Die Ukraine und die Türkei.

Das jetzige Geschlecht der Türken, welches an den Nordufern des Schwarzen Meeres keinen anderen Staat als nur den russischen kennt, und welches sich an den gegenwärtigen Stand der Dinge an diesem Meer bereits gewöhnt hat, vermutet vielleicht nicht einmal, dass an den Nordufern des genannten Meeres vor etwa zweihundert Jahren die militärisch-staatliche Macht eines anderen Nachbarn der Türkei bestanden hatte. Die Beziehungen der Türkei zu diesem Nachbarn waren verschieden: sowohl feindlicher als auch freundlicher Natur. Der Nachbar der Türkei vor zweihundert Jahren war der ukrainische Staat und eben über die ukrainisch-türkischen Nachbarschaftsverhältnisse wollen wir hier ein paar Zeilen niederschreiben.

Die Nachbarschaftsverhältnisse zwischen der Türkei und der Ukraine, die um die Wende des fünfzehnten und sechszehnten Jahrhunderts beginnen, wurden zum großen Teil durch die Beziehungen der türkischen Vasallen, der Krimchanen zu der Ukraine bedingt. Und diese Beziehungen konnten nicht anders als nur feindlich sein, da das Krimchanat — einen kleinen Streifen von der Südkrim ausgenommen von den Nomaden bewohnt wurde. Für diese tatarischen Nomaden bildeten außer der Viehzucht die regelmäßigen Raubzüge in die Ukraine zwecks der Sklavenaushebung eine stete Lebensbeschäftigung. Für die Ukraine wurden diese jahrjährlichen Raubzüge zu einem schrecklichen Elementarunglück und sie hatten Rachefeldzüge der Ukrainer gegen die Tataren — zu Wasser und zu Lande — zur Folge. Eines der Hauptziele jener ukrainischen Kriegszüge gegen die Krimtataren bildete die Befreiung der in der Sklaverei schmachtenden Ukrainer. Da aber die ukrainischen Sklaven von den Tataren auch in die Türkei verkauft wurden, so erstreckten sich mit der Zeit (gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts) die ukrainischen Kriegszüge über das Meer auch gegen die türkische Küste am Schwarzen Meer; gegen Warna, Trapezunt, Sinope, Skutari, ja sogar gegen Konstantinopel. Es war eine Jahrzehnte dauernde Periode eines ununterbrochenen Krieges zwischen der Türkei und den Ukrainern, welche einerseits von Polen, anderseits von Venedig, das auch in einem steten Streit mit der Türkei lag, gehetzt wurden.


Um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts tritt eine ernste Wendung in der Hinsicht ein. Es beginnt eine Reihe von heftigen Kämpfen, ein fast ununterbrochener Krieg zwischen Polen und der Ukraine, dem gegenüber die Kriegszüge über das Schwarze Meer in den Hintergrund treten, umso mehr, da das Krimchanat sich in einem Agrikulturstaat zu verwandeln begann und die tatarischen Raubzüge zwecks der Sklavenaushebung in der Ukraine allmählich seltener wurden. Damit entfiel auch die Ursache der ukrainischen Kriegszüge auf dem Schwarzen Meere. In dem Maße, als der Kampf der Ukrainer gegen Polen und nachher gegen Moskowitien immer heftiger ward, bessert sich auch das Verhältnis der Ukraine zur Türkei, um sich aus einem feindlichen in ein freundliches, ja sogar in ein Bündnisverhältnis umzuwandeln.

Der erste, der mit klarem Bewusstsein den Weg betreten hatte, war der große Hetman der Ukraine, Bohdan Chmelnyzkyj um das Jahr 1650. Im Kriege mit den Polen verbünde er sich mit dem Krimchanat, und da der Chan ein türkischer Vasall war, trat Chmelnyzkyj auch in nähere Beziehungen zur Türkei. Die Türkei — in der damals Mohammed IV. auf dem Kalifenthrone saß und der berühmte Mohammed Köprülü den Staat leitete — hat das Verhältnis ganz ernst aufgefasst, während die Krimtataren dasselbe mehr als einen Vorwand zur Sklavenaushebung betrachteten. Daraus entstanden zwischen der Krim und der Ukraine Konflikte, die die Regierung des Padischah zugunsten der Ukraine entschied, indem sie dem Chan befahl, den Chmelnyzkyj gegen die Polen zu unterstützen. Als Gegenleistung ließe sich Chmelnyzkyj keineswegs von Venedig in einen Krieg mit der Türkei hineinlocken und alle Bemühungen des venezianischen Gesandten in der Ukraine, des Senators Vemina, blieben in der Hinsicht völlig erfolglos. Die türkische Regierung war dem Chmelnyzkyj so gewogen, dass sie den Plan des Bohdan Chmelnyzkyj, für seinen Sohn Tymosch den moldauischen Thron zu gewinnen, stillschweigend genehmigte. Der Plan scheiterte daran, dass Tymosch Chmelnyzkyj in dem Kampf mit den Polen den Tod gefunden hatte.

Die Beziehungen zwischen Stambul und dem Bohdan Chmelnyzkyj wurden dann so innig, dass im Jahre 1650 bei der Hohen Pforte eine ukrainische Gesandtschaft mit dem Vorschlag erschien, dass die Ukraine für die türkische Hilfe gegen Polen ein Vasallenstaat Padischahs zu werden bereit ist. Mit einem Firman des Padischahs vom Jahre 1650 wurde Chmelnyzkyj über die Zustimmung der Türkei verständigt und so entstand zwischen der Ukraine und der Türkei ein Vasallen Verhältnis, das drei Jahre dauerte. Die türkische Regierung unterstützte den Chmelnyzkyj nach Kräften in seinem schweren Kampfe gegen die Polen, indem sie die Leistung dieser Hilfe dem Krimchanat empfahl. Die Krimtataren führten aber ihre eigene Politik in der Frage und da ihnen die Macht Chmelnyzkyjs zu groß erschien, so sind sie auf die polnische Seite, also gegen die Ukraine übergegangen. Das musste das Verhältnis zwischen der Ukraine und der Türkei lockern und endlich erfolgte eine gänzliche Lösung des Verhältnisses im Jahre 1651, als Chmelnyzkyj in einer schweren Bedrängnis polnischerseits in ein Vasallenverhältnis Russland gegenüber zu treten gezwungen wurde.

In den Kämpfen zwischen der Ukraine und dem russischen Zarismus, die gleich nach dem Tode des Bohdan Chmelnyzkyj begannen, betrat denselben Weg im Verhältnis zur Türkei der Hetman Petro Doroschenko, eine der hervorragendsten Gestalten der ukrainischen Geschichte. Zwischen Doroschenko und der Hohen Pforte ist ein Vertrag zustande gekommen, auf Grund dessen die Ukraine zu einem Vasallenstaat der Türkei wurde, wofür die Türken ihrerseits sich dem Doroschenko gegenüber verpflichteten, denselben in einem Kriege gegen Polen und Russland zwecks der Befreiung des gesamten ukrainischen Territoriums und der Vereinigung aller Ukrainer in einem Nationalstaat zu unterstützen. In dem darauffolgenden Krieg stellte sich die Türkei wirklich mit ihrer Kriegsmacht zur Seite des Doroschenko. Der Sultan Mohammed IV. rückte mit dem Doroschenko gegen Polen aus, erstürmte Kamenetz Podilskyj und belagerte die Stadt Lemberg. Polen musste nachgehen und im Frieden von Buczacz (1672) musste es auf Podolien zugunsten der Türkei verzichten und die Selbständigkeit der Ukraine anerkennen. Als aber in dem nächsten Jahre Russland mit übermächtigen Kräften gegen den Doroschenko ausrückte und die türkische Hilfe nicht herbeikam, musste Doroschenko nach einem dreijährigen hartnäckigen Widerstand der russischen Übermacht erliegen. Er wurde von den Russen gefangengenommen und im Norden interniert.

Die türkische Regierung versuchte in den Jahren 1677 und 1678 die Ukraine im Westen von dem Dniprstrom zu besetzen, allein der von der Türkei zum ukrainischen Fürsten eingesetzte Sohn des Bohdan Chmelnyzkyj, Jurij (Georg) Chmelnyzkyj, fand beim Volk keine Popularität und dieser Plan scheiterte infolgedessen. Da die Türkei einen Krieg mit den Habsburgern begann, musste sie auf ihren Einfluss in der Ukraine verzichten.

Der dritte ukrainische Politiker, der die Kombination des Bohdan Chmelnyzkyj mit der Türkei zu wiederholen versuchte, war Philipp Or1yk, der gewesene Kanzler des Hetman Iwan Masepa, welcher nach der Niederlage bei Poltawa (1709) und dem Tode Masepas (der in Akkerman auf dem türkischen Territorium erfolgte), von den auf das türkische Territorium geflüchteten Überresten der ukrainischen Armee zu einem „Hetman en exile“ gewählt wurde. Zwischen dem Orlyk, dem schwedischen König Karl XII. (der ebenfalls nach der Poltawaer Schlacht in die Türkei flüchtete) und der Regierung des Sultans Achmed III. wurde ein Vertrag geschlossen, kraft dessen die Türkei, Schweden und die Ukraine ein Bündnis gegen Russland und Polen schlossen, wobei die Türkei und Schweden das Protektorat über die Ukraine übernahmen und sich gleichzeitig verpflichteten, dem Orlyk im Kampfe gegen Russland beizustehen. In den ein paar Jahre dauernden Kriegsoperationen gelang es der Türkei, Russland zum Verzicht auf die Ukraine zu zwingen (Pruth-Vertrag), da aber die Türkei neuerlich in einen Krieg mit Österreich geriet, konnte sie die Erfüllung dieses Vertrages von Russland nicht erzwingen. Orlyk musste nachher nach Schweden übersiedeln und Russland fasste festen Fuß in der Ukraine. Das war für die weitere geschichtliche Entwicklung am Schwarzen Meer entscheidend: Russland okkupierte nachher die Krim, dann Kaukasus und die türkischen Gebiete am Nordufer des Schwarzen Meeres und bedrohte endlich die Türkei selbst. Es wäre nicht so gekommen, hätte die Türkei rechtzeitig den ukrainischen Hetmanen (Bohdan Chmelnyzkyj, Doroschenko und Orlyk) ernste Hilfe geleistet. Die Ukraine wäre dann ein Schutzwall der Türkei gegen Russland geblieben.

Der letzte geschichtliche Akt der türkisch-ukrainischen Beziehungen war der Übergang der sogenannten „Saporoger Ssitsch“, einer militärischen, ordenmäßigen Organisation der Ukrainer, unter die Herrschaft der Hohen Pforte (1775). In dem Jahre hat Russland die am unteren Dnipr gelegene Festung „Ssitsch“ bombardiert und das Territorium der Saporoger-Republik von den Dniprkatarakten bis zum Schwarzen Meer besetzt. Die Überreste der Saporoger erreichten teils zu Land, teils zu Meer das türkische Territorium an der Donaumündung und besetzten mit der Zustimmung der Türkei als eine autonome militärische Organisation die Donaudelta. Das war die „Donau-Ssitsch“, die letzte militärische Organisation der Ukrainer, die bis zum Jahre 1828, das heißt bis zum Türkisch-Russischen Krieg bestand. Die Nachkommen dieser Saporoger leben noch jetzt auf den Donauinseln in Dobrudscha und ein Teil von ihnen soll nach Anatolien in die Umgegend von Brussa übersiedelt haben.

Die Motive, die im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert die Türkei veranlassten, in der Ukraine einen Schutzwall gegen Russland zu suchen, sind heutzutage, wo die Macht Russlands dem Balkan und der Türkei so bedrohlich geworden ist, noch aktueller. Der Drang Russlands zu den Meeresengen und nach Konstantinopel wird nicht eher aufhören — bis die Meeresengen und Konstantinopel Russland in die Hände fallen oder — bis Russland gegen den Norden hin hinter die Ukraine zurückgedrängt wird. Die Schaffung, richtiger die Wiederherstellung des ukrainischen Staates, wie sich ihn Mohammed Köprülü gedacht. hatte, liegt direkt im Interesse der Türkei.