Der Graf von Monte Christo ließ sich bei Frau von Villefort melden, um dem königlichen Prokurator den Besuch

Der Graf von Monte Christo ließ sich bei Frau von Villefort melden, um dem königlichen Prokurator den Besuch zu erwidern, was das ganze Haus in Bewegung setzte.

Frau von Villefort, die sich allein im Salon befand, ließ sogleich ihren Sohn kommen, damit das Kind seine Danksagung ausspräche.


Nach den ersten üblichen Redensarten erkundigte sich der Graf nach Herrn von Villefort.

»Mein Mann speist heute beim Kanzler,« erwiderte die junge Frau, »er ist eben erst fortgefahren, und er wird es sicher sehr bedauern, Sie nicht begrüßt zu haben. Doch darf ich Ihnen hier meine Stieftochter vorstellen?« Damit wies sie auf ein junges, schlankes Mädchen mit hübschen, blauen Augen, das soeben eintrat.

»Wie Figura zeigt: schön und melancholisch«, bemerkte hierzu der zwölfjährige Eduard, indem er sich bemühte, einem kreischenden Papagei die Schwanzfedern auszurupfen.

Valentine betrachtete die Ungezogenheit des jungen Stiefbruders nicht, sie kam artig näher und ohne mädchenhafte Ziererei mit einer Anmut, die die Aufmerksamkeit des Grafen erhöhte.

Doch sogleich ließ sich der naseweise Junge von neuem vernehmen, indem er auf den Grafen mit dem Finger zeigte: »Und hier, teure Schwester, der Herr Graf von Monte Christo, König von China, Kaiser von Kotschinchina.«

Madame Villefort erblaßte, doch der Graf lächelte und schien das Kind mit Wohlgefallen zu betrachten, was seine Mutter mit wahrer Begeisterung erfüllte.

»Verzeihung, Madame,« sagte der Graf, bald Frau von Villefort, bald Valentine anblickend, »hatte ich nicht schon einmal die Ehre, Sie und das gnädige Fräulein irgendwo kennenzulernen? Ich glaube mich nicht zu irren.«

»Mein Herr, es ist nicht wahrscheinlich; meine Stieftochter liebt die Gesellschaft wenig, und wir gehen selten aus«, sagte die junge Frau.

»In Gesellschaft kann es auch nicht gewesen sein... Halt! Ich hab's: es war in Perugia, am Fronleichnamsfeste, im Gasthausgarten der Post, wo uns der Zufall zusammenführte und ich die Ehre hatte, Sie, Madame, das Fräulein und Ihren Kleinen zu sehen.«

»Ja, wirklich,« erwiderte die junge Frau errötend, »ich erinnere mich; ich sprach mit einem Manne in einem langen Mantel, mit einem Arzte, glaube ich.«

»Richtig, Madame, und dieser Mann war ich. Seit vierzehn Tagen wohnte ich in jenem Gasthause und heilte meinen Kammerdiener vom Fieber und den Wirt von der Gelbsucht, weshalb man mich für einen großen Mediziner hielt. Wir sprachen lange von gleichgültigen Dingen, über Perugia, über Raffael, über Sitten und Gebräuche, und dann von jener berüchtigten Aqua-tofana, wovon Sie mir sagten, daß noch einige Personen in Perugia das Geheimnis bewahrten.«

»Ah, es ist wahr,« sagte Madame de Villefort mit einer gewissen Unruhe, »ich erinnere mich.«

»Ich erinnere mich nicht mehr an alle Einzelheiten,« fuhr der Graf mit Ruhe fort, »doch weiß ich genau, daß Sie im Irrtum über meine Person mich wegen Fräulein von Villefort um Rat fragten.«

»Sie erwiesen sich jedoch wirklich als Arzt, da Sie die Kranken heilten.« Dann wandte sich Frau von Villefort der Stieftochter zu: »Valentine, willst du nicht sehen, ob dein Großvater zu speisen wünscht?«

Valentine erhob sich, empfahl sich dem Grafen und ging aus dem Zimmer, ohne ein Wort zu sagen.

»O mein Gott, Madame, haben Sie etwa Fräulein von Villefort meinetwegen fortgeschickt?« fragte der Graf, als sich Valentine entfernt hatte.

»Ganz und gar nicht,« entgegnete die junge Frau lebhaft, »es ist die Stunde, wo Herr Noirtier seine Mahlzeit einnimmt. Sie wissen, Graf, in welch einem traurigen Zustande sich der Vater meines Gemahls befindet... oh, es ist traurig.«

»Ja, Herr von Villefort hat mit mir davon gesprochen; ich glaube, es ist eine Lähmung.«

»Ja. Der arme Greis ist keiner Bewegung fähig, der Geist allein wacht in dieser menschlichen Maschine, wie eine Lampe, die dem Verlöschen nahe ist. Doch, Vergebung, mein Herr, Sie sagten, daß Sie ein geschickter Chemiker seien.«

»Oh, das habe ich nicht gesagt,« erwiderte der Graf lächelnd, »im Gegenteil, ich studierte die Chemie, weil ich entschlossen war, im Orient zu reisen und das Beispiel des Mithridates nachzuahmen.«

» Mitridates, rex Ponticus,« rief der naseweise Knabe, während er Bilder aus einem herrlichen Album schnitt, »nahm mit Vergnügen täglich eine Schale Gift.«

»Eduard, du garstiges Kind!« rief Frau von Villefort, indem sie ihm das verstümmelte Buch aus den Händen riß. »Du bist unausstehlich! Mach', daß du hinauskommst!«

Sie führte den Jungen am Arm hinaus und schloß die Tür hinter ihm ab.

Der Graf tat, als ob er es nicht bemerkte.

Sodann blickte die junge Frau vorsichtig rings umher und begann von neuem: »Was Eduard da von dem König Mithridates sagte, ob das wohl auf Wahrheit beruhen mag? Glauben Sie, daß er es tat, um sich solcher Art durch Gegengift vor Vergiftungen zu schützen?«

»Ganz sicher tat er das aus diesem Grunde und mit vollem Recht; denn ich selber, wie ich hier vor Ihnen sitze, habe mich dreimal im Leben durch solche Vorsichtsmaßregel vor Vergiftung bewahrt.«

Frau von Villefort fragte noch dies und das, und Monte Christo konnte nur staunen, welch ein reiches Wissen die junge Frau gerade auf diesem Gebiete besaß. Mit einer wahren Andacht hörte sie zu, wenn der Graf ihr Neues über diesen Gegenstand zu berichten wußte. So erzählte er ihr unter anderem, daß er ein Heilmittel besäße, das, in kleiner Dosis genommen, Wunder bewirkte, in großer Dosis dagegen den Tod brächte. Dieses Mittel sei um so unheimlicher, als es, in Wein genommen, nicht im geringsten dessen Geschmack verändere.

Frau von Villefort sah Monte Christo mit glänzenden Augen an.

»Und doch muß es als Glück betrachtet werden, solch ein vollendetes Heilmittel zu besitzen.«

»Zu diesem Glück, Madame, könnte ich Ihnen leicht verhelfen, falls Ihnen daran etwas liegt.«

»Oh -- das wäre sehr liebenswürdig von Ihnen, Graf. Wieviel Gutes könnte man damit stiften...«

»Ganz sicher, gnädigste Frau; doch Vorsicht!«

Damit empfahl sich der Graf. Am andern Morgen erhielt Frau von Villefort das gewünschte Rezept.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo