Ein weiteres Bekanntwerden in der Nachbarschaft

Zu der nächsten Nachbarschaft meines Hauses und auch meines Herzens gehörte denn doch die Kirche und Das, was in ihr zu finden war oder gefunden werden sollte. Meine Wohnung lag, wie die in Nürnberg, auf dem Kirchenplatze; vielleicht, so dachte ich, findet sich dort im Gotteshause auch noch ein Verkündiger von Gottes Wort, wie in den Nürnberger Kirchen. Ich kam dahin, die Stimmen der Sänger und Sängerinnen in Begleitung der Orgel und der Saiten tönten lieblich, aber zu dem Unbekannten, das diese Zungen redeten, fand sich kein Ausleger (1 Kor. 14 V. 13 u. f.); sie regten Gefühle und Erwartungen an, welche im Ohre verhallten, im Herzen alsbald wieder erloschen; das tiefer in die Gesinnung eingehende Wort, das „die Gemeine bessern“, zum inneren Leben erwecken sollte, wurde nicht vernommen.

Ich spreche es mit herzlichem Bedauern aus: das Brot des Lebens war damals in meiner neuen Heimat nicht nur teuer im Lande, sondern namentlich bei der lutherischen Kirche fand sich fast überall ein gänzlicher Mangel daran und es war nicht zu verwundern, wenn Manche, die ein Verlangen nach diesem Brote hatten, zu Ludwigslust in der katholischen Kirche ihre Erbauung suchten, in welcher ein junger, wahrhaft begabter Geistlicher aus der trefflichen theologischen Schule zu Münster Predigten hielt, deren Inhalt seinem Wesen nach Das wirklich war, was die Predigten in der lutherischen Kirche ihrem Namen nach sein sollten: ein christgläubiger. War ja doch der Unglaube wie ein verdunkelnder Nebel auch anderwärts über die Schulen und Kirchen unseres Bekenntnisses hereingebrochen und hatte sich, mit wenig Ausnahmen, über das nördliche Deutschland am dichtesten gelagert. Was da bei den Männern, die als Wortführer galten, in Ansehen stand, das war nicht jener ehrenwertere Rationalismus, der zwar dahin strebt, Alles, was seine äußeren wie inneren Sinne wahrnehmen, dem vernünftigen Erkennen erfassbar zu machen und anzueignen, welchem jedoch bei seiner redlichen Achtung vor der Wahrheit die Ahnung geblieben, dass der Geist in uns zu dem geoffenbarten Worte in einem ähnlichen Verhältnisse stehe, als der Leib zu dem täglichen Brote, von welchem er lebt. Dieser, der Leib, kann die Gestalt, Größe und das Gewicht, ja selbst die chemische Zusammensetzung des Hausbrotes mit seinen äußeren Sinnen und durch seine künstliche Zerlegung wohl erforschen und erkennen, die nährende, lebenserhaltende Kraft desselben erfahrt er aber nur, wenn er es durch den Mund in sein Inneres aufnimmt und in sein eigenes leibliches Wesen verwandelt. Und öfters hat jene Ahnung zu dem Versuche, dieser aber zum Gelingen der innerlichen Aneignung der göttlichen Wahrheit geführt. Von Rationalisten solcher redlicherer Gesinnung gab es vielleicht auch noch Manchen in Mecklenburg, ihre Zahl mag jedoch gering gewesen sein, die Mehrzahl hatte ihren Verstand wie ihr Herz ganz von dem Gebiete des Glaubens hinweggewendet, das ihr wie eine längst verödete, nicht mehr bewohnbare Ruine erschien; jede Spur von Achtung, noch mehr, jedes Zeichen von Anhänglichkeit an den Wahrheiten des Christentums wurde Pietismus genannt und als solcher nicht nur verachtet, sondern aufs Bitterste verhöhnt und verlästert.


Wie hat sich seitdem jener trostlose Zustand der damaligen Zeit in Mecklenburg geändert und verbessert! Wie ganz anders steht das jetzt in dem guten Lande! Wie ist da die lutherische Kirche an Haupt und großenteils auch schon an Gliedern von Neuem wieder zu einem so gesunden Leben erwacht, welches Gott erhalten und stärken möge!

Mitten unter den Gebeinen des Todes hatte sich dennoch auch in jener Zeit, die ich in Mecklenburg verlebte, noch hin und wieder ein Leben des Glaubens erhalten. Die Aussaat, welche Gott unter der Regierung des frommen Herzogs Friedrich (S. 66) und den treugesinnten Zeugen der Wahrheit, die sich um ihn versammelten, hatte ausstreuen lassen, war noch nicht ausgegangen; sie trug hin und wieder noch reife, vollwichtige Ähren im Amte des Wortes, ja ganze Garben unter dem treuherzigen Volke. Von den noch auf festem Grunde stehenden treuen Verkündigern des Wortes nenne ich hier vor Allen den teuren Pfarrer Koch in Vellahn und Müller in Dömitz, neben ihnen gab es überall einzelne Treugebliebene. Freilich stand auch mitten darunter manches Unkraut da, welches selbst zwischen der guten Saat des Ackers aufgewachsen war. Der Großherzog Friedrich Franz hatte Achtung vor jenen vollwichtigen Ähren und Garben der guten Aussaat (m. v. S. 53); er hätte gern das Feld seiner Kirche in gutem Anbau erhalten und wo er Gelegenheit fand, jene Achtung vor dem Glauben der Väter zu beweisen, da ließ er sie nicht unbenutzt. Aber sein Erkennen und Wollen reichten nicht hin, dem Hereinbrechen der von außen kommenden Verdunkelung, die sich Aufklärung nannte, zu steuern; die ansteckende Seuche hatte ihren Lauf unaufhaltsam genommen.

Ich selber lernte, wie eben erwähnt, zu meiner herzlichen Freude noch manche einzelne christgläubige Prediger, mehrere fromme Seelen aus dem Bürger- und Bauernstande kennen, doch war nicht Alles, was die ernstere Zucht einer früheren Zeit genossen hatte, darum auch ein gutes Salz der Erde geblieben, sondern in Manchen war das Salz auch dumm geworden, so dass es sich zu nichts eignete, als zum Ausschütten auf die Straße, wo die Leute es zertraten. So fand ich schon in der ersten Zeit meines Aufenthaltes in Ludwigslust zwei Seelen auf, die noch als ein Erinnerungszeichen an die Tage des Herzogs Friedrich und an den damaligen Zustand der Kirchen und Schulen da zu stehen schienen, von denen jedoch nur die eine zur edlen, guten Frucht, die andere zum Unkraut gereift war. Ich will diese beiden Bekanntschaften hier mit wenig Zügen beschreiben.

Die eine von beiden, welche der Gärtner eben um jene Zeit als eine edle Frucht in vollendeter Reife von ihrem Stamme abnahm, das war eine gute, fromme Mutter, die mit ihrem Manne, einem hochachtbaren Arzte, viele Jahre in friedlich glücklicher Ehe gelebt hatte. Sie war ihrem ganzen Hause, war Allen, die sie kannten, das seltene Vorbild eines stillen, sanften Wandels in Demut, Ehrbarkeit und Gottesfurcht gewesen, denn sie selber hatte fest gehalten an dem Vorbilde der heilsamen Worte und der Lehre, die sie in ihrer Jugend aus dem Munde treuer Zeugen vernommen. Sie lag am Sterben; eine Freundin von ihr, in deren Hause ich seit Kurzem ein naher Bekannter geworden, führte mich zu ihr, mit der Bitte, dass ich ihr doch einige tröstende Worte sagen möge, denn sie verlange nach dem Zuspruche christlicher Freunde. Ich folgte der Einladung, aber diese Kranke bedurfte meines tröstenden Zuspruches nicht; sie hätte mir mehr geben können, als ich ihr zu geben vermochte. Schon in ihrem Angesichte sprach sich die selige Ruhe, gleichwie eines Geretteten aus der Todesgefahr der Fluten, aus, der auf sicherem Felsen stehend die Augen voll Dank zu Gott erhebt, dessen Seele voll Lobes und Preisens ist gegen Ihn, der ihr so Gutes getan hat.

Die Freundin erzahlte mir später von dem Inhalte eines Gespräches, das sie mit der Kranken gehabt hatte, davon mir Einiges in der Erinnerung geblieben, das auch, von anderer Hand als der eines menschlichen Schreibers im Buche, wie in jedem Christenherzen geschrieben steht. — „Sie können,“ so hatte die Freundin getröstet, „Ihrem Ende ruhig entgegen gehen; eine solche Achtung und Liebe, wie Sie, haben sich wohl wenig Menschen in der Welt erworben“.— „Ja“, so antwortete die Kranke, „dieWelt hat das Ihrige lieb und ich bekenne und weiß es, dass ich nur zu Vieles von Dem in mir hatte, was vom Wesen der Welt war“. — „Sie haben ja allen Menschen nur Gutes und lauter Liebe erwiesen“. — „Gott sieht das Herz an. Er allein weiß es, wie oft und wie mächtig in mir der Mörder von Anfang geherrscht hat, wie oft sich in mir und an mir Hass und Lieblosigkeit kund gaben. Ich habe Die geliebt, die mich liebten, gehasst, die mich hassten oder von denen ich mich gehasst glaubte“. — „Wenn hätten Sie denn jemals Ihren Hass an einem Menschen bewiesen?“ — „Kennen denn auch Sie mich nicht besser? Wie oft habe ich das Gebot vergessen: richtet nicht, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet und wie viel mehr noch als mit meiner Zunge habe ich das Gebot in meinem Herzen übertreten!“

In solcher Weise hatten die Beiden noch länger mit einander geredet, als aber die Kranke schwieg, da schwieg auch, überwältigt von der Wahrheit, die sie vernommen, die tröstende Freundin. Die Kranke aber brach zuerst wieder das Schweigen, sie wendete sich freundlich zu der Anderen:— „Sie meinen es,“ sprach sie, „so gut und lieb mit mir, wie eine Mutter, die ihr krankes Kind zur Ruhe einsingen will. Aber ich kenne andere Wiegenlieder, welche mir bessere Ruhe und einen sichereren Trost geben. Es klingt mir aber eines im Inneren das etwa so lautet wie in dem Liede: „Herzlich lieb hab' ich dich o Herr!“ die Worte es sagen: „und wenn mir gleich mein Herz zerbricht, so bleibst du doch meine Zuversicht; mein Heil und meines Herzens Trost, der mich durch sein Blut hat erlöst!“ Ich weiß, an Wen ich glaube und was ich an Ihm, meinem Herrn, habe, an meinem Bürgen, der für mich genug getan. Ich fürchte den Tod, so ernst und schrecklich er auch ist, nicht mehr, denn Er selber, in seinem teuren werten Worte, hat mir die feste Zusicherung des ewigen Lebens gegeben, das Er selber lebt. Ja: Jesus, Er mein Heiland lebt, ich werd' auch das Leben schauen: sein, wo mein Erlöser schwebt, warum sollte mir denn grauen? lasset auch ein Haupt sein Glied, welches es nicht nach sich zieht?“

Ich kam auch und sah diese liebe Kranke. Das war ein Frieden, den kein menschliches Wort noch Zuspruch dem Herzen bringen kann, denn er ist höher, als aller Menschen Vernunft. Ich konnte mich da nur freuen und noch jetzt in der Erinnerung stehe ich mir in dem Gefühle eines armen Anfängers vor Augen, gegenüber einer anderen, im Glauben vollendeten Seele. — Die Kranke ist bald hernach in der festen Hoffnung auf den Trost Israeli entschlafen.

Nach dieser Erscheinung von wohltuender Art begegnete mir auf meinem damaligen Lebenswege bald darauf eine andere von ganz entgegengesetzter Art und Wirkung. Sie war in verkehrter Richtung, zur Linken, von eben dem Entwickelungspunkte des geistigen Bewegens ausgegangen, an welchem auch das innere Leben der eben erwähnten seine erste Anregung empfangen hatte; was dieser zum Leben gereicht hatte, das war jener ein Gift, zum Tode geworden.

Eines Tages kam ein Mann zu mir ins Haus, der mir einen ziemlichen Stoß von handschriftlichen Arbeiten überbrachte. Viele von seinen Papieren schienen schon alt und wie durch viele Hände gegangen zu sein, andere waren von neuem Aussehen. Der Anblick des Mannes machte einen höchst widrigen Eindruck auf mich; seine Augen blickten scheu umher, die Stirne war wie von Gedanken der Furcht und der Sorgen gefurcht, die Wangen eingefallen und welk, der schlaffe Mund schien in seiner öfters zuckenden Bewegung das Verlangen zu verraten, etwas zu sagen, und dennoch zugleich unvermögend zum Sprechen. Nach den Worten der Begrüßung brachte der Mann etwas zögernd das Anliegen vor, das ihn zu mir geführt habe: es war vor der Hand nur der Wunsch, dass ich diese seine Arbeiten, mit denen er sich seit vielen Jahren beschäftigt habe, lesen, und ihm dann meine Ansicht darüber sagen möge. Er habe gehört, dass ich ein gelehrter Herr sei und auch Bücher geschrieben habe, da glaube er denn, ich werde Vieles in seinen Schriften finden, das neu sei und des Nachdenkens wert, denn er habe viel über seine Sachen nachgedacht.

Der „nachdenkliche“ Vielschreiber entfernte sich bald; in einer freien Stunde nahm ich seine Papiere zur Hand, ich wollte wenigstens einen Teil derselben lesen, aber ich war dieses nicht im Stande, ich konnte sie fast nur durchblättern. Wie einem zuweilen bei dem Lesen mancher undeutlicher Handschriften, wie man zu sagen pflegt, das Sehen der Augen vergeht, so verging mir hier nicht durch die Handschrift, denn diese war deutlich zu lesen, sondern an dem Inhalte der Aufsätze der Verstand. Dieser Inhalt, der sich eine gewisse theosophische Haltung zu geben suchte und in manche Ausdrücke von Jacob Böhme sich einkleidete, war in solcher Weise mit Stellen aus der heiligen Schrift, namentlich aus dem alten Testamente, durchsetzt, dass ich gar keinen Zusammenhang zwischen ihnen und dem Inhalte der Aufsätze entdecken konnte, dem sie doch, nach der Meinung des Verfassers, als Beweise dienen sollten. Man hatte Mühe, sich in die Verdrehung und Missdeutung des eigentlichen, klaren Sinnes der Bibelstellen hinein zu versetzen, die eine solche Zusammenstellung begreiflich machten. Ich legte bald, vom weiteren Lesen abgeschreckt, die Schreibereien aus der Hand.

Der Mann hatte mir seinen Namen gesagt; ich erkundigte mich nach ihm und erfuhr die ganze Geschichte seiner furchtbaren Verirrungen. Er hatte sich in seinen jüngeren Jahren zur Malerkunst gewendet, aber, was für einen Künstler das größte Unglück ist, weil es sich nicht, wie bei dem Gelehrten, durch Fleiß ersetzen lässt, es fehlte ihm ganz an dem eigentümlichen Talent des Nachbildens und noch mehr des selbstständigen Hervorbringens und Darstellens von eigenen Gedankenbildern, das den Künstler zum Künstler macht. Nur sein eigenes Auge fand Wohlgefallen an den Missgebilden seiner Hand, welche andere Augen nicht anders als mit Bedauern ansehen konnten. Aber er ließ sich durch fremde Urteile in der hohen Meinung, die er von sich und seinen Gaben hatte, nicht irre machen; hielt sich selber für einen von ungerechten Feinden Verfolgten und Zurückgesetzten, den Gott, wenn die rechte Stunde käme, desto höher zu Ehren bringen werde. Dabei geriet er auch mit den Seinigen, weil er sich zu hoch hielt, eine gemeine Handarbeit zu betreiben, in selbstverschuldete Not und Mangel, welche er nur als eine Prüfung seines Glaubens betrachtete.

Er las jetzt, wie er in seiner frühesten Jugend dazu angewiesen worden war, sehr fleißig in der heiligen Schrift, es fehlte ihm aber der rechte Ausleger zu Dem, was er las: der Geist der Demut und der kindlichen Einfalt, der bei dem Sinne des Wortes treulich bleibt und bei jener Belehrung, welche der Herr durch die von seinem Geiste erleuchteten Sendboten und Zeugen der Wahrheit seiner Kirche gab. Statt auf diesen rechten und guten, hörte er auf die Stimme eines falschen Auslegers, der sein Inneres beherrschte: auf dm Geist des Hochmutes und der Lüge, der von Anfang ein Verdreher des einfältigen Wortes der Wahrheit gewesen ist. Er kam auf den wahnwitzigen Gedanken, sich selber mit dem Vater der Gläubigen, mit Abraham zu vergleichen, der von Gott in ähnlicher Weise geprüft werden sollte, als Abraham. In diesem finstern Wahne schlachtete er sein Kind, ließ sich, ohne die Tat zu leugnen, als Mörder ergreifen, wurde in gerichtlichen Gewahrsam und bald hernach in ein Irrenhaus gebracht, wo man sich vergeblich bemüht hatte, ihn durch anhaltende Arbeiten von seinen finsteren Grübeleien abzubringen. Dennoch war er so still und ruhig geworden, und, wie es schien, so zur rechten Besinnung über seine Tat gekommen, dass man ihn nach einigen Jahren wieder in sein Haus entließ. Hier hatte er sich wieder ganz seinem Hange zum Müßiggang hingegeben, nur selten, notgedrungen oder auf fremdes Zureden eine Arbeit im Garten oder Feld zur Hand genommen, von welcher er bald, unter mancherlei Vorwand wieder davon gelaufen war zu den Büchern, die er nicht verstand, und zu seinen Schreibereien, mit denen er öfters Tage lang, ja selbst bei Nacht sich beschäftigte.

Er kam nach einigen Tagen wieder zu mir. Ich gab ihm schweigend seine Schreibereien zurück. „Wie haben Ihnen“, fragte er mich in gespannter Erwartung, „meine Schriften gefallen?“ — „Ich kann, sagte ich, den Sinn, den Sie wohl da hinein legen wollten, nicht finden und begreifen.“ — „Es ist,“ so antwortete er etwas gereizt, „freilich ein sehr tiefer Sinn darinnen und es gehört viel und scharfer Verstand dazu, um ihn zu fassen.“ — „Das, was wahrhaft verständig ist,“ sagte ich, „kann wohl jeder gesunde Verstand begreifen.“ — Der Mann wurde durch meinen Tadel ganz lebhaft und beredt. „Meinen Sie,“ fragte er empfindlich, „ich habe Unverstand in meinen Schriften vorgebracht?“ Ich nahm schweigend seine Papiere wieder zu mir hin, machte ihn auf seine verkehrte Anwendung mancher Sprüche und Stellen ans der heiligen Schrift aufmerksam und fragte ihn, ob er jemals, in dem, wie ich wisse, sehr guten Unterrichte, den er in seiner Jugend in Schule und Kirche genossen, eine solche Erklärung jener Stellen vernommen habe? — „Das glaube ich gern, sagte er, es gehört mehr dazu, als die gewöhnliche Einsicht unserer Lehrer, um den rechten tiefen Sinn zu verstehen. — Was half es da, wenn man ihm aus dem klaren Worte der Sprüche und durch das Licht, das sie durch den Vergleich mit anderen Stellen erhalten, den Unsinn seiner Auffassung erweisen, oder ihn auch auf sein Missverstehen des Jacob Böhme und mancher anderen von ihm gelesenen Bücher aufmerksam machen wollte, musste man doch bald erkennen, dass bei dem Manne jede Belehrung ohne Erfolg und Eindruck bleibe, er hörte und achtete auf kein fremdes Urteil, sondern nur auf Das, was sein Eigendünkel, was die hohe Meinung, die er von seinen Einsichten hatte, ihm eingab. Auch jede Lektion über die Bedeutung des goldenen Spruches: bete und arbeite, war an ihm vergeblich.

Von der Erwähnung dieses unerfreulichen Zusammentreffens wende ich mich wieder zu dem Berichte über andere, erfreulichere neue Bekanntschaften, welche ich um diese Zeit, so wie bald nachher machte.

Zur geistigen Führerin der Prinzessin Marie und zu einer mütterlichen Freundin derselben war eine edle Dame, die Frau Baronesse v. B .... aus Gotha berufen worden, von welcher ich, da sie noch kräftig lebend unter uns steht, nur die Taten, nicht die Worte darf sprechen lassen. Diese Taten: der Einfluss auf Geist und Gemüt der teuren, ihrer Führung anvertrauten Prinzessin, so wie auf ihre ganze Umgebung am Hofe; der scharfe, einsichtsvolle Blick, mit welchem diese Dame Alles erfasste, was zum Besten dienen konnte und der Ernst, mit welchem sie dieses Beste zu fördern suchte, waren gut. Sie stand mit unserer Freundin Schelling in einem Verbande der gegenseitigen Achtung; mir wurde sie näher befreundet, nicht nur durch unser gemeinsames Wirken in Ludwigslust, sondern noch mehr durch die gemeinsame Liebe zu ihren Kindern, welche ich in München wiederfand, und beide in einem und demselben Frühling dahinscheiden sah, in den Frieden der Ewigkeit, dessen Vorgeschmack sie schon in der Zeit des Erdenlebens genossen hatten.

Unter anderen, noch jetzt lebenden Bekannten aus der ersten Zeit meines Aufenthaltes in Ludwigslust, nenne ich in dankbarer Liebe meinen alten Freund und Gevatter, den Garteninspektor Schmidt, den aufrichtigen, treuherzigen Biedermann von unverfälschter Gesinnung. Mit ihm und seinem Hause sind ich und die Meinigen sehr bald in ein Verhältnis getreten, das unseren bürgerlich geselligen Verbindungen in Nürnberg sehr nahe kam. Gleich an einem der ersten Tage nach meiner Ankunft in Ludwigslust, bei meinem Eintritte in den Prinzengarten (nach S. 76) knüpfte das gemeinsame wissenschaftliche Handwerk: die Naturwissenschaft zwischen mir und Schmidt ein Band der gegenseitigen Beachtung an; denn ich lernte in dem Manne einen Kenner und Pfleger des Gewächsreiches kennen, von welchem viel zu lernen war. Zu diesem mehr äußeren Bande kam aber bald das innere der persönlichen Zuneigung, dem das Zutrauen meines Freundes noch eine höhere Bedeutung gab, als er mich zum Taufpaten seines jüngsten Kindes wählte. Seine älteste Tochter ward unseren beiden Töchtern eine liebe Freundin und Mitschülerin. Durch Schmidt lernte ich auch etwas später einen anderen trefflichen Genossen des gemeinsamen wissenschaftlichen Strebens an dem jungen Doktor Brückner kennen, welcher noch nicht lange vorher mit einem reichen Schatze der Kenntnisse von der Universität gekommen war, an welcher er durch seine seltenen Gaben selber zu dem Berufe eines Lehrers nicht ungeeignet gewesen wäre. Wie gern hätte ich diesen Menschen, mit welchem ich mich an Gemüt, wie an wissenschaftlichem Streben sehr nahe verwandt fühlte, mit mir genommen auf den Weg eines gemeinsamen Berufes. Er verstand das Lehren wie das Lernen. Er und sein ihm ebenbürtiger Bruder, wenn sie noch leben, seien mir in Liebe gegrüßt und gesegnet.

Ganz so, wie bei alten, längst bekannten und lieben Landsleuten befanden wir uns im Hause des Hofmaler Lenthe, den ich schon in Dresden, wo wir nachbarlich beisammen wohnten, gesehen, aber nicht näher kennen gelernt hatte. Seine Frau war eine geborene Dresdnerin. Dieses gute Haus ist mir ein geistiger Garten gewesen, an dem ich meine Lust und Freude fand. Denn jene Samenkörner eines inneren Lebens, die ich selber in Nürnberg empfangen hatte, die legte ich hier in einen fruchtbaren Boden, in welchem ich sie bald freudig aufgehen und gedeihen sah. Ich hatte hierbei nur das Geschäft eines gemeinen Boten betrieben, welcher Pfropfreiser von edlen guten Bäumen und Samenkörner, die er in der Fremde geschenkt bekam, mit sich führt und an Liebhaber des Garten- und Feldbaues sie abgibt. Wenn ich bei Lenthes war, gingen mir Herz und Mund auf; ich führte sie durch meine Berichte in den Kreis meiner christlichen Freunde in Nürnberg ein, redete mit ihnen, was meinem Heimweh ein so wohltuender Balsam war, von Dem, was ich von diesen Freunden erfahren und gelernt, teilte ihnen Bücher, namentlich Lebensbeschreibungen, mit, in denen der gleiche Geist und Inhalt zu finden war, als in den Gesprächen und in dem Leben meiner Freunde, so dass ich mich fast eben so behaglich wohl bei diesen neuen Mitbürgern fühlte, als bei denen, die ich in der früheren Heimat verlassen hatte. Namentlich an die sonntäglichen Nachmittage, die wir mit Lenthes zubrachten, denke ich gern zurück. Was da mit Wärme aus dem Herzen gesprochen wurde, das ging zu den Herzen, die das Wort mit Wärme aufnahmen. Das in der neuerwachten Liebe zu dem Herrn glückliche Ehepaar: Lenthe und seine damals lebende erste Frau sind nun beide, schon seit Jahren, dahin eingegangen, wo das Glauben zum Schauen wird; sie haben die Ruhe und den Frieden gefunden, in deren Genusse sie, im Gedränge der Welt oft sich gestört sahen.

Ich habe schon vorhin (S. 82) des jungen katholischen Pfarrers aus dem Münsterlande erwähnt, dessen Wirken, als Prediger, für Ludwigslust damals nicht ohne Bedeutung war. Sein Name war Schultze. Eine heitere, liebenswürdige, Zutrauen erweckende Persönlichkeit, nicht nur von dem Großherzog Friedrich Franz geliebt und sehr begünstigt, sondern von Allen die ihn kannten, gern gesehen und geachtet. Auch mir gefiel der Mann sehr wohl, ich nahm an alle Dem, was er mir in jugendlicher Wärme von dem Münsterlande: von Overberg, Fürstenberg und den Freunden des Grafen Fr. Leop. Stolberg erzählte, einen herzlichen Anteil. Wir fühlten uns hier beide, ich im Vergleich mit Nürnberg, er in dem mit Münster, in einer geistigen Wüste, darin man gern an den Erinnerungen sich vergnügt, die man von dem Genusse der fruchtbaren, lieblichen Länder mit sich gebracht hat, aus denen man herkam. Schultze, das will ich gern mit Dank erkennen, hat mir viel Liebe und Treue erwiesen; er hat mich, namentlich bei dem Großherzog Friedrich Franz in späterer Zeit gegen Verleumdungen vertreten, welche meine äußere Lage hätten sehr trüben können, war auch bei jeder anderen Gelegenheit unermüdlich in seinen Beweisen von Freundlichkeit und Gefälligkeit. Ich konnte ihn jedoch schon damals öfters nicht ohne Sorgen betrachten. Er war mit seinem warmen, für das Gute empfänglichen Herzen, ohne alle Kenntnis der Welt, ohne alle Erfahrung, in eine Stellung gekommen, die wohl selbst für einen Älteren und Erfahreneren nicht ohne Gefahr gewesen wäre. Äußeres Glück und Wohlstand, Menschenlob und Menschenehre, die wahrhaft väterliche Zuneigung und Gunst seines Fürsten, das sind geistig klimatische Verhältnisse, in denen solche Zedernbäume des Hochgebirges, wie Johann Michael Sailer, Wittmann, Fenneberg schwerlich hätten erwachsen und gedeihen können. Doch ist ja ein Sambuga auch in solchen Gefahren treu geblieben, weil er sein Herz nicht in das eitle Gedränge und Gelüste der Welt, an dem es kein Gefallen fand, hinaus gab, sondern in der Stille da zurückbehielt, wo sein Schatz war. Wenn aber für ein jugendlich reizbares Herz der Zug hinaus zu dem Glanze und Getümmel zu mächtig wird, dann geschieht es leicht, dass der Wächter von dem Schatze, dessen Obhut ihm vertraut war, hinwegerissen wird, und wo nicht für immer, doch auf lange Zeit um das Beste kommt, was er hatte.

Während ich in solcher Weise mit den Menschen, deren Mitbürger und Mitpilger ich hier geworden war, bekannt und befreundet wurde, versäumte ich nicht, mich nach dem mir versprochenen künftigen Arbeitsfelde umzusehen, zu welchem ich mich, als ich die alte Heimat verließ, und dem Zuge in die neue folgte, innerlich berufen wähnte. Ich lernte das Schullehrerseminar und seine innere Einrichtung näher kennen. Der wackere, wohlmeinende Direktor desselben war mein Vorgänger bei dem Unterrichte der Prinzessin Marie gewesen, und sollte es, wie ich damals meinte, auch auf seiner jetzigen Stelle sein. Er war sehr freundlich entgegenkommend und mitteilend gegen mich. Wir fühlten wohl beide, ich aber, der ich die Hoffnung eines ganzen Lebens auf dieses mir zugedachte Arbeitsfeld gesetzt hatte, am schmerzlichsten und tiefsten, was da fehle. Man konnte es schon dem von der höchsten Kirchenbehörde festgestellten Lehrplane anmerken, dass darin das eigentlich Beste der Volksschulen eben so wenig bedacht sei, als nach dem damals herrschenden Geiste das eigentlich Beste der Kirchen erkannt war.

Wie hat sich dieses Alles seitdem geändert! Wäre das damalige Schullehrerseminar zu Ludwigslust nur im Entferntesten dem ähnlich gewesen, das in unserer Zeit unter der treumeinenden Leitung seiner Lehrer besteht, welche die Kraft und ausdauernde Geduld zu ihrem Wirken aus der Liebe zu dem Herrn und seinem Worte empfangen; wie gerne würde ich in eine solche Anstalt, nicht als Direktor, sondern als einer der Mitlehrer eingetreten sein. Wer an einem recht klar vor Augen gelegten Musterbilde sehen will, was die eigentliche Aufgabe des Unterrichtes in den Volksschulen und in einer Bildungsanstalt für künftige Schullehrer sei, der lese das treffliche Buch von W. A. H. Stolzenburg: Geschichte des Bunzlauer Waisenhauses. Solche Gedanken, wie dem Inhalte dieses Buches zu Grunde liegen, hatte auch ich von Dem, was den Volksschulen Not tue. Die losgewordenen Spukgeister der Jahre 1848 u. f. haben viel von einer wünschenswerten, ja notwendigen Emanzipation der Schule von der Kirche gesprochen. Sie würden dieses, wenn sie ihr Interesse recht verstanden, bei dem damaligen Zustande der sogenannt lutherischen Kirche in Mecklenburg nicht getan haben, denn diese war mit den Spukgeistern in den Schulen gleichen Sinnes, hatte mit ihnen gleiches Interesse, auch sie hatte ihre Kanzeln von der wahren Kirche Gottes emanzipiert. Sobald sie aber in die Zucht und den Gehorsam der Mutter zurückgekehrt war, hat sie auch die Volksschulen wieder auf die rechte Bahn geführt und Gott Lob, jetzt ist dort Alles eben so aus Einem guten Stück, als es damals aus Einem schlechten war. Wie unheimlich sprach mich das eitle selbstgefällige Wesen der Zöglinge des Seminars, dieser künftigen Herren „Schulregenten“*), an, wie aufgeblasen, gleich Seifenblasen, hatte diese ihr vieles, vermeintliches Wissen, obgleich dasselbe nur einer Kenntnis von Büchertiteln glich, deren Inhalt man nie gelesen hat. Hätte ich allein als Lehrer, mit etlichen, naturwüchsig guten, jungen Burschen vom Lande herein, als meinen Schülern, eine Bildungsanstalt für künftige christgläubige Volksschullehrer begründen dürfen, ich meine wohl, ich hätte das mit Liebe und gutem Erfolge getan, hätte auch meinen Schülern Vieles gelehrt, was zum Wissen nützlich und gut ist, ich würde aber von jedem Punkte dieses Lehrkreises eine Linie gezogen haben nach der lebendigen Mitte, die alles rechte Erkennen tragen, und wie die Sonne ihren Weltkreis erleuchten muss: auf Christum und sein Heil. Aber, wie schon gesagt, es war damals Alles in Mecklenburg aus einem Stück, das wie eine glatte, gut übertünchte, innerlich freilich morsche Mauer zusammenschloss.

*) M. v. mein Büchlein: Züge aus Oberlins Leben. 8. Aufl. S. 9.

Wo hätte da eine Stelle in der Kirchenmauer sich finden sollen, darein man einen neuen Stein hätte einsetzen können. Die Tünche wäre gleich bei dem ersten Einbruche heruntergefallen, und die Herren Kirchenbaumeister hätten den Schaden übel vermerkt. Doch, wie ich später sagen werde, ein Sturmwind ist gekommen, und hat die innerlich schwache Mauer samt ihrer Tünche zusammengebrochen, und der Herr der Kirche hat andere Baumeister herbeigerufen zum Werke des Neubaues.

Das, was ich so eben sagte, das waren eben meine Gedanken und Ansichten, an denen mein Herz hing, darum wurde mir auch das Herz schwer, als ich in den Wirkungskreis hineinblickte, den ich mir für die Zukunft ausersehen, und dem ich alle meine früheren Aussichten, sowie den inneren und äußeren wissenschaftlichen Beruf aufgeopfert hatte, der mir durch meine ganze Lebensführung angewiesen war. Wo ich nur hinsah, allenthalben gab es nur Hemmungen, die Gewohnheit schien auch manche bessere Augen für die Schatten, die ich sah, blind gemacht zu haben.

Ich sprach dennoch Das, was mich bekümmerte, offen aus, ich tat dies in einer Weise, in welcher es zu vielen Ohren kommen musste. Aus hoher Hand wurde mir ein Aufsatz zur ausführlichen Begutachtung übergeben, der, so viel ich weiß, von einem wohlmeinenden Manne eingesendet war, welcher in Mecklenburgischen Diensten stand, damals aber in Paris lebte. Der Aufsatz enthielt eine sehr beredte Empfehlung der Bell-Lancaster'schen Unterrichtsweise und eine dringende Aufforderung, den „wechselseitigen Unterricht“ in den Mecklenburgischen Volksschulen allgemein einzuführen. Ich fand an diesem mit großem Enthusiasmus geschriebenen Aufsatze Manches auszusetzen. So sehr ich die Bell-Lancaster'schen Schulen als einen Notbehelf für die englische Volksbildung zu würdigen wusste, erschien mir dennoch der geistlose Mechanismus, mit welchem da der Unterricht im Allgemeinen betrieben werden sollte, als etwas Abschreckendes und Nachteiliges. Die Hauptanregung zum Lernen, so schien mir, müsse fortwährend vom Lehrer ausgehen; auch in solchen Gebieten des Elementarunterrichtes, welche nur ein Auffassen mit dem Gedächtnisse durch öfteres Hören und Wiederholen erfordern, könnten die weiter geförderten Schüler nur für das Geschäft der Wiederholung, nicht der eigentlichen Belehrung, benutzt werden; es gäbe aber ein anderes, höheres Gebiet des Schulunterrichtes, das für die eigentliche Volks- und Menschenbildung das wichtigste und notwendigste sei, dieses ließe sich in der Bell-Lancaster'schen Weise den Schülern nicht beibringen und aneignen, weil es nicht Sache des Gedächtnisses, sondern des Herzens sei, das durch andere Triebfedern bewegt werden müsse, als die mechanischen Hebel sind. Mein Gutachten hatte in den Augen der höheren Behörde, deren Urteil es zunächst unterworfen ward, keinen Beifall gefunden. Dieses, zusammen mit meinen mündlichen Äußerungen, welche, vielleicht in übertreibender Weise, zu den Ohren Derer gekommen waren, deren Urteil hier den entscheidendsten Einfluss hatte, gaben meiner zukünftigen Stellung wohl schon damals eine andere Richtung. Von nun an sprach man nie mehr von Dem, was ich für meine nahe künftige Bestimmung hielt, und ich, in der Beklommenheit meines Herzens, fühlte auch keine Neigung, davon zu reden. Mich wandelte schon damals das Gefühl eines Fremdlings im Lande an, der von seiner rechten Straße abgekommen war, und nun im Dunkel der Nacht nur das Sternenlicht von oben zu einem Wegweiser über die bahnlose Heide hat.