Es hatte abends sieben Uhr geschlagen, als vor dem Palaste des Grafen ein Fiaker hielt, dem ein älterer,

Es hatte abends sieben Uhr geschlagen, als vor dem Palaste des Grafen ein Fiaker hielt, dem ein älterer, etwas seltsam gekleideter Mann entstieg. Kaum hatte man ihn bei Monte Christo gemeldet, als dieser befahl, den Fremden in einen sehr einfachen Saal zu führen. Dort kam ihm der Graf lächelnd entgegen: »Willkommen,« sagte er, »mein lieber Marquis Cavalcanti!«

»Ja -- richtig, ganz richtig: Bartolomeo Cavalcanti?« lachte der Fremde.


»Also -- Sie waren Major in österreichischen Diensten -- nicht wahr?«

»Sehr wohl, mein Herr, sehr wohl.«

»Übrigens kommen Sie nicht aus eigenem Antriebe zu mir, es hat Sie jemand an mich gewiesen?«

»Ja, der Abbé Busoni. Hier ist ein Brief von ihm.«

Monte Christo nahm und las ihn. Der Major sah den Grafen, wie alles rings umher, mit erstaunten Blicken an. »Es ist gut... der Abbé schreibt mir: ›Der Major Cavalcanti, ein würdiger Patrizier aus Lucca, stammt von den Cavalcantis aus Florenz. Er hat ein Vermögen von einer halben Million‹«

Monte Christo sah vom Briefe auf und sagte:

»Eine halbe Million, mein lieber Marquis...«

Der Luccaner rutschte unruhig auf dem Stuhle hin und her.

»Ja,« fuhr der Graf fort, »›und es fehlt ihm nichts zu seinem Glücke, als daß er seinen Sohn, den man ihm als Kind geraubt hat, wiederfinden möge!«

»In einem Alter von fünf Jahren, mein Herr!« antwortete der Luccaner mit einem tiefen Seufzer.

»Armer Vater«, sagte Monte Christo. »Der Abbé hofft nun, daß ich Ihnen den Sohn wiedergeben könnte; und ich kann es.« Dann las der Graf weiter: »'Um den Major Cavalcanti nicht zu veranlassen, Gelder von seinem Bankier zu erheben, bitte ich Sie, ihm die viertausend Franken auszuzahlen, die Sie mir noch schulden.'« Der Major folgte diesem Postskriptum mit sichtbarer Angst. Der Graf sagte nichts weiter als: »Gut! Gut!« Dann aber griff er nach einigen Akten und überreichte sie dem Major, »Hier Ihre Papiere, mein Lieber.«

»Meine Papiere...?«

»Nun ja: den Trauschein über Ihre Ehe mit Oliva Corsinari und den Taufschein Ihres Sohnes Andrea. Sie werden hier in Paris ihrer bedürfen.«

»Und die Frau ...?« fragte zaghaft der Major.

»Ist leider tot...«

Der Luccaner atmete erleichtert auf.

»Doch nun will ich Ihnen den Sohn zuführen. Er ist ein hübscher blonder Junge mit guten Manieren... na, Sie werden ja sehen.«

»Ein Wort noch, Exzellenz ...« hielt der Luccaner den Grafen zurück.

»Ah! Daß ich's vergaß! Natürlich: Sie brauchen Geld. Hier zunächst acht Banknoten zu je tausend Franken. Ihr Reisegepäck mit allem Nötigen, was Sie für die Geselligkeit hier brauchen, ist im 'Hotel des Princes' abgegeben worden. Dort ist auch das Logis für Sie bestellt.«

Der Major verneigte sich dankend; seine Augen funkelten vor verhaltener Seligkeit, als er dem Grafen nachblickte, der durch eine Tapetentür verschwand.

Der Graf von Monte Christo trat in das anstoßende Gemach, wo ihn ein junger Mann erwartete. Als er Monte Christo sah, sprang er rasch auf und sagte: »Habe ich die Ehre, den Grafen von Monte Christo vor mir zu sehen?«

»Ja, mein Herr,« versetzte dieser, »und Sie sind Graf Andrea von Cavalcanti, nicht wahr?«

»Graf Andrea Cavalcanti«, wiederholte der junge Mensch, diese Worte mit einem vertraulichen Lächeln begleitend.

»Haben Sie ein Empfehlungsschreiben?« fragte Monte Christo.

»Darf ich bitten«, sagte der junge Mann und überreichte Monte Christo ein Schreiben. Der las es und blickte dann prüfend auf den vor ihm Stehenden.

»Sie haben nun wohl die Güte, mir einige Auskunft über Sie und Ihre Familie zu geben.«

»Sehr wohl, Exzellenz«, erwiderte der Jüngling mit einer Geläufigkeit, die Zeuge seines guten Gedächtnisses war. »Ich bin, wie gesagt, Graf Andrea Cavalcanti, Sohn des Majors Bartolomeo Cavalcanti, Nachkomme der Cavalcantis, die im goldenen Buch zu Florenz eingetragen sind. Obgleich unsere Familie reich ist, mein Vater eine halbe Million Renten besitzt, hat sie doch viel Unglück gehabt, und ich selbst wurde im Alter von fünf bis sechs Jahren durch einen treulosen Erzieher entführt, so daß ich fünfzehn Jahre hindurch meinen Erzeuger nicht wiedersah. Seit ich frei und unabhängig bin, suchte ich ihn vergeblich. Endlich kündigt mir ein Brief an, daß mein Vater in Paris ist und ich von Ihnen das Nähere erfahren werde.«

»In der Tat, mein Herr, was Sie erzählen, ist sehr interessant«, entgegnete der Graf mit düsterer Genugtuung, das kecke Antlitz betrachtend, das die Schönheit eines bösen Engels hatte. »Indes verhält sich alles in Wirklichkeit so. Ihr Vater ist hier und sucht Sie. Er hat Sie immer gesucht. Endlich erhielt er die Nachricht, daß man ihm gegen eine große Geldsumme anzeigen würde, wo der Sohn wäre. Ihr Vater zögerte nicht; die Summe wurde abgesandt. Sie waren im südlichen Frankreich, glaube ich?«

»Ja«, antwortete Andrea in großer Verlegenheit.

»Ein Wagen erwartete Sie zu Nizza und brachte Sie von Nizza über Genf, Turin, Chambery nach Pont-de-Beauvoisin und sodann nach Paris.«

»Ganz recht«, sagte Andrea. »Übrigens -- ist mein Vater wirklich so reich?«

»Ein Millionär!«

»Dann«, fragte der junge Mensch ängstlich, »werde ich mich in einer Lage befinden, die... die angenehm ist?«

»Äußerst angenehm, lieber Herr. Sie werden auf Wunsch Ihres Vaters einen monatlichen Kredit von fünftausend Franken bei Herrn Danglars, einem der sichersten Bankiers von Paris, eröffnet finden.«

»Gedenkt mein Vater lange in Paris zu bleiben?« fragte Andrea ängstlich.

»Nur einige Tage«, entgegnete Monte Christo. »Sein Dienst gestattet ihm nur ein Ausbleiben von zwei bis drei Wochen.«

»O teurer Vater!« sprach Andrea sichtlich erfreut.

»So zögern Sie nicht, mein junger Freund; in diesem Saal werden Sie den geliebten Vater finden.«

Andrea verbeugte sich tief vor dem Grafen und ging. Der Graf folgte ihm mit den Augen, und nachdem jener fort war, drückte er an einer Feder, die mit einem Gemälde in Verbindung stand, so daß man durch eine hinlänglich breite Spalte den andern Saal übersehen konnte.

Andrea schloß die Tür hinter sich und schritt gegen den Major hin, der sich erhob, als er die Schritte des sich Nahenden hörte.

»Ach, mein teurer Vater«, sagte Andrea so laut, daß es der Graf hören konnte.

»Guten Tag, mein Sohn!« sprach der Major würdevoll.

»Welche Freude gewährt das Wiedersehen!« sprach Andrea, nach der Tür schauend.

»Ja, es war eine lange Trennung.«

»Wollen wir uns umarmen, Vater?« versetzte Andrea.

»Wie es Ihnen beliebt, mein Sohn«, entgegnete der Major. Und die beiden umarmten sich mit theatralischer Kälte.

»So sind wir nun vereint,« sprach Andrea, »um uns gleich wieder zu trennen.«

»Ich kann außerhalb Lucca nicht existieren und kehre so bald wie möglich nach Italien zurück.«

»Doch vor der Abreise werden Sie mir, teuerster Vater, die Papiere geben, durch die ich meine Abkunft beweisen kann.«

»Hier sind sie.«

Andrea ergriff hastig den Trauschein seines Vaters und sein eigenes Taufzeugnis, und nachdem er sie mit einer sehr natürlichen Ungeduld eröffnet hatte, durchlief er beide Stücke mit Eile und schnellem Überblick.

Monte Christo wählte diesen Moment, um in den Saal zu treten; er fand die beiden in heißer Umarmung.

»Nun, Herr Marquis,« sprach Monte Christo, »Sie scheinen sehr glücklich zu sein, den Sohn gefunden zu haben.«

»Oh, mein Graf, ich sterbe vor Freude!«

»Und Sie, junger Mann?«

»Ich bin vor Wonne verstummt.«

»Glücklicher Vater, glücklicher Sohn!« rief Monte Christo.

»Eines betrübt mich,« sagte der Major, »die Notwendigkeit, Paris so schnell zu verlassen.«

»Oh, lieber Herr von Cavalcanti, Sie werden nicht eher reisen, bis ich Sie einigen Freunden vorgestellt habe.«

»Ich stehe ganz zu Diensten, Graf«, versetzte der Major. »Wann werden wir die Ehre haben, den Herrn Grafen wiederzusehen?«

»Samstag, wenn Sie wollen... ja... bestimmt am Samstag. Ich habe mehrere Personen zu einem Diner in meinem Hause zu Auteuil, Straße Fontaine Nr. 30, geladen, und unter diesen auch Ihren Bankier Danglars.«

Die beiden Cavalcanti verbeugten sich und gingen. Der Graf trat ans Fenster und sah beide Arm in Arm davongehen.

»Zwei ganz erbärmliche Kerle!« sagte er. »Schade, daß sie nicht wirklich Vater und Sohn sind; sie wären einander wert.«
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo