Obwohl betäubt, ja fast erstickt, hatte Dantes doch Geistesgegenwart genug, seinen Atem anzuhalten,

Obwohl betäubt, ja fast erstickt, hatte Dantes doch Geistesgegenwart genug, seinen Atem anzuhalten, und da seine rechte Hand, aller Fälle gewärtig, das Messer offen hielt, schlitzte er rasch den Sack auf, streckte erst den Arm, dann den Kopf heraus; aber ungeachtet seiner Anstrengungen, die Kugel aufzuheben, fühlte er sich fort und fort hinabgezogen; da krümmte er sich zusammen, den Strick suchend, der seine Beine umschlang, und mit einem Ruck schnitt er ihn gerade in dem Augenblick durch, als er zu ersticken meinte. Dann schwang er sich mit einem kräftigen Stoß seiner Füße an die Oberfläche, während die Kugel in unbekannte Tiefen des Meeres das grobe Gewebe hinabriß, das bald sein Leichentuch geworden wäre. Dantes nahm sich kaum Zeit zum Aufatmen und tauchte ein zweites Mal unter; denn als erste Vorsichtsmaßregel galt es, Späherblicken zu entgehen.

Als er zum zweiten Male emportauchte, war er bereits fünfzig Schritt weiter hinausgeschwommen.


Er blickte zum Himmel auf; der war schwarz, und jagende Wolkenfetzen deuteten auf Sturm. Vor ihm breitete sich die heulende Wasserfläche aus. Doch schwärzer als der Himmel, schwärzer als das Meer ragte der Granitfelsen des Schlosses If wie ein drohendes Gespenst.

Auf einem Vorsprung des Felsgesteins sah er eine Stocklaterne. Zwei Schatten gingen hin und her und schienen sich nach dem Meer hinunterzubeugen. Hatten die seitsamen Totengräber seinen Schrei gehört?

Schleunigst tauchte Dantes von neuem unter und schwamm eine gute Strecke weiter fort. Wie hatte man ihn früher bereits als kühnen Schwimmer bewundert! Fürwahr, nun galt's, die Kunst zu beweisen!

Mit Freuden bemerkte er, daß die Jahre der Gefangenschaft ihm nicht seine Kraft und Geschicklichkeit geraubt hatten, und die Angst verdoppelte beide. Er schwamm immer weiter und weiter.

»Wenn es mir gelänge, die Insel Tiboulen zu erreichen, ich wäre gerettet«, sagte er sich. Er schwamm bereits eine Stunde. Das schreckliche Schloß war kaum mehr zu sehen; doch auch von Land schien immer noch keine Spur. Aufs neue begann er mit den Wassern zu ringen.

Da war's ihm, als käme eine dunkle Wolke auf ihn zu. Gleichzeitig durchzuckte sein Knie ein heftiger Schmerz, und seine Hand fühlte Festes unter sich: er war an Land.

Die drohende Wolke aber erkannte er als die Felsen der Insel Tiboulen.

Dantes taumelte einige Schritte vorwärts, dann lagerte er sich auf dem Gestein, das ihm in seiner Ermattung willkommener war als je der weichste Pfühl; bald verfiel er in festen Schlaf.

Nach einer Stunde wurde er von Donnerschlägen aufgeweckt. Der Sturm peitschte die Erde, und Blitze zuckten gleich Feuerschlangen über das dunkle Firmament.

Im Schein des Blitzes sah Dantes ein Fischerfahrzeug auf den Wellen tanzen. Verzweiflungsvolles Schreien drang bis zu seinem Ohr.

Ein zweiter Blitz, und Dantes sah, wie das Schiff im Sturmgebraus versank, als wäre es nie gewesen.

Das Unwetter hielt noch lange an, bis sich gegen Morgen der Sturm legte und rosige Wolken den Sonnenaufgang verkündeten.

Sonnenaufgang! Dantes Brust weitete sich. Dann irrten seine Blicke suchend über die Meeresfläche hin und entdeckten fern am Horizont ein kleines Fahrzeug mit geblähten Segeln. Er erkannte es als eine genuesische Tartane, die aus dem Hafen von Marseille kam.

Doch noch etwas anderes erregte Dantes Aufmerksamkeit: es war dies die phrygische Mütze eines der schiffbrüchigen Matrosen, die an einem Felsvorsprung hängengeblieben war und einige Balken des zerschellten Schiffes, die das Meer gegen den Fuß der Insel trieb. Augenblicklich war Dantes Entschluß gefaßt; wieder sprang er ins Meer, schwamm auf die Mütze zu, setzte sie auf, griff nach einem der Balken und richtete sich ein, die Linie zu schneiden, die das Fahrzeug nehmen mußte.

»Jetzt bin ich gerettet«, stammelte er.

Diese Überzeugung lieh ihm wieder Kraft. Er schwamm mit keuchenden Lungen und kam dem Schiff auch näher. Er richtete sich aus den Fluten empor, schwang seine Mütze und stieß einen Hilferuf aus.

Man sah und hörte ihn. Die Tartane ließ eine Schaluppe ins Meer, und zwei Matrosen ruderten ihm flott entgegen. Der Rettung so nah, verließen den Ärmsten nun doch die Kräfte, und er sank. Ein heftiger Stoß brachte ihn wieder hoch. Da fühlte er sich bei den Haaren gepackt, dann sah und hörte er nichts mehr; ihm schwanden die Sinne.

Als er die Augen wieder aufschlug, befand er sich auf dem Vordeck der Tartane, die ihren Weg fortsetzte. Sein erster Blick galt der Richtung, die das Fahrzeug nahm: Gott sei Dank, mehr und mehr verblaßte Schloß If in der Ferne.

Einer der Matrosen rieb ihn mit einer wollenen Decke, ein anderer hielt ihm eine Flasche mit Rum an die Lippen. Das tat wohl, und Dantes richtete sich auf.

»Wer seid Ihr?« fragte der Patron des Schiffes in schlechtem Französisch.

»Ich bin«, antwortete Dantes in schlechtem Italienisch, »ein Maltesermatrose, wir kamen von Syrakus und hatten Wein an Bord. Beim Kap Morgion erwischte uns der Sturm der heutigen Nacht und wir wurden an jene Klippen geschleudert.«

»Offen gestanden,« sagte der Patron, »war es mir nicht ganz geheuer, Euch aufzunehmen. Mit Eurem sechs Zoll langen Bart und dem wilden Haar gleicht Ihr eher einem Räuber denn einem redlichen Menschen.«

»Ja,« sagte Dantes, »in einer Stunde schwerer Gefahr hab' ich einst das Gelübde getan, mir zehn Jahre weder den Bart noch das Haar zu schneiden. Heut sind die zehn Jahre um, und bald wäre ich ertrunken.«

»Kennt Ihr das Mittelmeer?«

»Ich befahre es seit meiner Kindheit.«

»Wißt Ihr Bescheid mit den Landungsplätzen?«

»Es gibt wenig Häfen, die ich nicht kenne.«

»Hoho,« lächelte der Patron, »wollen sehen.«

»Wohin segeln Sie?« fragte Dantes interessiert.

»Nach Livorno.«

»Warum kreisen Sie denn nicht einfach den Wind so nahe als möglich ab, statt auf Wegen herumzukreuzen und Zeit zu verlieren?«

»Weil wir dann gerade auf die Insel Rion lossteuerten.«

»Ihr kommt auf eine Entfernung von zwanzig Faden vorbei.«

»Nun denn, mein Freund, beweist Eure Kunst: 'ran ans Steuer!«

Freudig machte sich Dantes ans Werk. Die Matrosen befolgten jeden Wink, und das kleine Fahrzeug begann, langsam der Insel Rion zuzusteuern, an der es, wie Dantes verheißen, auf zwanzig Faden steuerbordab vorüberfuhr.

»Bravo!« rief der Patron.

»Bravo!« wiederholten die Matrosen.

Und staunend betrachteten alle den Mann, dessen Blick eine Verständigkeit und dessen Körper eine Kraftfülle verriet, die man an ihm nicht vermutete.

»Sie sehen,« sprach Dantes, die Stange verlassend, »daß ich Ihnen nützen kann; wenn Sie mich in Livorno nicht mehr brauchen, so können Sie mich dort zurücklassen. Von meinem ersten Sold zahle ich Ihnen gern zurück, was die Bekleidung kostet, die Sie mir geliehen.«

»Schon gut! Schon gut!« sprach der Patron. »Wenn Ihr nicht zu unbescheiden seid, werden wir schon einig werden.«

»Was einem recht ist, ist dem andern billig,« meinte Dantes, »was Sie den Kameraden geben, geben Sie auch mir.«

»Das wäre nicht ganz in der Ordnung,« sprach der Matrose, der Dantes aus dem Meer gezogen hatte, »denn er versteht mehr als wir.«

»Was Teufel geht das dich an, Jacopo?« schalt der Patron.

»Jedem steht es frei, zu fordern, was ihn gut dünkt.«

»Richtig,« sprach Jacopo, »es war nur eine einfache Bemerkung, die ich machte.«

»Nun denn, du tätest besser, dem braven Burschen etwas zu essen zu bringen; sicher wird er Hunger haben.«

Jacopo lief und brachte, was er vorfand, dazu wieder die Flasche mit Rum.

»Das Steuer in Backbord«, rief der Kapitän, sich zum Steuermann wendend.

Dantes tat einen Blick nach derselben Seite hin.

»Schau,« fragte der Patron, »was gibt's auf Schloß If?«

Ein weißes Wölkchen, das die Aufmerksamkeit Dantes schon auf sich gezogen, war über den Zinnen der südlichen Bastei von Schloß If sichtbar. Eine Sekunde darauf vernahm man das Krachen eines abgefeuerten Geschützes. Die Matrosen stutzten und schauten einander an.

»Was soll das bedeuten?« fragte der Patron.

»Sicher ist ein Gefangener heute nacht entsprungen, und man feuert die Lärmkanone ab.«

Der Patron warf einen Blick auf den jungen Mann, der bei diesen Worten die Flasche an den Mund setzte; er sah ihn aber die darin befindliche Flüssigkeit mit solcher Ruhe und Zufriedenheit schlürfen, daß sein Mißtrauen schwand.

»Ein teuflisch starker Rum«, sprach Dantes, sich mit dem Hemdärmel den Mund abwischend.

»Und wenn er's wäre,« dachte der Patron, »nun gut, so hab' ich mir jedenfalls einen tüchtigen Kerl angeworben.«

Dantes bat, sich ans Steuer setzen zu dürfen. Man überließ ihm gern diesen Platz. So saß er und schaute unverwandt auf Marseille.

»Den wievielten haben wir heute?« fragte er den Jacopo.

»Den 28. Februar 1829.«

Es waren also vierzehn Jahre her, daß Dantes verhaftet worden. Mit neunzehn Jahren war er ins Schloß If eingezogen, mit dreiunddreißig Jahren verließ er es. Ein schmerzliches Lächeln zuckte über seine Lippen; er fragte sich, was aus Mercedes während der Zeit, da sie ihn für tot hielt, geworden sein mochte. Und von neuem flammte unversöhnlicher Haß in ihm auf gegen jene Ruchlosen, die ihn ins Verderben getrieben. Jetzt war sein Racheschwur keine eitle Drohung mehr, denn nun hätte der gewandteste Segler des Mittelmeeres nicht mehr jene kleine Tartane erreicht, die mit geschwellten Segeln nach Livorno steuerte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo