Die Ukraine und Bulgarien.

Für den bulgarischen Leser, der gewohnt ist, auf das nördliche Gestade des Schwarzen Meeres als auf ein echt russisches Land zu schauen, wird es vielleicht nicht ohne Interesse sein, mit manchen Seiten der geschichtlichen Vergangenheit bekannt zu werden, welche auf die regen kulturellen Beziehungen beider Länder — der Ukraine und Bulgariens — hinweisen, wobei die Rollen beider Nationen wechseln: zuerst sind die Bulgaren Lehrer der Ukrainer, dann befinden sich die Ukrainer in dieser Lage, dass sie auf die Bulgaren kulturell einwirken können.

Die ältesten Beziehungen beider Länder verschwinden in der Dämmerung der vorhistorischen Zeit. Auf jene Zeit muss man bis zu einem gewissen Grade auch den Aufenthalt des heiligen Cyrillus (Kyrylo, damals noch Konstantin genannt) in der Krim und an den ukrainischen Ufern des Schwarzen Meeres beziehen. In jedem Fall beginnt schon damals die Propaganda des bulgarisch-slawischen Christentums bei den südlichen ukrainischen Stämmen. Beweise dafür haben wir bereits in dem neunten und noch mehr in dem zehnten Jahrhundert in der Existenz zahlreicher Christen und des slawischen Gottesdienstes (mit der cyrillischen Schrift und der altbulgarischen Sprache) in manchen Zentren der Ukraine (unter anderen Kyjiw). Nebst den byzantinischen Einflüssen waren damals die bulgarischen am stärksten in der Ukraine. Diese enge Verbindung mit Bulgarien hat wahrscheinlich auch den kriegerischen Fürsten Swjatoslaw veranlasst, einen Eroberungsfeldzug gegen Bulgarien (968) zu unternehmen. Nachdem Swjatoslaw die Bulgaren bei Dorostol (Silistrien) besiegt hatte, hielt er sich in Perejaslaw (jetzt ein Dorf neben Tultscha) auf, woher er nach Thrakien gegen Konstantinopel (Zargorod) ausrückte. Die Kämpfe mit dem byzantinischen Kaiser Zymischieus endeten mit einer Niederlage Swjatoslaws, der gezwungen wurde, nach Bulgarien zurückzukehren, wo er, in Dorostol (Silistrien) eingeschlossen, sich drei Monate gegen die verbündete byzantinisch-bulgarische Armee wehrte. Die beharrliche Verteidigung veranlasste den Zymischieus, Frieden zu schließen und ihm freie Rückkehr in die Ukraine (972) zu gestatten. Damit endet dieser einzige vier Jahre dauernde kriegerische Vorfall zwischen der Ukraine und Bulgarien.


Mit dieser einzigen Ausnahme trugen die gegenseitigen Beziehungen beider Länder einen ausschließlich friedlichen kulturellen Charakter. Die erste ukrainische kirchliche Hierarchie nach der offiziellen Einführung des Christentums in der Ukraine durch Wolodymyr (Vladimir) den Großen (gegen das Ende des zehnten Jahrhunderts) soll aus Bulgarien gestammt haben. In jedem Fall waren die damals nach der Ukraine gebrachten Kirchenbücher und ein großer Teil der weltlichen Literatur bu1garischen Ursprungs. Die bulgarischen Einflüsse in dem ukrainischen Kirchenwesen waren noch lange Zeit nachher bemerkbar, und noch bis auf den heutigen Tag ist ihre Spur wenigstens darin geblieben, dass eine Art der Kirchenlieder in der Ukraine bis heute ,,bulgarische Weisen“ heißen und die bulgarischen Namen „Borys“ und „Hlib“ zu nationalen Namen in der Ukraine wurden. Die gesamte ukrainische Literatur „der Fürstenperiode“ (neuntes bis dreizehntes Jahrhundert) weist nicht nur in der Sprache, sondern auch im Inhalt starke bulgarische Einflüsse auf. In der Ukraine waren Hunderte von bulgarischen Werken verbreitet: Chroniken (litopyssy), Erzählungen (skasanija), Reisebeschreibungen (palomnyky), Lebensschilderungen (zytija), Worte (slowa), Sammlungen (sbornyky), „Bienen“ (ptschely), „Schlegel“ (cjipy) u. s. w. in Originalen oder in den ukrainischen Umarbeitungen, und die frommen bulgarischen Apokryphe sind zum Eigentum des ukrainischen Volkes geworden. Eines der bedeutenden Werke der altukrainischen Literatur „Sbornyk Knjasja Swjatoslawa“ (Die Sammlung des Fürsten Swjatoslaw) aus dem elften Jahrhundert ist eine freie Umarbeitung eines analogen bulgarischen Werkes.

Diese kulturellen Beziehungen Bulgariens mit der Ukraine wurden im dreizehnten Jahrhundert infolge der mongolischen Invasion unterbrochen, von der beide Länder heimgesucht und durch welche die südlichen ukrainischen Steppen — von den Karpaten weit über den Donfluss hinaus — überflutet wurden, so dass jeder Verkehr zwischen Bulgarien und der Ukraine, welche durch die Mongolen in das heutige Galizien, Wolhynien, in das Kyjewer und Tschernyhower Gebiet zurückgedrängt wurde, unmöglich gemacht wurde.

Erst im fünfzehnten Jahrhundert wird das unterbrochene kulturelle Band aufs Neue angeknüpft. Durch die mongolische Invasion und die Kriege mit Polen und Litauen sowie der beiden letzteren Reiche untereinander wurde die Ukraine in dem Maße zugrunde gerichtet, dass Kyjiw sich in eine kleine Ansiedlung an der Grenze verwandelte, welche die ukrainischen Metropoliten verlassen mussten. Die ukrainische Hierarchie hat ihre ehemalige Macht eingebüßt und die ukrainische Kultur ist gesunken, nachdem die Städte dem Ruin unterlagen. Erst nach dem Erstarken Litauens und nach dem Zurückdrängen der Tataren bis zum Ufer des Schwarzen Meeres lebt die ukrainische Kirche und Kultur auf. Dank den Bemühungen des litauisch-ukrainischen Großfürsten Wytowt wird die Kyjiwer Metropole wiederhergestellt und ein gebürtiger Bulgare Hryhorij Ssamwlak oder Zamblak wird zum Kyjiwer Metropoliten. Derselbe war anfangs Diakon des bulgarischen Patriarchen Eutychius, dann Presbyter in der moldauischen Suczawa, später Ihumen (Prior) des Pantakreteischen Klosters in Detschy in Serbien und wurde zuletzt zum ukrainischen Metropoliten-Exarchen in Kyjiw (im Jahre 1416). Seine literarische und organisatorische Tätigkeit belebte die ukrainische Kirche und hatte neue Entwicklung des Schulwesens und der Literatur zur Folge. In der Geschichte der ukrainischen Kultur nimmt Zamblak eine angesehene Stelle ein und ist einer der Vorgänger seines berühmten Nachfolgers in der Kyjiwer Metropole, des Peter Mohyla.

Das Unglück, von dem Bulgarien inzwischen heimgesucht wurde, und zwar ihre Besetzung durch die Türken, hat den Tausch der Rollen zur Folge gehabt, umso mehr, als die Ukraine — dank der regen Wirksamkeit des Fürsten Ostrozskyj (das Lyzeum in Ostrog) und des Metropoliten Peter Mohyla (die Akademie in Kyjiw) — eine hohe Stufe der Entwicklung erreicht hatte. Da beginnt auch die entgegengesetzte Strömung, die aber nicht so stark ist, wie die vorangegangene: die Bulgaren entlehnen so manches von den Ukrainern. So wird zum Beispiel die berühmte Grammatik der altkirchenslawischen Sprache des Ukrainers Meletij Smotryzkyj, die zuerst in Litauen im Jahre 1619 erschienen war, zu einem Lehrbuch bei allen Ostslawen, darunter auch bei den Bulgaren und dient dort auch als Grundlage für die Entwicklung der Grammatikographie. Sie wurde in einer besonderen Ausgabe für die Südslawen im Jahre 1775 in Rymnyk herausgegeben und hatte sich in den Schulen und Klöstern bis zum Wiederaufleben der bulgarischen Literatur erhalten, in deren Geschichte wiederum der Name eines Ukrainers, des Jurij (Georg) Wenelin (1802—1839) ehrenvoll eingezeichnet ist. Wenelin hatte an der Universität in Lemberg und dann in Moskau studiert, übersiedelte dann nach Bulgarien, wo er naturalisiert wurde, und ist einer der Begründer der bulgarischen nationalen Wiedergeburt geworden. Durch seine geschichtlichen Werke über Bulgarien weckte er die historischen Traditionen des bulgarischen Volkes, wodurch er zur Stärkung ihres nationalen Bewusstseins beitrug. Er war auch der Begründer der ersten bulgarischen Schule in Habrow (im Jahre 1835).

Der schwere Kampf der Ukrainer und der Bulgaren für ihre nationale Emanzipation, der für Bulgaren bereits mit einem Erfolg gekrönt wurde, während dem er für die Ukrainer noch immer keinen Abschluss findet, hat den kulturellen Austausch beider Länder nicht gefördert, umso weniger, als zwischen die beiden Völker die chinesische Mauer des Aboskowitertums sich hineindrängte. Es war für die Bulgaren unmöglich, hinter dieser Mauer, hinter dem Gitter der Kasematten das ukrainische nationale Leben zu erblicken, umso schwerer, da Russland damals noch vor der Dethronisation des Fürsten Alexander und vor der Mission des Kaulbars im Glanz der Aureole eines „Befreiers“ herumstolzierte. Nicht einmal die starke Persönlichkeit und der überwältigende Verstand des Professors an der Hochschule zu Sofia Mychajlo Drahomanow (gestorben 1895), eines Emigranten aus Kyjiw, der von Sofia aus die geistig-politischen Strömungen in seiner Heimat — in Kyjiw und in Lemberg — leitete, vermochte es, jener Stimmung mit Erfolg entgegenzuwirken. Drahomanow hat sich gleichfalls große Verdienste um die bulgarische Wissenschaft, namentlich um die bulgarische Folkloristik erworben.

Erst in der neuesten Zeit wurde eine Bresche in jene chinesische Mauer geschlagen und bald wird sie, hoffen wir, gänzlich verschwinden. Nicht umsonst begeistert sich der bulgarische Dichter Slawejkow für die Ukraine und für ihre Freiheitskämpfe, während dem der ukrainische Dichter Fedjkowytsch den Freiheitskämpfen der Bulgaren ein Gedicht unter der Überschrift „Kirdzali“ widmet. Zwischen beiden Nationen besteht viel Gemeinsames und es gibt nichts, was sie trennen könnte. Gemeinsam ist unser Streben nach der nationalen Freiheit, nach der Vereinigung aller Volksgenossen, in einem nationalen Staate. Dieses Ziel wurde von den Bulgaren bereits zum überwiegenden Teil erreicht und wir haben dasselbe auf unsere Fahnen geschrieben. Für die Erreichung dieses Zieles vergießen nun die ukrainischen freiwilligen Ssitschower Schützen ihr junges Blut und Zehntausende unserer Männer kämpfen mit wahrem Heldenmut in den Reihen der österreichisch-ungarischen Armee gegen den Erbfeind der Ukraine. Die Auferstehung der Ukraine kann nur im Interesse Bulgariens liegen: dieselbe wird Bulgarien gegen den russischen Koloss und gegen seine Intrigen am Balkan schützen. Die Wiederherstellung des ukrainischen Staates wird das stark erschütterte Gleichgewicht im Osten Europas und am Schwarzen Meer aufrichten. Das liegt auch im Interesse Bulgariens.