Krieg in einem unblutigen letzten Weiterstürmen Halt machte und sich niedersetzte.


Die Romantik betrauerte einst mit ihrer zarten Geste den Zerfall und das Schweigen jener kleinen Städte und der Burgen, deren Leben durch einen großen Verkehr von Menschen und Waren in der weiten und vielgefalteten Rheinlandschaft bedingt gewesen war. Die Romantik besang den Sieg der Zeit über die Kraft. Die ökonomisch gestimmten und auf die Messbarkeit der Erdkugel gerichteten Betrachter der jüngeren Zeit erblickten in dem von Bismarck gebauten Reich ein Wiederaufleben dieser Landschaft in der Fülle und Energie des Lebens, die dem Lauf des Stromes in der Richtung zum Meere, oder aufwärts in der Richtung zu den Quellen folgte; in einer fast automatisch lebendigen Ordnung, die das Naturschöne dieser Landschaft wie das Märchenhafte in den Menschen niederzuwalzen und zu begraben drohte. Heute — ach, heute — schwanken wir in unseren Stimmungen; heute berührt uns das, was gestern war, was morgen werden kann, mit Wehmut; fast unwillig sehen manche von uns im Rheinland die Entfaltung eines fremdartigen Lebens, dessen Idee uns neu ist und uns doch mit Staunen erfüllt über die Kräfte und die Möglichkeiten des Stromes, an dem wir wohnen. Aus diesen Kräften und Möglichkeiten schöpfen wir Mut. Und wir erkennen, wie sehr das Schicksal dieser Landschaft wiederum ganz und gar in den Kräften des Stromes ruht.

In der tragischen und erneuernden Hervorhebung der rheinischen Frage, als einer deutschen und einer europäischen Frage zugleich, zeigt sich, wie sehr gerade der Strom das Schicksal dieser Landschaft ist. Er ist es als Verkehrsstraße, die durch ihr fließendes Wasser das Verbindende zwischen Hier und Dort stärker wirken lässt, als das Trennende der Entfernung; und er ist es als Graben, den der Strom mit seinem spiegelnden Wasser scheinbar einebnet. Der Rhein ist eine Verkehrsstraße in doppelter Beziehung. Er ist es durch die Schifffahrt, er ist es aber auch durch den Schnellverkehr, der die an seinen Ufern ruhenden großen Städte, rascher als die Schifffahrt es vermöchte, miteinander verbindet. Nicht nur das Wasser selbst in seinem Lauf und mit seinem tragenden Rücken, sondern auch die Richtung und die Schienen und Fahrwege, die seinen Lauf begleiten und gleichsam verstärken, sind das Rückgrat der einigen und großen Landschaft. Das Wasser aber bleibt die Hauptsache mit seinen beiden Eigenschaften der Schiffbarkeit und des Druckes, der in motorische Kräfte umgesetzt zu werden vermag. Es gibt Ströme, die mehr Wasser führen als ein Strom von so mittlerer Größe, wie der Rhein es ist, und doch viel weniger Schiffbarkeit haben, weil entweder ihr Lauf kürzer oder verwickelter ist, oder weil ihre Zuflüsse unregelmäßig sind und einander nicht so vortrefflich ergänzen, wie die Zuflüsse des Rheins, die ihm vom ersten Frühjahr an Wasser geben bis in den trockenen Sommer hinein, der die Gletscher der Alpen zum Schmelzen bringt. Der Rhein ist auch ein Graben in doppelter Beziehung. Wie betont er die an sich geringfügigen landschaftlichen und volklichen Unterschiede zwischen den beiden Ufern, liefert die durch ihn getrennten Hälften ganz verschiedenartigen Einflüssen aus und verbrüdert doch auch wieder die Ufer durch den gemeinsamen Besitz des Rheins, dieses Bandes unauflöslicher Verwandtschaft und Gemeinschaft aller, die vom alemannischen Elsaß und Baden bis zu den Niederlanden an seinen Ufern wohnen. Diese Fülle, Vollständigkeit und Ganzheit der rheinischen Landschaft, als Verkehrslandschaft sowohl wie als Bodenfalte, als Mittelgebirgsland oder als Flachland, ist es mit allen den wirtschaftlichen, sozialen, politischen und geistesgeschichtlichen Folgen, die den Charakter des rheinischen Volkes aus lauter doppelten, gleichsam rechts- und linksuferigen Bestandteilen zusammengesetzt und durch die natürliche, fruchtbare Schönheit des Landes zur Form gebildet, ja oft in das Freudige gesteigert hat.

Inwiefern ist die rheinische Frage eine deutsche, noch mehr aber eine europäische Frage geworden? Wenn ich versuchen will zu sagen, worin ich das Verbindende zwischen der rheinischen, der deutschen und der europäischen Frage erblicke, und zwar gerade am Beispiel dieser Landschaft, die als erste berufen scheint, ein tiefes Gefühl für diesen innersten Zusammenhang zu gewinnen und zu pflegen, so bedarf es einiger Erörterungen, die uns scheinbar von dem Thema des Landschaftlichen abseits in das Geistige führen, aber vielleicht für die Erkenntnis dessen, was in dieser Landschaft an Kräften verborgen sein muss, von Nutzen ist. Ich spreche zunächst von der europäischen Frage insoweit, als auch die rheinische Frage einen Teil von ihr darstellt und in ihrem Rahmen Parallelen findet; ich spreche dann von dem treibenden religiösen Element in den Bewegungen der Gegenwart, das ich in dem Streben nach Einheit und Einschließlichkeit erblicke; und endlich, ehe wir zum Thema wiederkehren, soll über Europa als Gegenstand der Erkenntnis und als Mysterium einiges gesagt werden.

Durch die Bedingungen des abgeschlossenen Friedens sind heute die größten europäischen Ströme internationalisiert, der ausschließlichen Herrschaft einzelner Staaten entzogen und den Schiffen aller Flaggen geöffnet worden. Es ist nicht meine Absicht, nachzuweisen, in welchem Maße diese Internationalisierung etwa als ein Mittel gedacht ist, um solche Ströme nur der direkten Herrschaft und Beutelust gewisser anderer Staaten auszuliefern, die landschaftlich in keiner Verbindung mit ihnen stehen. Auch der Rhein gehört zu diesen Strömen. Er ist der Beginn der Kette von Kanälen, die das innere Europa mit der Nordsee verbinden. Er gehört aber auch durch seinen Oberlauf als ein Glied in die Kette von Kanälen, die das innere Europa mit dem Mittelmeer wie mit dem Schwarzen Meer verbinden können. Das sagt uns sehr viel, wenn wir an einen Gemeingeist in Europa glauben, der nur darauf wartet, den Ausbau dieser heute erst in Projekten bestehenden Möglichkeiten in Angriff zu nehmen. Aber einstweilen, werden Sie mir erwidern, sagt es uns gar nichts. Dies aber ist die Tatsache: Wir stehen mitten in einem politisch und geistig äußerst zerfahrenen und gleichzeitig äußerst erwartungsvollen Europa. Die Politik der letzten Friedensschlüsse hat diesen Zustand nur festgestellt. Sie führte zu dem Entwurf eines Völkerbundes, der weder der erste noch der letzte aller denkbaren Entwürfe ist: sie führte vor allem zur Anwendung eines für die Entwickelung Europas neuen Grundsatzes, der früher nur für Europäer-Ansiedlungen in China Geltung hatte, nämlich des Prinzips der Internationalisierung von Niederlassungen, von Landstreifen und von Strömen. Bereits ehe es zu den Friedensverträgen kam, war das Schicksal zahlreicher Gebiete in Europa problematisch geworden. Es waren jene Gebiete, wo die Grenzen zwischen Machtansprüchen und Nationalitäten sich keineswegs deckten. Zwischengebiete, die wie Deltas und Brackwasserstreifen im Meer der Völker sind und nirgends auf der Erdoberfläche so zahlreich erscheinen wie in Europa, seitdem das Recht aller Nationen auf Selbstbestimmung ausgesprochen wurde. Es handelt sich hier um Fragen, die über die Grenzen Europas hinaus reichen werden, wenn sie in Europa längst ihre Lösung gefunden haben. Die Art, wie sie hier ihre Lösung finden, wird auch entscheiden, welche Lösung sie in der ganzen Welt finden. Hierzu gehört die Frage der Unterstellung der großen natürlichen Verkehrsstraßen, insbesondere der Ströme, daneben der künstlich geschaffenen Landkorridore und gewisser zum Zankobjekt gewordener Industriegebiete, schließlich aber auch der Meere und der Märkte unter das Völkerrecht; mag es sich vorläufig auch nur um Binnenmeere handeln, wie die Ostsee, das Schwarze Meer, die Adria, oder um die Internationalisierung von Städten und Häfen mit mehreren Hinterländern, wie beispielsweise Konstantinopel und Salonik, Antwerpen, Danzig und Riga. Hier ist das Schicksal jener großen Häfen vorgezeichnet, die um das europäische Festland einen Kranz bilden, jener zu einem hohen Maß von Selbstverwaltung und Internationalität vorbestimmten Verkehrsund Handelsstädte, in deren Reihe einmal von selbst alle großen Stadtgemeinden mit starken überprovinzialen und übernationalen Handelsund Kulturbeziehungen hineinwachsen, das Schicksal ganzer Landschaften, zu denen auch die des Rheines irgendwie gehört.

Eine große Zahl von solchen Gegenständen der Internationalisierung ist bei den Friedensschlüssen festgelegt worden. Ich erinnere an Oberschlesien, oder an das Saargebiet, an das Teschener und an das Memeler Gebiet, an Makedonien, an Fiume, an Albanien, an die Donauländer. Wir leugnen nicht, daß beinahe jedes dieser Gebiete schon lange mit irgendeiner Nationalitätenfrage oder Interessenfrage behaftet, zum mindesten schon früher ein Problem für sich gewesen ist. Heute ist tatsächlich jedes dieser Gebiete ein Problem für sich, und jedes dieser Probleme drängt von innen heraus auf seine eigene Lösung. Alle diese problematisch gewordenen Gebiete in ihrer Gesamtheit erwecken den Anschein, als habe man den Prozess der Meliorisierung Europas, der doch wohl beabsichtigt war, nicht anders als durch eine Balkanisierung Europas einzuleiten gewusst und als werde die Entwickelung, die zweifellos einen unwiderruflichen Schritt getan hat, in dieser trostlosen Phase stecken bleiben. Man hat den Eindruck, als wären in diesen Gebieten, von denen manche für die weltwirtschaftliche Einwirkung jetzt zum erstenmal geöffnet worden sind, neue Nationalitäten, wie die an der Donau oder an der Adria, eigens entdeckt und staatlich gemacht worden, nur um ihre Energien in die Wagschale des Kampfes zwischen Interessengruppen zu legen, die sich anschicken, den europäischen Markt von außen her nach erprobten Systemen auszubeuten, von den Sitzen der Kapitalmächte her, deren Zusammenhang ein Gewirre dunkler Fäden und herzloser Interessen darstellt. Wie gesagt, das Bild Europas ist künstlich kompliziert worden. Das ist nicht einmal so sehr eine Folge des Willens Einzelner, als eine Folge eruptiver Gesamtzustände. Die Erfahrungen dieses neuen balkanischen Zustandes bringen aber unter den Völkern des gesamten Festlandes eines zuwege, was sich unter den friedlichen Verhältnissen niemals mit solcher Deutlichkeit den Gemütern eingeprägt hätte: nämlich die Lehre, daß Europa Vereinfachungen nötig hat, und daß die Zukunft Europas von nichts anderem abhängt als davon, ob diese Vereinfachungen gefunden werden.

Diese Vereinfachungen Europas können auf dreierlei materiellen Grundlagen gefunden werden: auf Grund des summarischen Verhältnisses der Rassenverteilung, auf Grund der unabänderlichen, wenn auch von Jahrhundert zu Jahrhundert nach ihren Beziehungen zum Weltganzen sich umwertenden geophysikalischen Grundlagen und endlich auf Grund des solidarischen Interesses der werktätigen Massen.

Aber wichtiger als diese materiellen Grundlagen sind die geistigen Bewegungen, die das Verständnis für diese Grundlagen, das Verständnis für die Aufstellung des europäischen Gesamtproblems erst hergeben müssen. Diese Bewegungen umfassen die Frage der Einstellung einer jeden europäischen Nation zu den anderen Nationen im Rahmen der Welt-Lebensgemeinschaft. Sie umfassen die Frage des Verhältnisses jedes einzelnen europäischen Menschen zu seinen Brüdern in Europa. Immer haben geistige Bewegungen in ihren Äußerungen sozialer und religiöser Art die großen Abschnitte im ökonomischen Schicksal von Landschaften begleitet. Hierfür ist die Geschichte des Rheinlandes eines der bedeutendsten Beispiele. Im Rheintal verbreiteten sich zu einer Zeit, als das übrige Germanien noch ein von wandernden Waldvölkern bewohntes Land war, die festen Niederlassungen und die Kulte der Römer. Das Rheinland war zur Zeit Karls des Großen das Rückgrat des fränkisch-römischen Reiches; denn es war der Schauplatz eines beginnenden Weltverkehres geblieben, die Hochstraße des Römertums in seiner geistigen Herrschaft. Nachdem es auch zu einem der Ausgangspunkte der Kreuzzüge geworden war, wurde es im 13. und 14. Jahrhundert der Hauptherd jener großen, vorprotestantischen, nach Freiheit und Selbständigkeit drängenden Bewegung, in der die aus Südfrankreich und Oberitalien kommenden Waldenser, die vom Geist des Orients berührten Katharer, die in den Städten Flanderns aufgestandenen Begharden einander begegneten und aus deren geistigen Wirkungen später der kirchliche Protestantismus wie das freie Täufertum hervorging. In dem Rheintal, wo an der Hohen Schule in Köln Thomas von Aquino lehrte, verbreitete sich zur selben Zeit ein stark geistiges Ketzertum, das von den kristallischen Gedankengebäuden dieses gewaltigen Theologen nichts wusste oder seinen aristotelischen Mechanismus verwarf; ein Ketzertum, das in der Lockerung seines Verhältnisses zur Kirche so freigeistig, in seinem kommunistischen und platonischen Grundzug so epochemachend und so ahnungsvoll war, wie der große Hohenstaufe Friedrich IL, der ebenfalls in seinem Herzen weit über den Satzungen der Kirche stand, ein unabhängiger Betrachter der Natur und der Menschen, ein Mathematiker und Krieger, ein Freund der arabischen Wissenschaften, offen und duldsam den Mohamedanern wie den Juden gegenüber, weltumfassend durch die Berührung mit dem Geist des Morgenlandes, der Vorläufer des Roger Bacon. Dieses Rheintal von Chur bis Utrecht war bis in das 14. Jahrhundert hinein die führende Landschaft Germaniens schlechthin; Köln und Mainz, Worms und Speyer waren Zentren des frühmittelalterlichen Weltreiches; auch in späteren Jahrhunderten wohnten am Rhein von den sieben Kurfürsten vier in enger Nachbarschaft zueinander; die drei geistlichen unter ihnen teilten sich in den alten Einfluss Roms und zeigten an ihrer Selbständigkeit den anderen, wie man nach Belieben dem Reiche dienen und verliehene Gewalt missbrauchen könne. Das Rheintal war die Straße, die Italien und die Niederlande miteinander verband; es war die Zufluchtsstätte eines vom Altertum ererbten Wissens, Tal des Glaubens, der in den alten Städten seine Münster baute; bei aller Bewegtheit, Buntheit und Gediegenheit der Gewerbe und des Handels, der in Venedig wie in London Heimatrechte erwarb, war sein Geist auch in den profanen Dingen von einer starken genossenschaftbildenden Kraft. Dieser Geist fand seine Form in mächtigen Zünften, in der Gemeinschaft des hanseatischen Städtebundes; er rang innerhalb der Kirche durch das Wort der Mystiker und der Satiriker nach seinen eigenen Formen, er scheute auch vor offenem Ketzertume nicht zurück; aber wie er früh an die Kirche Roms sein köstlichstes Gut, die Reichsunmittelbarkeit verloren hatte, so verlor er mit diesem Gut nach allen kühnen Ansätzen auch immer mehr von seiner inneren Freiheit. Erst im 15. Jahrhundert gesellten sich zum Rheinland an Bedeutung das aufwachsende Nürnberg und Augsburg, diese Hauptstädte des südlichen Frankens, das durch den Handelsverkehr mit Oberitalien und Konstantinopel in ähnliche Bedingungen weltwirtschaftlicher Blüte geraten war und ebenfalls begann, zum Ausgangspunkt reformatorischer Geistesbewegungen zu werden. Später ging dann die Führung auf das durch Handel und Bergbau wohlhabend gewordene und reichsunmittelbar gebliebene Sachsen über, das zur Zeit der Reformation in Deutschland eine ähnliche Rolle spielte wie in neuerer Zeit Preußen. Ist es ein Zufall, daß in der beginnenden Neuzeit nicht mehr das Rheinland, sondern Sachsen mit seinen berühmten humanistischen Schulen die Heimat eines Leibniz, Pufendorf und Thomasius, der größten europäischen Gelehrten ihrer Zeit, gewesen ist? Dass später das brandenburgische Preußen die Führung der deutschen Länder übernahm, das Rheinland aber einen Geist von der Größe und der Freiheit Goethes nicht mehr zu fesseln vermochte? So ist das Schicksal, das der Rhein den Menschen, die an seinen Ufern wohnten, vermittelte: Gewöhnung an äußeren Reichtum, geistige Regsamkeit bis zu revolutionären Formen auf religiösem Gebiet; aber auch das Wiederstillwerden und Einschlafen, sobald die Voraussetzungen eines durch die Freiheit des Gedankens bedingten kulturellen Führertumes wegfielen. Die materiellen Gründe jenes geistigen Niederganges sind keine anderen als die des heutigen wirtschaftlichen Niederganges in Deutschland: die tragische Abhängigkeit der bodenständigen Arbeit von auswärtigen Beziehungen, die tragische Gespaltenheit eines Volkes unter vielen Herren. Der jähe Zusammenbruch der Hansa wird herbeigeführt durch das Selbständigwerden und die Eifersucht der ebenfalls auf der Nordsee Handel und Schifffahrt treibenden Nationen. Dem Bild von damals entspricht das Bild von heute, nur in anderen Maßstäben; der Eroberung Konstantinopels durch die Türken und der Entdeckung der neuen Seewege im 15. Jahrhundert, die dann auch die Blüte des fränkischen Handels zum Absterben brachte, entspricht der gewaltige Aufstieg Amerikas und Ostasiens, die Wandlung des Stillen Ozeans zum ersten Weltmeere, in deren Folge heute der Dollar zum König unter den Geldsorten geworden ist. Über Deutschland, wo die Weltbeziehungen einmal einen Mittelpunkt zu finden schienen, gehen diese Entwicklungen hinweg, seitdem die Serie von Kriegen begonnen hat, von denen der russischjapanische der erste war, von denen sich einst auch der letzte an den Küsten des Stillen Ozeans abspielen wird.

Ein Unterschied zwischen heute und damals hegt nur in der Dauer, in der Vielartigkeit und Wirkung dieser Auseinandersetzungen und Umwälzungen; die Folgen für Deutschland sind heute fast dieselben wie damals, doch ist es jetzt nicht Deutschland allein, das von diesen Umwälzungen betroffen wird, sondern ganz Europa vom Ural bis zum Atlantischen Ozean. Und dieser Prozess, der noch nicht zu Ende ist, bedeutet sicherlich nicht letzten Endes das Ausscheiden Deutschlands und Europas, wohl aber deren neue Einordnung in die Welt. Eines hat er vorläufig herbeigeführt: eine Verarmung und Proletarisierung Europas, wie wir sie niemals für möglich gehalten hätten. Der ähnliche Prozess im Mittelalter führte das deutsche Volk zum Rückfall in ein enges Kleinbürgertum, das gegen die Ausbeutung durch eine Gruppe von Territorialfürsten wehrlos war. Der raketengleiche Aufstieg neuer überseeischer Länder, die den Sturz des Deutschen Reiches entschieden, birgt für uns dieselbe tiefe Gefahr des Rückfalles in die kleinen, engen Verhältnisse vergangener Jahre und der Sklaverei unter fremdem Joch, wäre nicht diese Zeit schon mitten im Beginn einer geistigen Umwälzung, der Schaffung eines neuen Weltbildes in allen durch die Leiden der Zeit tief berührten und veränderten Menschen. Die Chronik der rheinischen Städte verzeichnet nicht weniger den Triumph der Zeit über die Kraft als die Ruinen auf den Höhen. Schicksal sind jene Beziehungen, die dem Lauf des Stromes von seiner Quelle bis zur Mündung folgen, Schicksal aber auch jene anderen, die sich an die Längslinie seiner Ufer klammern: seine Hingegebenheit an die Einflüsse aus dem Westen, die sich hier an diesem Graben verfingen, Ideen der Aufklärung, Worte der bürgerlichen Revolution; flüchtig eingewurzelt, vermochten sie da und dort die alten Träume wiederzuerwecken, besonders den Traum der Reichsunmittelbarkeit des Rheinlandes, — doch die Kraft der Erhebung fehlte. Und die aufsteigende und zusammenfügende Macht Preußens ließ auch im neuen Reich den Rheinlanden ihre längst verlorene Reichsunmittelbarkeit nicht mehr zuteil werden. Nun stehen wir abermals an einer geschichtlichen Grenzscheide, und wir alle tragen eine Zukunft Europas im Herzen, in der unser Land besser aufgehoben ist als in einer Gegenwart, die nur Ansätze geschaffen hat, aus denen uns zunächst nichts anderes entgegenblickt als Verwirrung. Das Wissen um eine bessere Zukunft Europas ist es, warum wir uns in einem Europa der Revolution befinden, in einem Europa der geistigen und gesellschaftlichen Bewegungen und Perspektiven, die zuletzt auf nichts anderes hinzielen, als auf die Sozialisierung der Erde, die Überführung des ganzen Planeten in Gemeinbesitz. Gemeinschaftliche Verwaltung soll freien Völkern freie Daseinsmöglichkeiten bieten, die Produktivkräfte aller Länder aus der Enge der Nationalstaaten befreien, alle Völker in engster Zusammenarbeit auf der Grundlage eines gemeinsamen Wirtschaftsplanes vereinigen und auch den kleinsten und schwächsten unter ihnen die Möglichkeit geben, nach Art von reifen und unabhängigen Individuen die Angelegenheiten ihrer nationalen Kultur zu pflegen, ohne Schaden für die vereinigte und zentralisierte Ökonomie Europas und der ganzen Welt . . . Nicht daran liegt mir, mit meinen Ausführungen in Tageskämpfe einzugreifen, sondern klar zu machen, daß eine Zeit, die den Gedanken der Einheit und Einschließlichkeit zu erfassen und ihn zum ersten Male auf ihr eigenes Selbst anzuwenden vermöchte, auch das Recht hätte, sich selbst als die Endzeit einer zweitausendjährigen Epoche der Zersplitterung zu begreifen, als der Abschluß einer geschichtlichen Zeit der Schuld und der Zerrissenheit. Mit einer solchen Auffassung verbände sich nichts geringeres als die Erwartung einer neuen Erde, oder mit anderen Worten die prophetische Erwartung eines neuen christlichen Ereignisses.

Das entscheidende Element in der Bewegung der Gegenwart ist trotz aller äußeren Verkleidungen das religiöse.

Das religiöse Element ist in allen Regungen und Bewegungen der Seele, an denen es teilnimmt, einerlei wie weit sie sichtbar werden, das Element zugleich des Zarten und des aus dem Sitz des Lebens kommenden. Es kommt aus einem Grunde, wo gewöhnlich der Wellenschlag des äußeren Geschehens nur in jener dunklen Weise sich kundgibt, von der es heißt: Sie bewegte alle diese Dinge in ihrem Herzen. Unsere Gegenwart ist große Bewegung; sie ist die Tatsache des gewaltigen Krieges und aller Fragen, aus denen dieser Krieg entstanden ist. Fast unerträglich dehnt sich diese Gegenwart in Vergangenheit und Zukunft durch die Fragen, die der Krieg hervorgerufen hat, ohne sie im geringsten gelöst zu haben. Wir sehen auch in diesen Bewegungen keine festen Grenzen mehr zwischen siegenden und besiegten Nationen. Denn in tiefer Bewegung sind alle; diese Bewegungen sind noch heute durch die Gräben, die der Krieg gezogen hat, ein wenig voneinander geschieden, aber sie sind durch ihn auch deutlicher geworden. Nebeneinander, ja oft einander verdrängend, stehen sie in unserer heutigen Welt in ihrem fremdartig lautenden und zugespitzten Namen: Imperialismus und Pazifismus, Sozialismus und Internationalismus; Materialismus und Spiritualismus, die Bewegung für Schönheit und Ordnung in einem alten abgelebten Sinne, und die Bewegung für eine neue Ordnung und für eine neue Schönheit . . . Sie folgt der scharlachfarbenen Fahne, dem Symbol des Mohnblattes, das flammender, doch auch gebrechlicher als die Rose ist.

In die einfache Sprache übersetzt, besagen diese Worte nur verschiedene Formen eines und desselben Strebens nach Wohlstand, nach Frieden, nach Gemeinschaft, nach Unmittelbarkeit. Imperialismus und Pazifismus sind in ihren Zielen gar nicht so sehr verschieden; auch das Ziel des Imperialismus ist die Pax mundi; erst das egoistische Streben einzelner Personen oder Nationen nach Vorherrschaft entkleidet den Imperialismus seines zum Frieden führenden Charakters. Kapitalismus und Sozialismus sind in ihren höchsten Steigerungen nahe, ineinander überzugehen, denn der Besitzer des Kapitals, je mächtiger und unternehmender er ist, muss notgedrungen die Übersicht und Verantwortung, die er innehat, mit anderen teilen und (schließlich vergesellschaften; und umgekehrt bedarf selbst der sozialistisch aufgebaute Staat des aus Steuern oder Anleihen gezogenen Kapitals, um Eisenbahnen oder Kanalnetze anlegen zu können. Dennoch gibt es einen Punkt, wo sich der Besitzer des Kapitals in einen herzlosen Geldsack verwandelt; wo die Energie des Arbeiters in Erschöpfung und Unlust endet; einen Punkt, wo Imperialismus Vernichtung bedeutet, wo Sozialismus sich in Opposition verzehrt. In diesen fatalen Stadien bewegen wir uns; jeder sucht Abhilfe; der eine verspricht sich die Unmittelbarkeit seiner Mitbestimmung am Schicksal der Volksgemeinschaft, ja der Menschengemeinschaft im Ideal des bürgerlichen Demokratismus; der andere verlangt die Herrschaft aller Werktätigen durch den Apparat der Räte, der alle Berufe und immer neue Schichten in die Sphäre der Selbstverwaltung hineinzieht. Vielleicht wollen beide Parteien im Grund dasselbe; aber sie können einander nicht mehr verstehen. Und das Ergebnis ist das, was wir heute in allen europäischen Ländern sehen: Dämmerung und bitteres Verzagen.

In allen den mächtigen Bewegungen der Gegenwart, die einander titanisch widerstreiten, sind utopische Triebkräfte in reale Auseinandersetzungen und Kampfhandlungen verwickelt; ideale Triebkräfte, die ihre Träger zum Schicksal des Tantalus verurteilen. Indem diese Triebkräfte auf die Wirklichkeit der alltäglichen und herkömmlichen Interessen stoßen, wird Politik aus ihnen, und sie werden sofort zum Spielball derer, die am geschicktesten die Technik des Parteiwesens beherrschen. Das ist das Schicksal des Ideals in der Masse und in der Öffentlichkeit, wie wir sie haben. Psychologie der Masse ist die Erkenntnis der Triebe, in der alle und immer übereinstimmen: des Triebes zum Glück, des Instinktes für Gerechtigkeit, des Verlangens nach Unmittelbarkeit, des Wunsches nach Sicherheit. Diese Triebe aber passen nur im religiösen Menschen zusammen; sie sind nur in der frommen und gestillten Seele miteinander im Einklang, nimmer aber in der Masse, die freilich im Grunde immer gläubig, immer idealistischen Antrieben, religiösen Anregungen und sakralen Eindrücken zugänglich ist, aber auch von sich aus niemals fähig, von einem Punkte auszugehen und an einem Ziele anzulangen. Hier liegen die Sprödigkeiten im Wesen der Masse, über die der einzelne Mensch nicht hinwegkommt, weil es für ihn, sofern er seelisch ist, eine angewandte Psychologie der Masse im Sinne der Politik nicht gibt. Denn er sieht in der Masse immer nur die einzelnen. Auf dem Wissen von dieser widerspruchsvollen, kindlichen, gläubigen und zugleich unselbständigen Seele der Masse beruht die ganze Wissenschaft und Kunst der Massenbehandlung. Ich sage ausdrücklich nicht Massenführung, denn eine Masse lässt sich wohl wie mit Händen kneten, aber nie führen, wie ein einzelner Mensch geführt werden kann, um ihrem inneren Wesen nach erneuert und verändert zu werden. Auf dem Wissen von der unfreien und bewegbaren Seele der Massen beruht die Kunst der Demagogie; sie besteht darin, die in der Masse ruhenden Triebe beliebig zu wecken und sie zu gebrauchen. Auf diesem Wissen beruht auch die der Demagogie wesensverwandte Kunst der psychologischen Beherrschung der Massen durch Ostentation, seien es die Paraden der Garnisonen oder der Geistlichkeit, durch die großen Schaustellungen, die riesigen Versammlungen ... Es liegt mir fern, mit dieser Feststellung einen anerkennenden oder absprechenden Sinn zu verbinden. Ich möchte nur sagen, daß es leicht ist, mit Sicherheit von den religiösen Elementen in den Bewegungen der Gegenwart zu sprechen, die vom Gewöhnlichen in jedem Augenblick hinwegverlangt. Dennoch kann nur mit der äußersten Zartheit und Vorsicht von der Art des religiösen Gefühls in diesen Bewegungen gesprochen werden, besonders in den sozialen. Zwei Namen erweckten in den vergangenen Jahren auf das stärkste dieses unbestimmte religiöse Gefühl. Ich meine die Namen Wilson und Lenin.

An diese beiden Namen knüpften sich Ketten gewaltigster Gedanken, Assoziationen, die das Schicksal der heutigen menschlichen Gesellschaft umspannen, Gedanken einer besseren Wiederherstellung des Zerstörten und Verlorenen, Gedanken, die aus der politischen und sozialen Umhüllung, unter der sie zuerst aufblitzten, in das Herz der Menschen trafen. Dennoch glauben wir zu wissen, daß weder Wilson noch Lenin religiöse Naturen sind; sie erheben nicht einmal den Anspruch, es zu sein. Wilson vertrat ein evolutionistisches und bürgerliches Ideal des Friedens und der Gerechtigkeit, ausgedrückt in einer staatsmännischen Terminologie, die in ihrer pathetischen Fassung an freimaurerische Formeln erinnert . . . Diese Terminologie nahm viele Menschen gefangen, deren Schmerz und Enttäuschung heute unermesslich ist; denn es stand hinter ihr nur der Versuch, durch eine Art von Trustbildung unter einer Reihe von Staatsregierungen dem kapitalistischen Weltsystem die Überwindung seiner eigenen Anarchie möglich zu machen. Der Völkerbund ist gegründet, aber sein Charakter ist kein geistiger geworden; er konzentriert seine Anstrengungen darauf, die spontan zerfallenden Teile des kapitalistischen Systems wieder zusammenzuleimen; die Zwangsmittel, über die er verfügt, vergeudet er, um den Klassenkampf zu organisieren; Wilsons Wort an die Völker hat als Kriegslist eine Wirkung getan, aber jede Wiederholung dieses Wortes begegnet heute dem Misstrauen selbst derer, die ihm aus dem fernen Westen zugejubelt haben. Eine Spannung bis zur Todfeindschaft liegt zwischen den Welten Wilsons und Lenins. Lenin verkörpert von vornherein einen Gedanken, der ohne Gewalt nicht durchführbar ist; er richtet den Hass der Massen gegen die Ausbeuter, die bisher über die Gewalt verfügt haben. Lenin wenigstens ist seinen Worten treu geblieben; aber unendlich viele Menschen, die in seinen Losungen das gewaltigste Wollen erkannt haben, schweigen heute bereits in derselben verzweifelten Enttäuschung. Denn der derbe und despotische Charakter der Umwälzungen in Russland straft das Versprechen der Weltbefreiung Lügen; ein neuer Nationalfanatismus ist vielleicht der Retter Rußlands vor dem politisch-ökonomischen Untergange; ist er es wirklich, dann bedeutet er dort zugleich den Untergang des größten Gedankens, des neuen Weltgefühles; Terror als Waffe gegen den inneren Feind und Nationalismus als Antrieb einer siegreichen großrussischen roten Armee sind dann die geharnischten Söhne der vom Westen über Russland verhängten Blockade, böse Geburten der Gewalt sind sie jedenfalls; wehe, wenn sie beginnen, sich in Polizei und Militär zurückzuverwandeln. Die Vermengung; mit den Notwendigkeiten der Gewalt steht der Verwirklichung der Ideen als Hemmung und Ausflucht am meisten im Wege; Europa vermag sich nur dadurch vor dem Eindruck zu befreien, den das revolutionäre Russland in diesem Augenblicke bietet, daß es erkennt, wie sehr es vor der drohenden und erschreckenden Geste doch sich selbst im Spiegel gegenübersteht. Was Russland anlangt, hat sich Lenin bereits genötigt gesehen, den Begriff des Halbproletariats in seine Dialektik einzuführen; in Russland wird unter dem Halbproletarier der mittlere Bauer verstanden, der zwischen Arbeiter und Ausbeuter auf der Grenze steht; in unserem Europa würde er noch große Teile des Bürgertums einbeziehen, vor allem die „neuen Armen“ der untergehenden Mittelschicht und das gebildete Proletariat. Sicher ist, daß die soziale Revolution im mittleren und westlichen Europa ohne eine große Erweiterung des Proletariats seinem Begriffe wie seinem Wesen, wie seinen Kräften nach nicht auskommen kann, und ebensowenig ohne eine Zeit der tiefsten Gewissenserforschung, welche die furchtbaren Folgen vorwegnimmt, die entstehen würden, wenn diese Umwälzung von heut auf morgen geschähe.

Zwischen diesen beiden Polaren, Wilson und Lenin, liegt heute eine Spannung, unter deren Wirkung sich in der ganzen Welt etwas Schreckliches, Entsetzliches vollzieht: die Verwirrung und die wölfische Feindschaft der Menschen untereinander in jeder Stadt, in jedem Lande, in jedem Hause, das Misstrauen aller gegen alle. Und diese Spannung ist groß genug, um die gewaltigsten Visionen der religiösen Menschheit wieder zu erwecken, die Visionen eines tierischen Zeitalters, wie die Propheten es angesagt und die Gläubigen es erwartet haben, samt den Posaunendes letzten Gerichts.

Die Heilige Schrift spricht von den falschen Propheten der letzten Zeit, die viele verführen und zum Abfall bringen werden. Was bleibt uns aber denn übrig, als auf ein neues Wort zu warten, das noch nicht ergangen ist? Was bleibt uns anderes übrig, als das Suchen einer neuen Religion, die sich vielleicht schon ankündet, oder ein Besinnen auf die Heilslehren der alten? . . . Vielleicht haben wir das Christentum als unseren Führer in den Wirrnissen der Zeit noch gar nicht recht erkannt? Diese Frage stellen, heißt noch nicht, sie zu verneinen; aber wie zaghaft ist die Bejahung. Wo ist das Wort, welches das Evangelium an Tiefe und Einfachheit übertreffen würde? Ist denn das Evangelium durch die Kirche schon verwirklicht? Steht die Bergpredigt so sehr im Widerspruch mit der furchtbaren und unrettbar verlorenen Natur des Menschen und mit den ehernen soziologischen Gesetzen, daß wir nichts besseres tun können, als uns endgültig von Jesus abzuwenden, um in dem erbarmungslosen Lebenskampfe nicht immer wieder durch seine Lehren schwach und wankend zu werden?

Die bestehenden Kirchen haben ihre Schätze gesammelt, ihre Gebäude aufgeführt. Sie werden diese Gebäude nicht räumen, um sie den Armen zu geben. Wer sind diese Armen? Die Massen sind es und die einzelnen außerhalb der Kirchen, denen die Gemeinschaft der Gnade und des Gebetes versagt ist. Übrig bleiben in diesen Einzelnen und in diesen Massen noch immer jene tiefen, köstlichen Strebungen, die immer gewesen, aber immer außerhalb des Kanons der Kirche geblieben sind, Strebungen, denen die bestehenden Kirchen seit Jahrhunderten kein Obdach mehr gegeben haben. Wie mancher an Christus glaubende Mensch von heute hat sich daran gewöhnt, geistig bei Mutter Grün zu übernachten, ohne ein Dach über seinem Haupte, in seinem Herzen eine Gewissheit, daß es ein Reich und ein Haus Gottes gibt, von dem die Priester und Schriftgelehrten schweigen. Wir nennen das Wesen dieser Menschen das Johanneische . . .

Das Johanneische war schon im Anfang das wichtigste Ferment des christlichen Glaubens. In ihm ist der Jünger, „den der Herr lieb hatte“ ein und derselbe wie der Verfasser des platonischen Evangeliums und der drei Briefe, und jener andere Daniel auf Patmos. Johannes galt als ein leiblicher Verwandter des Meisters. So umfasst das Johanneische vor allem die innige, übersinnliche Liebe zu Christus und mit ihr die philosophische und die chiliastische Materie. Johanneisch war das reine und heiße Dienen und Warten der Urgemeinde, die kein festes Dogma kannte, die auch dem Spruch besorgter Oberhirten und Konzilien nicht unterworfen war. Der Johanneische Geist ist der Wein und das Brot der in dem unsichtbaren Jerusalem Versammelten. Er ist das aller Kirchensatzung abholde Wesen der ekstatischen und der grübelnden, erasmischen und einsamen Naturen. Er ist das feurige Flackern der radikalen und demokratischen Christen wie Karlstadt, der mit Täufern und Aufrührern umging und ist das stetige und reine Licht der gegründeten Naturen, die mit Fichte von einer Johanniskirche der Zukunft träumen. Ach, die zarten Gespinste der Johannesgläubigen! Vor den Augen der Welt ist ihr Glaube oft nichts als Eigensinn und Sektenwesen, ihr Zusammenhalt nirgends zu greifen außer an den willkürlich gewählten Handhaben zu seiner Unterdrückung. Und doch brechen seine Flammen immer wieder aus eben gelöschten Bränden hervor als ein ewiger Quell der Läuterung und der Wärme.

Diesem niemals fassbaren Feuerwesen steht der felsenharte Korallenbau des petrinischen Christentums gegenüber, das in Rom entstandene, die Welt mit Riesenarmen umfassende Gebilde des Katholizismus. Seine Stärke ist die ungebrochene, in allen Erfahrenheiten verankerte Überlieferung. Hier ist Petrus, hartnäckig gehorsam dem von seinem Meister inständig wiederholten Befehl. Auf dem Felsen Petri wölben sich die kühnen und von Farben und Musik erfüllten Bogen der Kathedrale. In breiter Stufung führt ihre Hierarchie bis zu dem Stellvertreter der Gottheit selber empor. Sie herrscht durch die Breite ihres Besitzes, durch Werke und Askese, sie hält ihre Fürsten und Diener vereinigt in einem unvergleichlich festen Zwang des inneren Zusammenhanges. Dennoch vermochte sie die Herrschaft der Geister nicht unbestritten an sich zu reißen. Daran hindert sie ihre unablässige Vermischung mit den Händeln der Welt, ihre von der Begierde nach Macht und Feststellung erfüllte Seele, ihre von der Sorge um sich selbst beherrschte Unbeugsamkeit. So ist diese Kirche zum Gefängnis Christi geworden.

Der Protestantismus endlich trägt die Natur des Paulus in sich. So wie dieser unermüdliche, beredte, selbstbewusste Apostel, der als ein römischer Bürger im Weltreich auftrat, einem freieren Hebräertum Bahn brach und den Zweiflergeist bekämpfte, wie er die Rechtfertigung durch den Glauben betonte, so verfährt der Protestantismus in seinem Streben nach Freiheit und kräftiger Betätigung, in seiner Pflege, der Predigt, in seinem den Berufen des Weltlebens zugewendeten Optimismus, in seinen Erfolgen, die ein großes Namen Christentum umfassten. Dieses große Namenchristentum ist heute leer und arm geworden.

Wir finden das Johanneische Wesen, von dem ich spreche, lebendig und tief verflochten in die sozialen und geistigen Bewegungen unserer Zeit, die mit allem bestehenden Kirchen wesen so gut wie keine Berührung haben, ja es offen ablehnen und bekämpfen. Es wird Unglaube genannt und ist doch Glaube. Es ist vorhanden in den Bestrebungen zu einer neuen Erziehung, wie sie dem großen Comenius in seiner Pansophia vorschwebte, in dem überall verspürbarem Verlangen nach einer Menschwerdung der Wissenschaften, einer Erneuerung unserer Universitas, die heute der Sonne des geistigen Mittelpunktes, die sie einst in der Theologie gehabt hat, entbehren muss; in den Bestrebungen, aus unseren hohen Schulen, die vielfach nur noch Anstalten zur Pflege des technischen Spezialwissens sind, jene platonische Akademie abzuscheiden, deren ausschließliche Aufgabe das Suchen nach der Erkenntnis ist. In dem Suchen einer neuen spiritualistischen Wissenschaft; in den Fragen nach den übersinnlichen Dingen; in einer neuen Mantik und Esoterik; in den um Anerkennung und Form ringenden Methoden einer wahren Therapie für Leib und Seele, die vor allem dem Atem und der Kunst des Atmens im Aufbau der Seele eine große Bedeutung zuerkennt; ebenso aber auch in den Bewegungen nach einer bis auf den Grund gehenden Umgestaltung des Schulwesens im Sinne der allmenschlichen Einheit; in den Bestrebungen nach Erneuerung aller werklichen Leistungen; nach Herstellung eines nicht mehr rein mechanischen Verhältnisses des Menschen zu seiner Arbeit, auch zur Fabrikarbeit, auch zur groben Arbeit, die bisher den Menschen zum bloßen Menschensprossen zum Proleten im Sinne dieses lateinischen Wortes, zum Sklaven der Geldmacht erniedrigte. Wir fordern die grundlegende Änderung des Verhältnisses zwischen Mensch und Arbeit, selbst wenn dieses neue Verhältnis zur Arbeit nicht anders herzustellen wäre als auf dem Wege der Zerschlagung und Zerlegung ganzer Industrien. Und wie regt sich daneben, in diese Bestrebungen tausendfach übergreifend, das überall in der Jugend verspürbare Suchen nach neuen Formen der Lebensgemeinschaft in Arbeit und Siedelung, nach Formen des genossenschaftlichen Konsums wie der genossenschaftlichen Produktion; das Verlangen nach dem Wiedererstehen der Kameradschaft, der Bruderschaft auch von der strengeren Art, ja von Orden, die in der Anlage denen des Mittelalters gleichen, so sehr sie in ihrer weltoffenen Anlage von diesen verschieden sein müßten; von verbindenden Gewerkschaften, von neuen, über die Grenzen der Länder und Gesellschaftsklassen hinausgreifenden Freundschaften, die unmittelbar sein wollen sowohl in ihren Beziehungen untereinander wie in ihrem gemeinsamen Handeln. Und endlich jene allgemeinen, im Gemüt jedes einzelnen erwachten Fragen, jenes Pochen an das Tor der letzten Dinge, die Frage nach dem Sinn der Geschichte, die Frage, ob das Wort von der Entwicklung, so wie es bisher verstanden wurde, nicht ein wunderlichster Irrtum ist. Denn die Betrachtung des Werdens und Vergehens der Kulturen findet vielleicht nur einen einzigen Satz, bei dem sie stehenbleiben kann, den Satz des Matthäus: Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. Vielleicht gibt nur dieser Satz einen Halt, wenn die Unwichtigkeit der Person, die Gebrechlichkeit des Menschenlebens uns vernichtend bewusst wird, ebenso wie die Bedingtheit und Vergänglichkeit der glänzenden Epoche; zugleich aber auch die Wichtigkeit unseres Opfers und die Gewissheit der Seele, vor Gott wert genug zu sein, um aus dem ewigen Wellenspiel von Aufstieg und Niedergang zum ewigen Licht geführt zu werden. Hier sind wir auf den Gebieten, wo weder Wilson noch Lenin uns geholfen haben, noch uns jemals helfen werden.

Diese drei nebeneinander hergehenden, vielfach ineinander verflochtenen Bewegungen, das Suchen nach einer neuen Erziehung, das Suchen nach einer neuen Gemeinschaft und endlich jenes eschatologische Erwachen, haben einen gemeinsamen Untergrund, der unverkennbar und unverwischbar beides ist, nämlich religiös sowohl wie europäisch. Wir nennen alle jene Fragen heute deutsche Fragen in erster Linie; denn alle diese Probleme sind heute deutsche Probleme, und wir wissen kaum, wie es in anderen Ländern damit steht. Und doch: Wenn wir den Menschen herausführen wollen zu einer auf ein universales Weltbild bezogenen Kultur im Sinne Humboldts, so befinden wir uns nicht allein in unserer Eigenschaft als Deutsche . . . Nichts wissen wir sicherer, als daß wir uns in Übereinstimmung mit einem gleichen Suchen in allen anderen Ländern befinden, auch mit jenen, die bis heute die harten Schalen des militärstaatlichen Zwanges nicht abgestoßen haben. Und indem wir die künftige, unaufhaltsame Verwirklichung des universalen Weltbildes, das uns vorschwebt, wie etwas Natürliches besprechen, befinden wir uns in Übereinstimmung mit dem prophetischen Untergrund unserer Zeit. Das aber bedeutet, daß wir unsere Zeit selbst als etwas Beendendes erkennen. Wir erkennen in ihr die Zeichen des Untergangs und die Zeichen des Aufgangs. Auch die naiven Gläubigen unserer Tage, verstreut in vielen bescheidenen Sekten und Versammlungen, gehören ja zu jenen in ewiger Opposition gegen das offizielle Kirchentum befindlichen johanneischen Evangelisten. Sie erwarten buchstäblich das Ende der Welt, den Einsturz des alten Himmels und der alten Erde; sie erwarten nach dieser Endzeit das Erstehen eines neuen Himmels und einer neuen Erde. Nicht anders deuten sie die furchtbaren und verwickelten Ereignisse der Gegenwart als wir. Auch uns bedeuten die Erlebnisse dieser verfinsterten Jahre etwas wie Sterben und Begrabenwerden. Wir leben im großen Karfreitag der Völker und erwarten das Mysterium der Auferstehung.

In den Verfolgungen, Verfallserscheinungen und Seelenqualen dieser Zeit liegt nur die innere Bestätigung dieses Endzeitlichen, das sich äußerlich vorbereitete in der Ausbreitung der Menschen über die ganze bewohnte und erforschte Erde; in der ungeheueren Vervollkommnung der mechanischen Verkehrsmöglichkeiten und der materiellen Berührungen zwischen den Menschen aller Gegenden des Erdkreises; eine Ausbreitung, die vor vier Jahrhunderten mit der Entdeckung des Stillen Ozeans begann, aber erst in unserer Zeit zu ihrer vollen Glorie gelangte. Etwas Endzeitliches liegt in der auf Entscheidung drängenden Zuspitzung des sozialen Problemes durch die Folgen des Weltkrieges; etwas Endzeitliches liegt in dem Wiederauftauchen des großen, mystischen Problemes der Juden, denen Palästina heute wieder etwas bedeutet, was zweitausend Jahre verloren war; etwas Endzeitliches liegt in der Ankündigung eines Erwachens in der ganzen Welt des Ostens, von den slawischen Völkern an bis zu den Indern.

Ich nannte den Geist unserer Zeit erwartungsvoll; und ich nannte diesen erwartungsvollen Geist johanneisch. Im Westen Europas drückt sich dieses johanneische Wesen in einer Reihe von Bewegungen aus, die dem Stande unserer Zivilisation angemessen in erster Linie kritisch, rückwärtsblickend, oder ekstatisch sind. Die Seele des westlichen Menschen hat sich aufgemacht, aus dem Orkan der Ereignisse zwei Dinge zu retten, die ihr tief gefährdet erscheinen: die Erkenntnis und das Mysterium. Beide sind in Gefahr, von der überwältigenden Sinnlosigkeit und Gewaltsamkeit des spontanen Geschehens verschüttet zu werden. Das heutige Geschlecht empfindet Herzenszusammenhänge mit früheren Geschlechtern, die uns mehr zu sagen haben als unsere unmittelbaren Vorfahren. So erwartungsvoll der heutige Mensch nach vorwärts gewendet, in die Zukunft gerichtet ist, so voller Entsagung schaut er rückwärts in die Jahrhunderte des Mittelalters, wo die Kunst sowohl wie die äußere Lebensgestaltung der Gesellschaft Formen erreicht hatte, denen wir jetzt aufs neue mit aller Inbrunst zustreben. Wir sagen heute, daß eine Wiedergeburt des deutschen Geistes ohne den Sozialismus nicht denkbar sei, daß eine Renaissance der deutschen Kunst nicht anders vorstellbar sei als indem die ganze Fülle des Könnens nur dem reinen Ausdruck der inbrünstig flammenden, von Gott berührten Seele diene. Das Mittelalter in der glühenden Kraft seines Ausdrucks, in der bauenden, unbedingten Zusammenfassung der Kräfte der Gemeinschaft; das Europa zur Zeit des ausgehenden 15. Jahrhunderts, wo in den Städten Deutschlands und Frankreichs eine Saat von Domen aufging, die wir heute nur mit unseren Augen bewundern, während der Verstand kaum noch das Geheimnis ihres wirklichen Entstehens fassen kann; mit den bis an die Grenzen der damaligen bekannten Welt vorgeschobenen Niederlassungen der Hansa, die noch etwas vom klösterlichen Charakter der Orden an sich trugen; mit den wissenden und hilfreichen Bauhütten, den Bordräten auf den Schiffen, dem innigen gewerklichen und geselligen Leben in den Zünften und Bruderschaften. In diesen nimmer wieder kehrenden, doch in ihrer Idee unvergänglichen Dingen erkennen wir die verschütteten Schätze deutscher und europäischer Vergangenheit; die breiten Massen des Volkes, die jetzt in einer neuen Idee der Gemeinschaft den Frühling ihres Herzens, den verlorenen Schatz des Lebens suchen, und diese Idee Sozialismus oder Kommunismus nennen, geben sich über die tiefen Wurzeln dieses Verlangens kaum noch Rechenschaft. Wir begreifen, daß kein Versuch der Rückkehr in das Vergangene auch nur gut wäre, sondern daß neue Formen der Lebensgestaltung aus unserer Zeit heraus gefunden werden müssen. Der Sozialismus, ein tieferer Reichsgedanke, der Gedanke eines einigen Europa, die unstillbare Sehnsucht nach dem Weltmeere bietet heute Idee und Inhalt der neuen Lebensgestaltung; die Vergangenheit bietet sie nimmermehr. Wir westlichen Menschen werden nicht ruhen, bis wir in Jahrhunderten unsere Bestimmung, Seemenschen zu sein, erreicht haben, bis wir seemäßig, frei, überallhin beweglich, ungehemmt und ungesondert leben wie der Wasserkörper, der die Erde umgibt. „Ist es ein Wunder,“ sagt Erwin Hanslik, ,,daß die Westlichen Herren der Erde geworden sind, wenn die Welt zu Dreivierteln von Gewässern eingenommen ist und die westliche Menschheit die einzige Geburt aus See auf der Erde ist? Wenn heute die jüngsten Kinder des Westens, die Deutschen, um die Freiheit der See kämpfen, wenn die zutiefst in die See hinaus vorgeschobenen Slawen und Ostler der Donauländer ihnen dabei an der Seite stehen, so folgen sie damit einem Grundgesetz der Erde. Sie wollen Seemenschen werden, wie es ihre ewige Bestimmung ist.“

Aber der johanneische Geist ist heute auch in einem anderen Teile Europas wachgeworden, der uns bisher ein unbekanntes Feld war, der erst seit den letzten Jahren in unsere Geschichte eintritt, und in elementaren Formen, in ursprünglicheren als den unseren. Denn johanneisch ist auch der Geist des Slawentumes . . . Das Slawentum ist heute einem Stummen vergleichbar, der im Begriffe ist, sein erstes Wort zu sagen. Deutschland vernahm einen verfrühten Versuch des Slawentumes, sein eigenstes Wort zu reden, in den mittelalterlichen Bewegungen der Tschechen, im Taboritentum und im Kampfruf der Hussiten, die vor fünfhundert Jahren begrüßt und befehdet wurden, so wie heute bei uns jene größere aus dem Geiste Tolstois und aus der Idee des doktrinären Marxismus geborene Idee des Ostens, die das alte zarische Imperium in eine neue Form des Staates umgeschmolzen hat. Schon jene Bewegung des Mittelalters hatte eine doppelte Wurzel, nämlich in den freiesten und tiefsten Gedanken des damaligen westlichen Europa und in der maßlosen Grundstimmung der slawischen Seele; sie zerteilte sich damals wie heute in Richtungen, von denen die eine sich darstellt in dem Rauben und Sengen kriegerischer Horden, die andere in dem reinen, friedlichen Leben der stillen Herrnhuter und mährischen Brüder; tief voneinander verschieden in ihrer geistlichen und in ihrer weltlichen Ausprägung, sind sie doch Sprossen aus einem Stamme, heute wie damals begrüßt und als Geist von unserem Geist erkannt, heute wie damals verleumdet, verkannt und abgewiesen . . . Johanneisch ist die kindlich urwüchsige und prophetische Kraft des Slawentumes, johanneisch der Grundgedanke des östlichen Christentumes in seinem Zurückgreifen auf die Tradition des Urchristentumes und der aus ihr hervorgegangenen orthodoxen Kirche; johanneisch ist das Wort der Allheit, der Allbrüderlichkeit, das heute abermals im Osten laut wird. Es erzeugte die Temperatur, in der Millionen des Ostens leben und bereitet ein Wunder über die ganze Erde.

Wie anders stehen wir Menschen aus der Mitte Europas in unserem Zwielicht, wenn wir uns klar machen, daß wir aufs neue die Träger eines großen Liebesgedankens, eines großen Glaubens, und einer Menschheitshoffnung werden sollen; und daß wir nicht allein stehen, sondern daß wir in jenen Völkern Genossen haben, die unser äußeres Schicksal teilen, das Schicksal der Geknechteten und der Niedergeschlagenen, aber auch derer, in denen der Geist lebt und die den Mut gefunden haben, sich selbst zu befreien. Diese Gedanken, die heute die von Grund auf bewegenden sind, waren nur noch zaghaft schwach in dem jüngeren Deutschland der Vergangenheit vorhanden; in den Jahren der weltwirtschaftlichen Ausdehnung und des Krieges erlagen sie beinahe. Sie lebten in dem scheinbar unlösbaren Widerspruch, den Deutschland als das Land der größten Sozialdemokratie und der großen Flotte dem Betrachter darbot; sie leben auch jetzt in dem Gegensatz der zähen, ungebrochenen Lebenskraft des Volkes und des Zusammenbruches seiner Autoritäten. Das Doppelte und Zerrissene unseres geistigen Zustandes schon im Bismarckischen Reiche ist die eigentliche Ursache unserer Zerrissenheit, unserer inneren Schwäche im Kriege, trotz der furchtbaren Kraftentfaltung; es machte die Niederlage zur Bestimmung; das Sträuben gegen ein letztes Nichtwollenkönnen des Sieges wurde zum tragischen Krampf, der den ganzen Körper unseres Volkes erschütterte. Die Männer, die uns bis zum Kriege regierten und uns im Kriege führten, waren in irgendeiner Weise disharmonisch und zerrissen, sie waren doppelte Menschen, wie es sie noch vor fünfzig Jahren nicht gab und wie es sie in fünfzig Jahren nicht mehr geben wird. Unterlegen sind die Völker, deren Seele zwischen Gesetz und Liebe schwankte, im Übergang zwischen dem alten Bunde und dem neuen; gesiegt haben noch einmal die Worte und Gesetze des alten Bundes, der alten Weltanschauung. Man lese die Reden der englischen und amerikanischen Staatsmänner während des Weltkrieges; sie übertreffen in ihrer Willensklarheit, in der Plastik und Geschlossenheit ihres Weltbildes, in der Energie ihrer Forderung, in ihrer zuversichtlichen, die Massen aufpeitschenden Ideologie die immer vorsichtig tastenden, von Klauseln und Opportunismus durchsetzten, von einem tiefen geistigen Ringen zeugenden, von einer leidvollen Verantwortung gedrückten Reden der Staatsmänner auf unserer Seite. Ja, zuweilen haben die Reden aus jener westlichen und mit sich zufriedenen Welt jenen eschatologischen Flug, jenen religiösen Ausdruck für das Gefühl der Gerechtigkeit und Reinheit einer Sache, jenes unmittelbar auf die puritanische Lehre von der Gnadenwahl, auf die Rechtfertigung durch den Glauben sich stützende Bekennertum, das wir uns schämen würden mit gleicher Sicherheit von unsern Kanzeln auszurufen. Dort war es noch einmal die alte, herbe Ideologie des Calvinismus, die die Eroberung und Verwaltung der ganzen Welt als ihr Recht und als ihre Pflicht betrachtet. Wie unser wiederkehrender Glaube, so ist diese calvinistische Ideologie unserer Feinde von gestern ein Kind der freiheitlichen frühmittelalterlichen Regungen, die die Spaltung Europas erzeugten; sie lässt sich in gerader Linie auf die geistigen Bewegungen des oberitalienischen und südfranzösischen Bürgertumes der Waldenser und Albigenser zurückverfolgen, diese Wurzel hat sie mit dem späteren Kommunismus gemeinsam, aber durch Adam Smith und J. J. Rousseau wurde sie zur Ideologie des Kapitalismus und der bürgerlichen Klassenherrschaft. Wohl unterschied sich die kriegerische und mit Erinnerungen an 1789 geschmückte Rhetorik der französischen Staatsmänner von dem Presbyterianertum Wilsons und von der theologischen Redensart Lloyd Georges, und war doch letzten Endes derselbe Macchiavellismus der Kapitalrente. Merkwürdig nur erinnert die düstere und drohende Redeweise dieses militärischen Frankreich an die Redeweise des gestrigen Deutschland, das in seinem Streben nach Waffenrüstung die kommenden Kriege als unentrinnbar vorausgespürt hat, weil es nicht wusste, wo eigentlich sein Platz in der Welt ist . . . Vielleicht wäre auch in der gegenwärtigen Phase der deutschen Revolution die Gefahr vorhanden, daß wir bei den Losungen des Kapitalismus und des bürgerlichen Liberalismus stehenblieben, die der Westen im Kriege zur lauten Predigt erhoben hat, wenn nicht der Friedensschluss die wahre Natur des westlichen Menschen enthüllt hätte. Darum machen die Bedingungen dieses Friedens die Forderungen aller der beleidigten und erniedrigten Völker mit denen des vierten Standes identisch, und sie machen den Weg der proletarischen Revolution zum Entscheidungskampf um die Menschenrechte.

So hat zum Schein das Glaubensmäßige den Sieg in dem gewaltigen Ringen davongetragen; — eine härtere und profanere, den aus innerem Zwiespalt faustisch emporstrebenden Völkern praktisch überlegene Weltanschauung, die nur rechnerische, nur bürgerliche Probleme anerkennt, ein Ideal, das sich erschöpft in einem wohlgerüsteten Weltrichtertum; in allem, was das letzte Wort des Westens darstellt und was die große Botschaft des Westens war, ehe der Betrug des Friedens kam. Der Franzose Calvin hat dem Protestantismus weit mehr als der Deutsche Luther die dogmatische Fassung gegeben, die den Erben des mittelalterlichen revolutionären Bürgertumes gegen die Erben des uralten ost- und weströmischen Weltreiches den Sieg verlieh. Dennoch besagt dieser Sieg nichts gegen das, was unbeirrbar unter den Trümmern der alten europäischen Kaisertümer emporwächst; denn auch diese Kaisertümer in ihrer Herrlichkeit waren unerfüllte Träume des Kommunismus ... Im mittelalterlichen Bürgertum waren einmal Calvinismus, Luthertum und Katholizismus die religiöse Widerspiegelung verschiedener ökonomischer Zustände in den Völkern. Der Calvinismus vertrat die ökonomisch entwickeltsten Elemente, im Luthertum bleiben die erst halb entwickelten Elemente stecken. In dem eine Zeitlang fast ganz protestantisch gewordenen Deutschland fiel der reich kultivierte Westen und Süden rasch wieder an die alte Kirche zurück, denn nicht allein stand der Katholizismus der damaligen Zeit, der in Schulwesen und Predigt sich zu verjüngen schien, hoch über dem Luthertum, sondern für große Teile des damaligen Deutschland bedeutete der Bruch mit Rom zugleich den Bruch mit den damals noch wirtschaftlich wichtigsten Ländern Europas, mit Italien, Frankreich und Spanien. Heute hat sich die Lage geändert. Ein neues Urland ist erschlossen. Es ist der Osten. Er ist erschlossen allein durch die Seelenkraft der Menschen, die wie aus einem tausendjährigen Schlafe zum ersten Mal erwachten und nun die äußeren Mittel und Gaben der westlichen Zivilisation nur zu nehmen brauchen, um ihre jugendfrischen und blühenden Reiche zu bilden. Nichts fesselt uns heute noch so stark wie damals an die südlichen Länder. Diese Länder unterliegen heute derselben Fatalität wie wir; kämpfen sie um die Freiheit der See, so führen sie diesen Kampf auch im Namen aller anderen europäischen Landvölker; weist uns Deutsche eine Gemeinschaft des inneren Schicksals nach dem Osten, so bereiten wir auch für Italien, Frankreich, Spanien die engere Verbindung mit den Ostvölkern. Und hier, nachdem wir die Perspektive des geistigen Ringens in diesem Europa angedeutet haben, wo die Welten des Westens und die des Ostens sich schärfer und gegensätzlicher als je gegenüberstehen und dennoch nur Stufen der Einheit sind, kommen wir zurück auf das Thema dieses Morgens: auf den Rhein als Schicksal. Das Achtzigmillionenvolk der Deutschen ist heute ausgeschlossen von Übersee; es ist zum Objekt geworden, es ist zum Erleiden und zur Untätigkeit gezwungen mitten in der noch nicht abgeschlossenen, gewaltigen Entwicklungszeit. Es ist auf seinem Wege zurückgestoßen und aufgehalten worden durch denselben Westen, den es einst zu übertreffen hoffte; es richtete in seiner bangsten Stunde auf diesen Westen seine Hoffnung, dann wurde es von diesem noch nicht erneuerten Westen in seiner Seele abgestoßen; es hat von ihm keine neue Idee, kein neues Wort zu erwarten . . . Der Osten Europas liegt zwar tief am Boden, Amerika dagegen ist in der Fülle seiner Macht, ja es scheint den Zenith seiner Macht noch nicht einmal erklommen zu haben. Aber wir verspüren den Aufstieg der osteuropäischen Länder, insbesondere Russlands aus der Flut seiner unendlichen Leiden, aus den furchtbaren Wirrnissen einer neuen Rechtsbildung, aus den Qualen, unter denen sich dort die alten, neuen, verschütteten und uns längst vertrauten Ideen emporringen. Diesen Aufstieg erleben wir schon jetzt. Der Westen dagegen scheint nun für lange Zeit, vielleicht für immer in die Greuel ökonomischer und Klassenkämpfe hinabzutauchen; er verbraucht seine geistigen Menschen allzu rasch; die Aussichten auf eine Konstanz seiner geistigen Haltung sind ebenso unklar wie die Fragen seiner Regeneration; er befindet sich nahe dem Gipfel, nah dem Abgrunde . . .

Deutschland liegt zwischen diesen beiden Welten, verstümmelt, wie ein Kranker, der nur in seine eigene Seele horchen, sich nur mit einer schwachen, vegetativen Gebärde nach der Seite der aufgehenden Sonne wenden kann, wenn nach langer Nacht der Tag anbricht. Es ist in allen seinen Beziehungen für die nächste Zukunft auf die kontinentalen Wege angewiesen, auf die Ostländer in ihrer Gesamtheit, auf Russland und den Balkan, selbst auf Innerasien und China. Deutschland verspürt zuerst das Erwachen des Ostens, auch wenn es nicht sogleich an diesem Erwachen teilnimmt; denn das Herz Deutschlands wird immer deutsch bleiben; das Deutschland zwischen Rhein und Elbe weiß von Westlertum und von Slawentum nur wenig. Es schläft noch heute einen tiefen, kerngesunden Schlaf, es träumt erst unbestimmt jener deutschen Revolution entgegen, die, wenn sie wirklich da wäre, Europa mitreißen, den Untergang einer alten Welt und den Aufgang einer neuen Welt besiegeln würde. Die revolutionäre Bewegung der Industriearbeiter, der glühendsten Masse, steht nur in der Mitte und treibt mit der ungeheueren Macht seines utopischen Instinktes das Ganze vorwärts. Das neue Europa wird nicht kommen, ehe nicht das Kleinbürgertum der unzähligen kleinen und mittleren Städte, das in seinem Herzen noch im sechzehnten Jahrhundert steckende Bauerntum und das irrende Rittertum der europäischen Länder aufwacht und unter den aus seiner Mitte geborenen Führern Taten verrichtet, an denen heute der Stand der Industriearbeiter und das klägliche Häuflein der von enger Theorie befangenen Intellektuellen scheitern müssen. Das Deutschland zwischen Rhein und Elbe, sagte ich, weiß wenig vom Westlertum und wenig vom Slawentum. Aber jenseits der Elbe und westlich des Rheines beginnen die Gebiete, die sich mit diesen Welten berühren und vermischen. Das Rheinland ist das Gegenstück jenes Teiles von Deutschland, der östlich der Elbe liegt. Wie dieser innerhalb des deutschen Typus, gehört es zu den sowohl formal wie innerlich sich internationalisierenden, europäisch werdenden Landschaften; seine Probleme sind gleich denen der anderen, zwischen den Mächten gelegenen europäischen Gebiete; aber es ist die reichste unter diesen Landschaften an kulturellen Schätzen, die kühnste und lebensvollste, was die Beziehungen zum großen Leben und Verkehr der Welt betrifft. Das Rheinland wird verstehen, was in dem stillen Deutschland zwischen Rhein und Elbe vor sich geht, es wird die Probleme jenes anderen Deutschland jenseits der Elbe als ein Abbild der seinigen wiedererkennen, und es kann sich diesen beiden nicht entfremden. Hier im Rheinland scheint das Wort von unserer Schicksalsgemeinschaft mit den östlichen Völkern, von der ich sprach, am wenigsten Sinn zu haben; dennoch ist sie vorhanden; seine Schicksalsgemeinschaft mit den ähnlich gestellten östlichen Gebieten liegt nur tiefer; sie hat einen europäischen Sinn. Wenn wir das johanneische Wesen begreifen, wie nur ein Land von alter Kultur es begreifen kann, dann erahnen wir, was dasselbe johanneische Wesen bei jungen Völkern wie den Slawen bedeutet. In diesem johanneischen Wesen aber verstehen wir uns mit allen, die es haben. Hat doch das ganze Europa samt dem Westen den Krieg verloren; es hat den Verlust erst aufgewogen, wenn sein Mysterium wiedergefunden ist . . . Und dieses Mysterium zu erhalten, sind wir da. Aus der Erkenntnis des europäischen Schicksals wird uns das Mysterium Europas lebendig, dieses Aufblühen der Rose immer wieder aus ihrer Entblätterung, immer wieder dieses Aufblühen nach der Zeit des Untergangs; immer wieder der Sieg des Lebens über ein totes Wissen, das in voller Mutlosigkeit endet und das Abendland von vornherein als Untergang definiert. Denn der Untergang Europas ist uns heute weder näher noch ferner als er jemals war; er ist heute so nahe wie er war zur Zeit der Völkerwanderung, wie um das Jahr 1000, wie um die Zeit der Kreuzzüge, wie um die Wende des 16. Jahrhunderts und um die Wende des 19ten. Aber immer wieder ist aus dem blutigen Acker die Rose in neuem Dufte aufgewachsen; sie wird sich nach diesem Herbste wieder erheben mit köstlich frischen, durchscheinenden Blättern, die mit so hoher Kunst ineinandergefügt sind, daß man weder Anfang gewahrt noch Ende.

Es ist das Schicksal des Rheines gewesen, daß große Völker immer wieder versucht haben, ihn zum Trennungsgraben und zur Grenze ihrer auf Gewalt gebauten Staaten zu machen. Es ist sein Schicksal, daß er, der zwischen Galliern und Germanen eine Grenze bildete, der in den Zeiten der Völkerwanderung die aus dem Osten vordringenden entscheidenden germanischen Stämme aufhielt und sie vor dem Fatum der Goten, vor dem Untergang in den südlichen Gauen der Loire und der Rhone bewahrte, dennoch die aus den geräumigen rechtsuferigen Talöffnungen hervorgewanderten Völker bei der friedlichen Niederlassung gegenüber den auf enge Nebentäler gestützten Nationen begünstigt. So bot schließlich der Rhein dem deutschen Menschentypus seine Ebenen bis an die Ränder dar, während von den alten westlich des Stromes gesammelten Nationen die stärkste, um sich zu behaupten, der sich in der Breite sammelnden Flut ihre künstlichen Bollwerke entgegensetzte und über die Verdränger in jener kriegerischen Verbissenheit herbrach, die sich in den Jahren um 1689 ihr schwärzestes Denkmal errichtete. Es ist der Rheinlandschaft zum Schicksal geworden, daß die Menschen am oberen und am unteren Lauf des Stromes und an seinen weit in die Länder ragenden Nebenflüssen einander unbegreiflich fremd geblieben sind, so daß mehr die Wasser als die Geister dieser Länder sich vermischten, obwohl doch nichts natürlicher wäre als ein Zusammenschluss aller dieser Stämme über jede nationale Eifersucht hinweg, da doch alle von dem wundervollen Gottesgeschenke zehren, das ein solcher Strom darstellt. Niemals ist dieser Strom das Rückgrat eines eigenen Reiches, eines Zwischenreiches geworden; es scheint, dieses Schicksal liegt seit einem Jahrtausend nicht mehr in seiner Bestimmung, und heute erschiene es im Rahmen Europas fast als nebensächlich. Doch wir kennen die Zukunft nicht. Für das Reich im Westen hat immer der Rhein, sobald er ihm zur Grenze wurde, den Anfang innerer Kämpfe und Auflösungen bedeutet; immer hat der Rhein in tragischer Anziehung die Kräfte des Frankenreiches von den Meeren hinweggelenkt, der Beherrscherin der Meere zu Gefallen. Er schwächte die nach fremden Erdteilen ausgestreckten kolonisatorischen Kräfte Frankreichs, denn er band diese Kräfte an den europäischen Erdteil; er störte die zentralistischen Tendenzen, er förderte die föderativen und regionalen; er begünstigte daneben eine Prägung des gallischen Charakters, die diesem Charakter bis auf diesen Tag den Namen des fränkischen gegeben hat. Das Schwergewicht einer französischen Politik an den Rhein, in das Elsaß, in die Pfalz, nach Niederdeutschland hinein und somit in den Osten verlegt, machte noch immer eine südliche Politik Frankreichs zu gleicher Zeit unmöglich; es konnte den gewaltigsten Wiederaufstieg der fränkischen Reichsidee, die seit den Tagen Karls des Großen dagewesen ist, nicht vor dem Zusammenbruch bewahren. Für Deutschland aber bedeutete der Rhein, wenn er Peripherie und Grenze wurde, den engeren Zusammenschluss, die höhere Einigkeit seiner Stämme: er bedeutete eine größere Aktivität dieser Körperschaft von deutschen Ländern ebenfalls nach Osten hin, — und heute bedeutet der Rhein, vom Reiche abgeschnitten durch die Unnatürlichkeit militärgeometrischer Halbkreise, in dieser seiner Abtrennung beides: einen Splitter in der Seite des Westens, und zugleich ein Versprechen auf ein neues, einheitliches Europa.

Ströme sind Schicksal des Festlandes mehr noch als die See, die seine Küste bespült. Wenn aber die Ströme ihre Schicksalsbedeutung offenbaren, so sind sie Wegweiser; ihr Pfeil weist zum Weltmeere. Die Menschen und die Gedanken im Stromlande führt der Strom aus der Gefangenschaft des Landes in die Freiheit der Welt und verbindet sie mit dem Gesamtbilde der Welt; vieler Berge bedarf es für den einen Strom; ihn hält keine Festung und kein Dom in seinen Ufern gefangen, er ist die ewige Mahnung zur Freiheit. Der Strom ist das Sinnbild der freien, produktiven Kraft der Arbeit. So ist auch der Rheinstrom der Zeuge eines leidenschaftlichen geschichtlichen Lebens, dessen Denkmale sich auf dem linken Ufer mächtiger reihen als auf dem rechten; er ist der Zeuge der alten Stadtrepubliken, so auch dieses heiliggesprochenen Köln, dessen Gotteshäuser in ihre langdauernde Gegenwart noch weite Strecken des Zeitablaufes einbeziehen, der für uns Zukunft ist; dessen alte Universitas noch heute im europäischen Denken nachwirkt, und dessen neu gegründete Universität in dem anbrechenden Zeitalter als ein Teil der Universitas zu wirken beginnen möge, die sich bildet aus der Einheit aller Forscher, Künstler und Erzieher auf der ganzen Erde. Sind in dieser Stadt, deren Giebel umwittert sind von unvergänglichen Legenden, deren Märkte und Winkel voll sind von den heiteren Erzählungen einer unerschöpflichen Sprache, sind in dieser Stadt über dem alltäglichen Leben und Weben auch die Glaubenskräfte vorhanden, daß am Beispiel einer einzigen Landschaft das zertrümmerte Europa sich aufrichten und sich einst wieder öffnen kann wie eine ungeheuere Rose? Das Schicksal hat dieser Landschaft vieles in den Schoß gelegt; den Reichtum einer großen Vergangenheit, die Möglichkeiten einer mit der ganzen Welt verbundenen Zukunft und die unsterbliche Verantwortung.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Rhein als Schicksal oder Das Problem der Völker