So gingen die Tage für die beiden Unglücklichen erträglicher dahin. Faria, der während langer Jahre in bezug auf den Schatz

So gingen die Tage für die beiden Unglücklichen erträglicher dahin. Faria, der während langer Jahre in bezug auf den Schatz geschwiegen hatte, sprach jetzt bei jeder Gelegenheit davon. In der Furcht, das beschriebene Blatt könnte verlorengehen, zwang Faria Dantes, es auswendig zu lernen, und Dantes wußte es von Anfang bis zu Ende. Eines Nachts erwachte Edmond plötzlich, in der Meinung, man habe ihn gerufen. Er schlug die Augen auf und versuchte, die Finsternis zu durchdringen. Eine klagende Stimme, die seinen Namen auszusprechen sich mühte, schlug an sein Ohr. Er richtete sich in seinem Bett empor, Angstschweiß auf der Stirn, und horchte. Kein Zweifel, der Klageton kam aus dem Kerker seines Gefährten.

»Großer Gott!« flüsterte Dantes. »Sollte er...?«


Schnell sprang er in den Korridor und gelangte auf die andere Seite; die Steinplatte war schon weggehoben.

Beim Schein einer selbstfabrizierten Kerze sah Edmond den Greis leichenblaß und zitternd an seinem Bette stehen. »Ich rief Sie, mein junger Freund; es geht zu Ende. Ein altes Leiden -- Katalepsie -- packt mich wieder. Zwei Anfälle ... überstand ich ... der dritte bringt den Tod.«

Der Alte wankte. Edmond nahm ihn in seine Arme und legte ihn aufs Bett.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« stöhnte Dantes verzweifelt.

Der Greis schüttelte den Kopf. Dann aber kamen stoßweise die Worte hervor: »Sollte ich toben .... schäumen .... schreien ... verhindern, daß man es hört. Liege ich ... stumm ... starr ... zwölf Tropfen ... Fläschchen ... hinten im hohlen Bettfuß ...«

Edmond suchte sofort und fand das Fläschchen. Angstvoll sah er auf den Kranken. Der schien im Augenblick ruhiger zu sein.

»Mein junger Freund,« sagte er liebevoll, »Sie einziger Trost meines elenden Lebens, Sie, den mir der Himmel zwar spät, aber dennoch geschenkt hat, wofür ich ihm danke, jetzt wünsche ich Ihnen in meiner Todesstunde alles Glück, alles Wohlergehen, das Sie verdienen. Ich segne Sie, mein Sohn!«

Der junge Mann warf sich, sein Haupt an das Bett des Greises gelehnt, auf die Knie.

»Und beherzigen Sie, was ich sage: Der Schatz der Spada besteht. Es gibt keine Entfernung -- kein Hemmnis mehr für mich: ich seh' ihn! Ich seh' ihn in der zweiten Grotte! Meine Augen durchdringen die Tiefen der Erde -- sie sind geblendet von all dem Reichtum. Alles ist dein, mein Sohn -- dein, dein!«

Und noch einmal hob er sich hoch mit aller Anstrengung. »Monte Christo... Monte Christo...« murmelnd, fiel er dann auf sein Lager zurück.

Die Krisis war schrecklich: krampfhaft gestreckte Glieder, aufgeschwollene Augenlider, blutiger Schaum, ein regungsloser Körper, dies war alles, was nun auf dem Schmerzenslager an Stelle des verständigen Wesens lag, das sich einen Augenblick früher darauf hingestreckt hatte. Dantes stand in zitternder Erwartung, das Heilmittel anwenden zu können. Als der Kranke ganz starr dalag, nahm Edmond ein Messer, um ihm die fest zusammengebissenen Zähne auseinanderzubringen, und flößte ihm zwölf Tropfen ein.

Er wartete zehn -- zwanzig Minuten -- noch länger in namenloser Angst -- es trat keine Änderung ein. Da goß Dantes dem Sterbenden den ganzen Inhalt des Fläschchens in den Mund. Die Wirkung war furchtbar anzusehen. Der abgezehrte Körper wand sich in gräßlichen Zuckungen unter Ächzen und Stöhnen.

Edmond, über den Freund gebeugt, die Hand auf dessen Herzen, fühlte, wie der Leib sich reckte und streckte und das Herz immer dumpfer und langsamer schlug -- bis alles ganz still war. Todesblässe bedeckte das Angesicht, die Augen blieben offen, doch der Blick verglaste sich.

Geräusche wurden laut. Dantes ergriff voller Schrecken die verräterische Kerze und entfloh, so gut es ging, die Steinplatte über sich zudeckend. Der Gefangenwärter kam erst zu ihm und ging dann zu Faria. Als Dantes sich wieder allein sah, betrat er vorsichtig den unterirdischen Gang, um zu hören, was im Kerker seines unglücklichen Freundes alles geschah.

Zunächst vernahm er die Hilferufe des Wärters. Soldaten kamen hinzu, schließlich der Gouverneur. Das Bett des Verstorbenen knarrte, da man die Leiche hin und her drehte. Der Gouverneur befahl, dem Alten Wasser ins Gesicht zu spritzen, und als das auch nicht half, schickte er zum Arzt. Dann verließ einer nach dem andern den Kerker. Nach einer Stunde geduldigen Wartens hörte Dantes von neuem Stimmen in der Zelle. Der Arzt untersuchte den Verstorbenen und erklärte ihn für tot. Man hantierte noch eine ganze Weile an der Leiche herum, ohne daß Dantes begriff, was dort geschah. Nur die Gefühllosigkeit, die aus jedem Wort, das da oben gesprochen wurde, hervorging, empörte ihn tief.

»Also heut abend!« sagte laut der Gouverneur.

»Soll eine Messe gelesen werden?« fragte irgend jemand. Rohes Gelächter war die Antwort.

»Soll der Tote bewacht werden?« hörte er nun die Stimme des Schließers.

»Unsinn!« sagte der Gouverneur. »Schließt die Zelle ab wie immer, und damit gut!«

Als die Schritte der Davongehenden verhallt waren, trat wahre Grabesstille ein. Dantes hob nun vorsichtig mit dem Kopf die Steinfliese auf und warf einen Blick durch das Zimmer.

Auf dem Bett sah er einen alten grauen Sack, unter dessen weiten Falten eine menschliche Gestalt erkennbar war. Das war das Leichentuch Farias.

Dantes setzte sich zu Häupten des Bettes und weinte.

»Könnte ich sterben und mit dir gehen, du mein väterlicher Freund! Aus diesem Kerker entkommen ja doch nur die Toten.«

Dantes sprang plötzlich auf, legte die Hand an die Stirn, als ob ihn schwindle, ging zwei- oder dreimal im Zimmer auf und ab, kehrte wieder zurück und hielt vor dem Bett an.

»Oh« flüsterte er. »Wer gibt mir diesen Gedanken ein? Bist du es, mein Gott? Da nur die Toten hier frei hinauskommen, so setzen wir uns an die Stelle des Toten.«

Und ohne sich Zeit zu lassen, viel zu überlegen, beugte er sich mit kühnem Entschluß zu dem gräßlichen Sacke hinab, riß ihn mit dem von Faria verfertigten Messer auf, zog den Leichnam aus dem Sack heraus, trug ihn in seinen Kerker hinüber, hüllte ihm den Kopf, wie er es mit sich zu tun pflegte, in einen Lappen, küßte zum Abschied die eisige Stirn des Toten und legte ihn, mit dem Gesicht nach der Wand, in sein Bett. Wenn der Wächter ihm nun das Abendbrot brachte, würde er glauben, er sei schon zu Bett, wie dies oftmals geschehen. Dann eilte er in den anderen Kerker zurück, warf seine Kleiderlumpen ab, kroch in den Sack hinein, nähte ihn von innen wieder zu und nahm die Stellung ein, die der Leichnam innegehabt. Wäre jetzt jemand dazugekommen, so hätte er den Herzschlag des Verwegenen hören müssen.

Wohl hätte Dantes bis nach dem Abendbesuch des Wächters warten können, aber er fürchtete, der Gouverneur könnte seinen Entschluß ändern, dann wäre seine letzte Hoffnung verloren. Jedenfalls stand sein Plan nun fest: Wenn die Totengräber während des Tragens bemerken sollten, daß sie einen Lebendigen statt eines Toten fortschafften, so wollte ihnen Dantes nicht Zeit lassen, ihn zu erkennen; mit einem kräftigen Messerstich würde er den Sack von oben bis unten aufreißen, ihren Schreck benutzen und entfliehen. Wer ihn zurückhalten wollte, bekäme sein Messer zu spüren. Sollte man ihn aber bis zum Gottesacker tragen, würde er sich ruhig mit Erde beschütten lassen. Zuviel würden sie abends wohl nicht graben, so daß er die Möglichkeit hätte, die leichte Erdschicht nach dem Fortgang der Männer aufzuheben und zu entfliehen. Sollte sie doch zu schwer werden, nun -- so starb er den Tod der Erstickung.

Dantes hatte seit dem Tage vorher nichts mehr gegessen. Er ließ sich aber nicht Zeit, an Hunger zu denken; es stand zuviel auf dem Spiel.

Je länger er so dalag, um so größer wurde seine Aufregung. Eisige Schauer durchbebten seinen Leib, trotzdem ihm der Schweiß von der Stirn rann.

Endlich hörte er Schritte. Dantes vermutete die Totengräber. Man stellte eine Bahre nieder. Dann ging die Tür auf, trübes Licht fiel in die Zelle, und Dantes sah zwei Schatten seinem Lager nahen. Eine dritte Gestalt blieb an der Tür stehen mit einer Stocklaterne in der Hand. Nun faßten die beiden ersten den Sack am oberen und unteren Ende und schleppten ihn fort. Dantes nahm allen Mut zusammen und machte sich steif wie ein Brett.

»Daß der Alte so schwer ist, hätte ich nicht gedacht«, sagte der erste.

»Ach -- weißt du nicht, daß Knochen mit jedem Jahr ein halbes Pfund mehr wiegen?« gab der zweite zur Antwort. Währenddessen hatte man ihn auf die Bahre gelegt, und nun ging's eine Treppe hinauf. Plötzlich wehte Dantes frische, rauhe Nachtluft an. Das war ein seltsames Gefühl. Die Bahre wurde wieder hingestellt, und einer der Träger entfernte sich, kam aber bald zurück. Er hob Dantes' Füße auf und umwand sie mit einem Strick, was Dantes heftigen Schmerz verursachte.

Wieder ging's eine Strecke weiter. Der Meerwind wehte kälter, und das Brausen der Wellen tönte Dantes in die Ohren.

»Schlechtes Wetter heut!« sagte einer der Träger.

»Ja -- der Abbé wird naß werden«, lachte der andere.

Dantes sträubten sich die Haare auf dem Kopf.

»Los! Jetzt sind wir so weit!« meinte der vordere.

»Weiter, weiter!« mahnte der Hintermann. »Du weißt doch, daß neulich einer auf dem Felsen zerschmettert hängenblieb und wir tags darauf ordentlich was abbekamen.«

Sie stolperten noch ein paar Schritte vorwärts, dann fühlte Dantes, daß man ihn bei Kopf und Füßen packte und ihn schwang.

»Eins -- zwei -- drei!« Dantes sauste durch die Luft wie ein verwundeter Vogel und fiel und fiel mit einer Raschheit, die ihm das Herz erstarren ließ. Obgleich ihn etwas hinabzog mit aller Gewalt, schien ihm dieser Fall Jahrhunderte zu dauern. Endlich fuhr er mit aufklatschendem Geräusch in eisiges Wasser. Das entpreßte ihm einen gräßlichen Schrei, der sofort durch das Untertauchen erstickt wurde. Man hatte Dantes ins Meer geschleudert, auf dessen Grund ihn eine sechsunddreißigpfündige Kugel riß. Das war der Gottesacker von Schloß If.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo