Die beiden Schicksalsgefährten kamen nun Tag für Tag zusammen; einmal kam der Abbé zu Edmond,

Die beiden Schicksalsgefährten kamen nun Tag für Tag zusammen; einmal kam der Abbé zu Edmond, dann ging dieser zu dem Alten. Mit jedem Tag aber lernte Dantes mehr und mehr erkennen, welch ein reiches Wissen dieser Mann besaß. Infolge seiner umfangreichen Kenntnisse und Fähigkeiten hatte er es verstanden, sich fast aus einem Nichts Geräte und Dinge herzustellen, die ihm die Möglichkeit anregender Beschäftigung boten. So hatte er sich nicht nur Kerzen, sondern auch Federn und Tinte, sogar aus altem Linnen eine Art Papier hergestellt, um ein großes Werk niederzuschreiben.

»Ach,« rief Dantes bewundernd aus, »ich seh's: Wissen ist Macht -- Wissen ist Licht, das selbst die Kerkernacht zu erhellen vermag. Wie arm und unbedeutend dagegen ist mein Leben.«


»Es muß jedoch für andere eine Bedeutung gehabt haben, sonst wären Sie heute wohl nicht hier.«

Der Alte begann darauf, Edmond nach allen Einzelheiten seines Unglücks zu befragen. Er forschte genau wie Villefort: »Hatten Sie Feinde, hatten Sie Neider?«

»Ich war noch zu wenig, um dies annehmen zu können.«

»Sprechen Sie nicht so, mein Lieber, denn das klingt töricht. Und merken Sie eins: Willst du den Schuldigen entdecken, so forsche nach jenem, dem das begangene Verbrechen nützlich war. Hatte jemand Vorteil davon, wenn Sie nicht Kapitän des ›Pharaon‹ wurden?«

»Nein. Ich war an Bord sehr beliebt. Hätten die Matrosen einen Chef wählen sollen, so hätten Sie mich gewählt. Ein einziger Mensch hatte Grund, mir zu grollen; ich hatte Streit mit ihm.«

»Nun also!... Wie hieß dieser Mensch?«

»Danglars.«

»Was war er an Bord?«

»Rechnungsführer.«

»Hätten Sie ihm seinen Posten gelassen?«

»Wenn es auf mich angekommen wäre, nicht; denn ich hatte ihn bei Veruntreuungen ertappt.«

»Wohl. Jetzt sagen Sie mir, war jemand bei Ihrer letzten Unterredung mit dem Kapitän Leclerc zugegen?«

»Nein, wir waren allein.«

»Konnte jemand euer Gespräch hören?«

»Ja, denn die Tür stand offen, und... warten Sie... Danglars ging im Augenblick vorüber, wo mir Kapitän Leclerc das für den Großmarschall bestimmte Paket übergab.«

»Gut,« sprach der Abbé, »wir sind nun auf der Spur. Stieg jemand mit Ihnen ans Land, als Sie bei der Insel Elba anhielten?«

»Niemand.«

»Man übergab Ihnen einen Brief?«

»Ja, der Großmarschall.«

»Was haben Sie mit diesem Brief getan?«

»Ich hielt ihn in der Hand.«

»Es konnte ihn also jeder sehen -- auch Danglars. Jetzt passen Sie auf: Wiederholen Sie mir noch einmal wörtlich den anonymen Brief.«

Dantes sammelte sich einen Augenblick, dann sprach er: »Der Herr Prokurator des Königs wird von einem Freunde des Thrones und der Religion in Kenntnis gesetzt, daß ein gewisser Edmond Dantes, Kapitän auf dem Schiff ›Pharaon‹, das diesen Morgen, nachdem es in Neapel und Porto-Ferrajo gelandet, von Smyrna zurückkam, von Murat mit einem Paket an den Usurpator beauftragt worden sei, und vom Usurpator mit einem Brief für das bonapartistische Komitee in Paris.

Durch seine Verhaftung wird man sich des Belegs seines Verbrechens bemächtigen und den Brief bei ihm, bei seinem Vater oder in seiner Kajüte an Bord des ›Pharaon‹ finden.«

Der Abbé zuckte die Achseln.

»Alles ist klar wie der Tag,« sprach er, »und Sie müssen wahrlich ein ganz unverdorbenes, gutes Herz besitzen, daß Sie die ganze Sache nicht gleich durchschaut haben. Wie war Danglars' gewöhnliche Handschrift?«

»Sehr schwungvoll.«

»Und die Denunziation?«

»Sichtbar verstellt.«

»Also mit der linken Hand geschrieben. Doch nun zur anderen Frage: Hatte jemand Interesse daran, daß Sie Ihre Mercedes nicht heirateten?«

»Ja, ein junger Katalaner, namens Fernando.«

»Glauben Sie, daß dieser imstande war, den Brief zu schreiben?«

»Nein, der hätte mir einen Messerstich versetzt; ferner sind ihm die angegebenen Einzelheiten nicht bekannt gewesen.«

»Sie haben auch sonst niemand davon gesagt?«

»Niemand.«

»Nicht einmal Ihrer Braut?«

»Auch der nicht.«

»Dann war's kein anderer als Danglars. Warten Sie... kannte Danglars Fernando?«

»Nein... ja... ich erinnere mich... am Tage vor meiner Verlobung sah ich sie in der Laube Vater Pamphiles beisammensitzen. Danglars sah freundlich und munter, Fernando bleich und verstört aus.«

»Sie waren allein?«

»Nein, es war ein Dritter bei ihnen, ein Bekannter von mir, ein Schneider namens Caderousse; aber der war schon betrunken. Warten Sie ... ha! Warten Sie! Wie konnte ich mich nicht daran erinnern! Auf dem Tische, wo sie tranken, befanden sich Tinte, Papier und Federn.«

Dantes legte die Hand auf seine Stirn. »Oh, die Schändlichen, die Niederträchtigen!«

»Das also hätten wir ergründet! Nun aber weiter«, sprach der Abbé. »Wer hat Sie verhört? War's der Königliche Prokurator, sein Substitut oder der öffentliche Richter?«

»Es war sein Substitut.«

»Wie hat er sich gegen Sie benommen?«

»Eher milde als streng.«

»Haben Sie ihm alles erzählt?«

»Alles.«

»Und ward sein Benehmen im Laufe des Verhörs ein anderes?«

»Einen Augenblick schien er ergriffen, als er nämlich den Brief gelesen, der mich verdächtig machte. Er schien fast trostlos über mein Unglück.«

»War es wirklich Ihr Unglück, was ihm so zu Herzen ging?«

»Er gab mir einen sichtbaren Beweis seiner freundlichen Gesinnung.«

»Wodurch?«

»Er verbrannte die einzige Urkunde, die mich bloßstellen konnte.«

»Was war das für eine Urkunde? Etwa die Anklage?«

»Nein, der Brief. Er verbrannte ihn vor meinen Augen, indem er sagte: ›Es gibt nur diesen einen Beweis gegen Sie: sehen Sie: ich vertilge ihn‹«

»Dieser Mensch scheint mir ein größerer Bösewicht zu sein, als ich anfänglich vermutete. An wen war dieser Brief adressiert?«

»An Herrn Noirtier. Rue Coq-Héron Nr. 13 zu Paris.«

»Läßt es sich vermuten, daß Ihr Substitut irgendeinen Vorteil davon hatte, wenn dieser Brief verschwand?«

»Vielleicht, denn ich mußte ihm zwei- oder dreimal versprechen, niemandem etwas von diesem Briefe zu sagen, er ließ mich sogar schwören, nie den Namen zu nennen, der auf dem Briefe stand.«

»Noirtier,« sprach der Abbe, »Noirtier -- ich habe einen Noirtier gekannt, einen Noirtier, der während der Revolution Girondist war. Wie hieß Ihr Substitut?«

»De Villefort.«

Der Abbé brach in Lachen aus. Dantes betrachtete ihn erstaunt.

»Was haben Sie?« fragte er.

Der Abbé sah ihn mit funkelnden Augen an: »Ach, Sie armer, unerfahrener junger Mensch! Und dieser Beamte meinte es gut mit Ihnen? Er hat den Brief verbrannt, vernichtet? Er ließ Sie schwören, nie den Namen Noirtier über Ihre Lippen kommen zu lassen?«

»Ja.«

»Wissen Sie, wer dieser Herr Noirtier war? Sein Vater!«

Hätte der Blitz zu Dantes' Füßen eingeschlagen und einen Schlund vor ihm aufgerissen, aus dessen innerster Tiefe heraus die Hölle gähnte, es hätte minder niederschmetternd auf ihn gewirkt als diese unerwarteten Worte. Mit beiden Händen sich den Kopf haltend, sprang er auf und rief:

»Sein Vater! Sein Vater!«

»Ja, sein Vater, der sich Noirtier von Villefort nennt«, versetzte der Abbé.

Da durchfuhr des Gefangenen Sinn ein blitzendes Licht; alles, was ihm bis jetzt dunkel gewesen, sah er aufgeklärt. Jene Ausflüchte Villeforts während des Verhörs, jener unterschlagene, vernichtete Brief, der verlangte Schwur, die bittende Stimme des Beamten, die eher zu flehen als zu drohen schien. Alles stand ihm wieder vor Augen. Er tat einen Schrei, schwankte wie ein Trunkener und rief: »Oh, ich muß allein sein, um dieses alles zu überdenken.« Und in seinem Kerker angelangt, warf er sich auf sein Lager, wo ihn der Gefangenwärter am Abend mit starren Blicken, verzerrten Mienen, stumm und unbeweglich wie eine Statue sitzen fand. Während jener Stunden gedankenvollen Hinbrütens war in ihm ein entsetzlicher Entschluß wach geworden; er schwur einen furchtbaren Eid.

Der alte Abbé sah bekümmert die Veränderung, die mit seinem jungen Gefährten vor sich gegangen war. Um ihn ein wenig zu zerstreuen, schlug er ihm vor, ihn in mancherlei Dingen unterrichten zu wollen.

»Das würde mich sehr glücklich machen«, sprach Dantes.

So setzten die beiden Gefangenen an diesem Abend noch einen Erziehungsplan fest, der vom nächsten Tage an ins Werk gesetzt wurde. Dantes besaß ein wunderbares Gedächtnis und eine außergewöhnlich leichte Fassungskraft; seine Begabung für Mathematik machte ihn fähig, alles durch Berechnung zu verstehen, während wieder das phantastische Gemüt des Seemanns alles ausglich, was die trockene Beweisführung durch Ziffern oder die Genauigkeit der Linien zu Materielles an sich haben mochte. Übrigens konnte er Italienisch und etwas Neugriechisch, das er auf seinen Reisen in den Orient erlernt hatte. Mittels dieser zwei Sprachen begriff er bald den Zusammenhang aller andern, und nach sechs Monaten begann er, Spanisch, Englisch und Deutsch zu sprechen. War es die durch das Studium herbeigeführte Zerstreuung, die ihm die Freiheit ersetzte, oder lieh er, wie wir es schon sahen, den Worten des Abbés ein nichts überhörendes Ohr: er sprach, wie er es zum Abbé gesagt, von keiner Flucht mehr, und rasch und belehrend flossen für ihn die Tage hin. Nach einem Jahre war er ein anderer Mensch.

Eines Tages, als Dantes wieder zu seinem Lehrer ging, fand er diesen mit einer Papierrolle in der Hand auf seinem Bette sitzend. Lächelnd zeigte er Dantes die Rolle: »Sehen Sie sich dies einmal gründlich an.«

»Meine Augen sind noch gut,« sprach Dantes, »doch sehe ich nichts als ein halbverbranntes Papier, worauf gotische Buchstaben stehen, die mit einer ganz besonderen Tinte geschrieben sind.«

»Dieses Papier, Freund,« sprach Faria, »ist mein Schatz, dessen Hälfte von heute an Ihnen gehört.«

»Ihr Schatz ...?« stotterte Dantes.

»Sie brauchen nicht zu erschrecken, Edmond; ich bin nicht wahnsinnig. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir und lassen Sie sich alles erzählen. Sie wissen, daß ich der Sekretär und Vertraute Freund des Grafen Spada, des letzten der Fürsten dieses Namens, war. Diesem Herrn danke ich alles Glück, das mir im Leben zuteil wurde. Er war nicht reich, obgleich der Reichtum seiner Familie fast sprichwörtlich war, und ich oft sagen hörte: ›Reich wie ein Spada.‹ Ich unterrichtete seine Neffen, die gestorben sind, und als er allein in der Welt stand, vergalt ich ihm durch unbedingte Hingebung alles, was er seit zehn Jahren für mich getan hatte.

Im Hause des Grafen gab es bald kein Geheimnis mehr für mich. Oftmals sah ich den Grafen in alten Familienpapieren herumstöbern; darauf befragt, schlug er mir ein Buch auf und ließ mich folgendes lesen:

›Die langen Kriege der Romagna waren zu Ende; Cäsare Borgia brauchte nach beendigter Eroberung Geld, um ganz Italien zu gewinnen; auch der römische Schatz brauchte Mittel, um mit Ludwig VII., König von Frankreich, trotz seiner Niederlagen noch immer furchtbar, fertig zu werden. Es mußte also eine gute Spekulation gemacht werden, was in diesem armen, erschöpften Italien schwerhielt.

Man beschloß, zwei Fürstenhüte zu verleihen.

Durch die Wahl von zwei angesehenen, insbesondere aber reichen Männern Roms gelänge die Spekulation folgendermaßen: Zuerst müßten die beiden großen Chargen und herrlichen Ämter verliehen werden, in deren Besitz die beiden künftigen Würdenträger waren, und man könnte bei der Verleihung dieser zwei Stellen auf einen sehr glänzenden Preis rechnen.

Ferner handelte es sich um einen dritten Teil der Spekulation, der bald klar wird. Zuvörderst fanden sich die beiden Kandidaten, nämlich Johann Rospigliosi, der allein vier hohe Würden am Hofe bekleidete, dann Cäsare Spada, einer der adligsten und reichsten Römer. Beide sahen den Wert einer solchen Gunst ein. Sie waren ehrgeizig. Als nun diese gefunden waren, fand Cäsare auch Werber um ihre Stellen. Hieraus ergab sich, daß Rospigliosi und Spada Gelder vorschossen und daß acht andere Gleiches taten, um zu werden, was jene beiden früher waren.

Man überhäufte Rospigliosi und Spada mit Schmeicheleien und übertrug ihnen die Insignien ihrer Chargen, wofür sie, um sich nicht ihrer fingierten, sondern wirklichen Schuld zu entledigen, ihr Vermögen zusammenziehen und zu Geld machen mußten, um sich in Rom niederzulassen, wo sie Borgia zur Mahlzeit einlud.

Man deckte den Tisch in einem Weingarten bei San Pietro in Vincoli, einem herrlichen Wohnorte, der den beiden wohlbekannt war. Rospigliosi, ganz trunken von seiner neuen Würde, zeigte die freundlichste Miene, Spada aber, der ein kluger Mann war und seinen Neffen sehr liebte, nahm Papier und Feder und machte sein Testament. hierauf ließ er diesem Neffen sagen, er möchte ihn in der Nähe des Weingartens erwarten; aber es scheint, der Diener habe ihn nicht gefunden.

Gegen zwei Uhr begab sich Spada in den Weingarten; er wurde schon erwartet. Das erste, was Spada in die Augen fiel, war sein Neffe, anmutsvoll im Festgewande, den Cäsare Borgia mit Artigkeitsbezeigungen überhäufte. Spada erblaßte. Er konnte seinen Neffen bloß fragen: ›Hast du meine Botschaft erhalten?‹ Der Neffe antwortete: ›Nein‹, und verstand die Bedeutung dieser Frage wohl. Es war schon zu spät, denn soeben hatte er ein Glas herrlichen Weines getrunken. Zugleich sah Spada, wie man eine zweite Flasche auftrug, aus der man ihm gastfreundlich einschenkte. Eine Stunde danach erklärte ein Arzt, sie seien beide vergiftet. Spada starb an der Tür des Weingartens, der Neffe verröchelte an seiner Schwelle.

Alsbald beeilte sich Cäsare, die Erbschaft, unter dem Vorwand, die Papiere des Verstorbenen zu durchsuchen, an sich zu reißen. Das Erbteil bestand aber in einem Stück Papier, worauf Spada geschrieben hatte: ›Ich vermache meine Koffer, meine Bücher, worunter ein Gebetbuch mit goldbeschlagenen Ecken, meinem vielgeliebten Neffen mit dem Wunsche, er möge das Andenken seines ihn liebenden Onkels bewahren.‹ Die Erben suchten überall, bewunderten das Gebetbuch, erbrachen die Möbel und staunten darüber, daß Spada, der reiche Spada, offenbar der armseligste Onkel sei; von Schätzen war keine Spur, außer Schätzen von Wissenschaften in der Bibliothek und den Laboratorien. Cäsare und sein Vater suchten, wühlten, spähten überall herum: man fand nichts oder nur sehr wenig; aber der Neffe hatte noch Zeit gehabt, seiner Frau, als er nach Hause kam, zu sagen: ›Suche in den Papieren meines Onkels nach, du wirst ein wirkliches Testament finden.‹ Doch alles Suchen war vergeblich. Zwei Paläste und der Weingarten blieben der Familie, gleichsam unwürdig der Habgier der Borgia. Monate und Jahre vergingen, Alexander VI. starb, und Cäsare, gezwungen, Rom zu verlassen, kam in einem nächtlichen Scharmützel um.

Nach dem Tode der Borgia erwartete man allgemein, die Familie werde wieder auf so fürstlichem Fuße leben wie zu Spadas Zeit, aber es war dem nicht so: die Spada verharrten in zweifelhafter Wohlhabenheit, ewiges Geheimnis lastete über dieser dunklen Geschichte, und es ging öffentlich das Gerücht, Cäsare habe, als besserer Politiker, das Vermögen der beiden an sich gebracht; ich sage das Vermögen der beiden, weil Rospigliosi, der nicht die geringste Vorsichtsmaßregel getroffen hatte, ganz und gar ausgeplündert wurde.‹

Bis jetzt scheint Ihnen dies doch nicht allzu ungereimt, nicht wahr?« unterbrach sich Faria lächelnd.

»Oh, mein Freund,« sprach Dantes, »im Gegenteil, mir ist, als läse ich eine Chronik voll interessanter Dinge.«

»Ich fahre also fort. Die Familie gewöhnte sich an diese unansehnliche Lebensweise, die Jahre enteilten. Die einen der Nachkommen wurden Soldaten, die andern Staatsmänner und so weiter. Ich komme nun auf den letzten Sproß der Familie, auf den Grafen Spada zu sprechen. Oft, sehr oft, hörte ich ihn das Mißverhältnis seines Vermögens zu seinem Range beklagen; ich gab ihm den Rat, das wenige an Hab und Gut auf lebenslängliche Renten anzulegen; er folgte dem Rat und verdoppelte auf diese Weise seine Einkünfte. Das berühmte Gebetbuch war in der Familie geblieben, denn die bizarre Klausel des Testamentes machte daraus eine wahrhaft mit abergläubischer Verehrung bewahrte Reliquie. Es war ein mit den schönsten gotischen Figuren geziertes Buch und so schwer in Gold, daß an großen Festtagen es immer ein Diener vor dem Besitzer hertragen mußte.

Als ich diese mannigfachen Papiere, Urkunden, Kontrakte, Pergamente sah, die man in den Archiven der Familie aufbewahrte und die alle noch von dem Vergifteten herrührten, begann auch ich, wie zwanzig Diener, Intendanten, Sekretäre, die mir vorgegangen waren, diese mächtigen Päcke zu durchsuchen. Ungeachtet der Tätigkeit und Gewissenhaftigkeit meiner Nachforschungen fand ich aber nicht das geringste. Ich war aber gewiß, daß die Erbschaft weder zugunsten der Borgia noch der Familie ausgefallen, sondern ohne Besitzer geblieben sei.

Mein Gebieter starb. Von seiner lebenslänglichen Rente hatte er seine Familienpapiere sowie seine aus fünftausend Bänden bestehende Bibliothek und sein berühmtes Gebetbuch ausgeschlossen. Dies alles vermachte er mir mit tausend Talern unter der Bedingung, jährlich Messen lesen zu lassen und eine Geschichte seiner Familie zu verfassen, was ich aufs genaueste vollzog ...

Beruhigen Sie sich, Edmond, wir sind schon bald zu Ende. Im Jahre 1807, einen Monat vor meiner Verhaftung, vierzehn Tage nach dem Tode des Grafen Spada, las ich diese Papiere, die ich ordnete, zum tausendsten Male und schlief darüber ein. Als es sechs Uhr schlug, erwachte ich. Ich erhob den Kopf und war in tiefster Finsternis. Ich läutete, man solle mir Licht bringen. Niemand kam. Ich beschloß hierauf, mir selbst zu helfen. Mit der einen Hand nahm ich die aufgesteckte Kerze, und mit der andern suchte ich, da Zündhölzchen in der leeren Büchse fehlten, ein Papier, das ich an den letzten Funken auf dem Herde anzuzünden gedachte; aber in der Furcht, im Finstern statt eines unnützen Papieres ein wertvolles zu nehmen, zögerte ich noch, als ich mich erinnerte, in dem berühmten Gebetbuch, das auf dem Tische mir zur Seite lag, oben ein vergilbtes Papier gesehen zu haben. Tastend suchte ich jenes Blatt, fand es, bog es zusammen, und es an die verglimmende Flamme haltend, zündete ich es an. Unter meinen Fingern aber sah ich magisch in dem Maße, als das Feuer hinaufbrannte, gelbliche Buchstaben aus dem weißen Papier hervortreten und das Blatt bedecken. Da ergriff mich ein Bangen; ich zerdrückte das Papier mit den Händen, erstickte das Feuer, zündete die Kerze unmittelbar an der Herdflamme an, glättete dann das zerknitterte Blatt und erkannte, daß diese Buchstaben mit einer geheimnisvollen Tinte geschrieben, die erst durch Einwirkung der Hitze erkennbar wurde. Mehr als ein Drittel des Papiers war von den Flammen verzehrt. Das ist das Papier, das Sie heute früh gelesen haben. Lesen Sie es wieder, Dantes, dann will ich Ihnen, wenn Sie es zu wiederholtem Male gelesen haben, die abgebrochenen Sätze und den unvollständigen Sinn ergänzen.«

Und frohlockend hielt Faria Dantes das Papier hin, auf dem dieser gierig folgende, mit einer rötlichen, rostähnlichen Tinte geschriebenen Worte las:

An dem heutigen Tage, dem 25. April 1498 von Bor
zufrieden, mich die Stelle bezahlen zu lassen,
auch noch von mir erben möchte und mir
der Grafen Caprara und Bentivoglio
erkläre ich meinem Neffen, Guido Spada,
meinem Universalerben, daß ich an ei
ten der kleinen Insel Monte Christo
alles, was ich besit
Golde, Steinen, Diamanten, Schmuck
ben habe, daß ich allein von dem Vorhandensein
dieses Schatzes weiß, der sich ungefähr auf 2 Million
Taler beläuft, und den er, wenn er den 20.
östlich von der kleinen Bucht in gerader Linie
wegschiebt finden wi
welch obbenannten Schatz ich ihm vermache,
und ihm als meinen einzigen Erb

25. April 1498.

Ces

»Jetzt«, rief der Abbe, »lesen Sie dies Papier ...«

Bei diesen Worten hielt er Dantes ein zweites beschriebenes Blatt hin. Dieser las:

»An dem heutigen Tage, dem 25. April 1493, von Borgia zu Tische geladen und fürchtend, daß er, nicht zufrieden, mich die Stelle bezahlen zu lassen, auch noch von mir erben möchte und mir das Schicksal der Fürsten Caprara und Bentivoglio, welche vergiftet starben, aufbewahre, erkläre ich meinem Neffen Guido Spada, meinem Universalerben, daß ich an einer Stelle, die ihm, da er sie mit mir besucht hat, bekannt ist, und zwar in den Grotten der kleinen Insel Monte Christo, alles, was ich besitze, an Goldstangen, geprägtem Golde, Steinen, Diamanten, Schmuck, vergraben habe; daß ich allein von dem Vorhandensein dieses Schatzes weiß, der sich ungefähr auf 2 Millionen römische Taler beläuft, und den er, wenn er den 20. Felsen östlich von der kleinen Bucht in gerader Linie wegschiebt, finden wird. Zwei Öffnungen wurden in dieser Grotte angebracht, in der von der zweiten entferntesten Ecke liegt der Schatz, welch obbenannten Schatz ich ihm vermache und ihm, als meinem einzigen Erben, zu vollem Besitztum einräume.

25. April 1498.

Cesare Spada.«

»Nun -- verstehen Sie endlich?« sprach Faria.

»Dies war die Erklärung des Herrn Spada und das so lange gesuchte Testament?« sprach Edmond, noch immer ungläubig.

»Ja, tausendmal ja!«

»Wer hat es wieder so zusammengesetzt?«

»Ich, der ich mit Hilfe des gebliebenen Fragments den Rest erriet.«

»Und was haben Sie alsdann getan?«

»Ich reiste augenblicklich ab, indem ich den Anfang meines politischen Werkes mitnahm; aber seit langem schon hatte die Polizei ihre Blicke auf mich gerichtet; meine eilige Abreise, deren Ursache zu erraten nicht in ihrem Bereich lag, erweckte ihren Verdacht, und in dem Augenblick, als ich mich in Piombino einschiffte, wurde ich verhaftet. Jetzt aber«, rief der Greis voll herzlicher Wärme, »wissen Sie soviel hierüber wie ich; wenn wir uns jemals miteinander retten, so gehört die Hälfte meines Schatzes Ihnen, wenn ich aber hier sterbe und Sie sich bloß allein retten, so gehört er Ihnen ganz.«

»Hat denn dieser Schatz auf der Welt keinen rechtmäßigen Erben als uns?« fragte Dantes.

»Nein, nein, beruhigen Sie sich! Die Familie ist gänzlich ausgestorben; der letzte Graf Spada hat mich zum Erben eingesetzt. Wenn wir je dieses Vermögen besitzen, so können wir es ohne Gewissensangst genießen.«

»Mein Freund,« sprach Dantes, »dieser Schatz gehört Ihnen allein, ich habe darauf kein Recht; ich bin nicht Ihr Verwandter.«

»Sie sind mein Sohn, Dantes!« rief der Greis und breitete seine Arme aus. Da sank der junge Mann ihm weinend an die Brust.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo