Der Eintritt in Haus und Amt

Ludwigslust, unser neuer Wohnort, ist zwar keinesweges durch seine Umgegend und Lage einer der schöneren, wohl aber durch die Geschichte des Entstehens und seiner fortwährenden Erhaltung einer der merkwürdigsten Orte in Mecklenburg. In der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts regierte hier im Lande ein Herzog Friedrich, der diesen Namen, als der Friedensreiche, mit Recht führte, denn er hat, wie wenig andere Fürsten, in beständigem Frieden mit Gott, in einem guten Gewissen und in Frieden und Liebe mit seinen Untertanen gelebt und ist in diesem Frieden gestorben. Die Geschichte von Mecklenburg hat ihm den Beinamen des Guten gegeben, denn sein Wille und seine Absichten waren gut, und Alles, was er tat, war gut oder doch gut gemeint. Darum hat auch Gott einen ganz besonderen Segen auf seine Regierung gelegt, denn die innere Zerrüttung des Landes und seines Haushaltes durch die beständigen widerwärtigen Stetigkeiten der ritterschaftlichen und städtischen Stände mit ihrem Fürsten hatte zwar Friedrichs Vater, Christian Ludwig II., nach langem vergeblichem Bemühen, noch in seinem Greisenalter zu einer Art von friedlicher Ausgleichung gebracht, die Folgen aber jener unseligen Wirren waren noch überall im Haushalte des Staates und im inneren Wohlstande des Landes, sowie seiner Bewohner sichtbar. Dazu kamen noch jene Bedrängnisse, welche der siebenjährige Krieg auch über Mecklenburg herbeiführte. In demselben Jahre, in welchem der gute Friedrich seine Regierung antrat, 1756, begann dieser Krieg, der die früheren Schulden des Landes noch um eine bedeutende Masse vermehrte. Auf Mecklenburg häuften die übermächtigen Nachbarn alle die Kriegslasten und Ansprüche, welche der Sieger an ein ihm feindliches Land zu machen pflegt. Dazu kamen noch die Verheerungen, welche eine allgemeine Viehseuche und Hungersnot im Jahre 1770 auch über Mecklenburg brachten. Dennoch hat Friedrich durch Gottes Segen und weise Sparsamkeit den inneren Haushalt des Landes so verbessert, dass er die von einem seiner Vorgänger während des 30 jährigen Krieges an Hannover verpfändeten Länderteile durch die Summe von anderthalb Millionen Thaler wieder einlösen und auch die im 7jährigen Kriege gemachten Schulden bezahlen konnte. Er verbesserte den Zustand des Landbaues, machte den Anfang zur Abschaffung der Frohndienste der fürstlichen Bauern, begünstigte das Aufblühen der Gewerbe, wendete seine angelegentlichste Sorge auf das Beste der Kirche, der Schulen, der Gerechtigkeitspflege, suchte den inneren Frieden, der in ihm selber wohnte, überall um sich her zu verbreiten.

Aus welchem Quell aber der Friede kam, darin dieser gute Herr das Glück seines Lebens suchte und fand, das lässt sich leicht erraten: Friedrich der Gute war ein sehr gottesfürchtiger, frommer Herr und sein liebster Umgang war mit Leuten von gleicher Gesinnung. Namentlich lebte er mit Bogatzky in sehr vertrautem Verhältnisse und dieser ist oft bei ihm ein besuchender Gast und Hausgenosse gewesen. Friedrich, bei dieser seiner inneren Richtung und bei seiner unermüdeten, großen Arbeitsamkeit zog sich gern und so oft er konnte, von geselligen Zerstreuungen zurück und liebte die Abgeschiedenheit und Einsamkeit. Die Aufgabe seines Lebens war es in geistiger, höherer Hinsicht gewesen, das Verwüstete und Wüste anzubauen und auch nach seinen Kräften mit dahin zu wirken, dass die Erde samt ihren Bewohnern ein Garten Gottes werde. Vielleicht hat er einen ähnlichen Gedanken auch in vorbildlicher und dabei augenfälliger Weise ausführen wollen, als er mitten in einer Wüste und Einöde des Sandes und Waldes hinein, an die Stelle eines kleinen Jagdschlosses, darin er in Gesellschaft seines würdigen greisen Vaters, des Christian Ludwig, vergnügt gewesen, das jetzige Ludwigslust anlegte. Noch jetzt, wenn man über den dürren Sandboden gegen Grabow oder nach dem Sumpfboden der benachbarten Erlenwälder einen Spaziergang macht, kann man es sich einigermaßen vorstellen, wie es in der Gegend muss ausgesehen haben, ehe der gute Friedrich hier seine Wohnstätte aufschlug. Es gab um jene Zeit, während der allgemeinen Not, gar viel armes Volk im Lande und seiner Nachbarschaft, dem das tägliche Brot zu seiner Sättigung und alle Gelegenheit zu einem Erwerbe fehlte. Da führte der gute Friedrich die Armen und Hungernden hinaus in die Einöde, um ihnen da in den ihnen vorläufig erbauten Bretterhütten ihre tägliche Nahrung und gute Versorgung zu geben. Es war keine leichte Aufgabe, das Wasser der Stoer durch einen Kanal da hereinzuleiten, und in der Sandwüste die große, schöne Cascade zu erschaffen, welche der Lage des prachtvoll erbauten Schlosses ihren vorzüglichsten Reiz gibt. Das auf solche Weise gewonnene Wasser wurde dann weiter für den Anbau und die Befruchtung des Lustgartens und seiner Waldungen benutzt; unter den schattigen, schönen Alleen der Linden, die sich zu beiden Seiten der Cascade und des Kirchenplatzes hinaufzieht, wurden dann zunächst dem Schlosse die stattlich hohen, weiter nach der Kirche hinauf die bürgerlich kleineren Häuser aufgerichtet, vor Allem aber die große, in eigentümlichem, nicht unedlem Geschmacke erbaute Kirche, in welcher der Sarkophag des Erbauers Friedrich steht. Der fromme Herzog war ein warmer Freund der Tonkunst, vor Allem des Gesanges; wir fanden noch zu unserer Zeit das Chor und den Kirchengesang in Ludwigslust durch sehr gute Meister und Meisterinnen der Tonkunst bestellt.


Nun, dort am Kirchenplatze, vom Schlosse aus gesehen, links, stand das sauber und wohnlich eingerichtete Haus, das uns durch die gütige Vorsorge der Herrschaft zum Obdach angewiesen war. Nach vorn, nach dem Kirchenplatze und den Linden zu, erhob es sich, wie seine Nachbarhäuser nur zu einem Stockwerke, hinter dem niedlichen Wohnhause aber befand sich ein Hofraum, daneben ein höheres Hintergebäude, in welchem wir gewöhnlich uns aufhielten, dazu eine schöne Stallung und ein Garten, so groß und wohlgebaut, dass sein Ertrag zum Unterhalte einer Gärtnerfamilie in Nürnberg hinreichend gewesen wäre. Außer der Ortschaft, nicht weit von ihr abgelegen, war uns noch ein gutes Stück Feldes mit Krautgarten für unseren Haushalt angewiesen.

Es gab aber für mich ein anderes, geistiges Feld anzubauen, das durch seinen guten Boden, den der Tau von oben befruchtete, bleibendere Früchte versprach, als die bald unter dem täglichen Bedürfnisse sich verzehrenden Früchte der Felder und Gärten.

Ich war am Ende der Woche gekommen; mit dem Anfange der darauf folgenden begann ich meine Lehrstunden bei der jungen, kindlich unbefangenen Herzogin Marie. Was der Inhalt, welches der Umfang meines Unterrichtes sein werde, das deutete ich kurz an*), hätte aber gern noch ein Mehreres gesagt über Das, was unter all' den vielen Dingen, die man lernen kann und soll, das Wichtigste und Beste sei. „An dem Obstbaume,“ so etwa sprach ich, „seien das Beste nicht die vielen, freilich auch notwendigen, schönen Blüten, sondern die Früchte; an einem Getreidefelde, das neben seinen Halmen auch viele bunte Wicken, blaue Cyanen, Kornraden und mancherlei andere schönfarbige Blumen trägt, sind das Beste und eigentlich Wertvolle doch nur die Körner tragenden Ähren, welche ohne allen Farbenprunk dastehen. So verhielte sich's auch bei den Menschen mit ihrem Lernen. Freilich finde sich da auch zwischen Dem, was die jungen Leute aus verschiedenen Ständen in ihren Schulen lernen und werden sollen, ein ähnlicher Unterschied, als zwischen der Anpflanzung und Zucht der Waldbäume und der Obstbäume, oder der Gartenbeete und der Saatfelder. Die Waldbäume, mit denen ich das arbeitende Volk auf dem Lande und in den Städten vergleichen möchte, sollen von frühe an nur so gezogen werden, dass der Regen und Tau vom Himmel ihren Boden fruchtbar machen, die liebe Sonne von oben sie bestrahlen könne, damit sie stämmig und hochwüchsig ihre Zweige und Blätter ausstrecken und gutes, festes Holz bekommen. Die anderen, gebildeten und vornehmen Stände verglich ich dann mit den Obstbäumen, den Gartenbeeten und Saatfeldern. Der Gärtner freut sich, wenn sein Obstbaum recht viele schöne Blüten zum Ergötzen der Sinne trägt, jedoch nur in Hoffnung der Früchte, denn der Granatbaum mit gefüllten Blüten, den man in den Gewächshäusern sieht, lohnt der Mühe des Gärtners nicht, weil der kraftlose Farbenputz der Blüten allesamt abfällt, ohne einen einzigen Apfel zurück zu lassen. Die Gartenbeete sollen immerhin an ihren Rändern recht stattliche, lieblich duftende Blumen tragen, sollen aber für den Gemüsebau auch Raum übrig und Sonnenlicht zulassen, denn dieses, wie die anderen Gaben vom Himmel, aus denen die fruchtbaren Zeiten kommen, seien doch die Hauptsache beim Gedeihen. Ich würde deshalb, wenn ich ein Gärtner oder Landbauer wäre, nicht viele Rosenstöcke oder Rosskastanienbäume in und um meine Saatfelder pflanzen, weil diese den eigentlich nutzbaren Pflanzen den Tau und die Sonnenstrahlen entziehen; dass aber bei den höher gebildeten Ständen, namentlich bei den Gelehrten, mit dem guten Saatkorne zugleich viel eitler Same des bunten Unkrautes in den Kopf gebracht werde, das lasse sich eben nicht vermeiden, obwohl selbst die Wicken nur zum Viehfutter taugten. Was aber die Absicht und den guten Nutzen alles Lernens beträfe, so bliebe es dabei, dass der eigentliche bleibende Gewinn davon für Zeit und Ewigkeit die, wenn auch äußerlich weniger prunkenden, unscheinbaren Früchte seien, nicht die seiner Blumen und Ziergewächse. Damit aber die Früchte gedeihen und reifen könnten, müsse die Sonne sie bescheinen und nicht nur das Wasser der Sprengkannen, sondern der Tau und Regen des Himmels sie benetzen. Wenn dann der innere Trieb des Wachstums ein gesunder, nach oben gehender sei, da könnten die rauen Lüfte und Stürme, Hitze wie Ungewitter das Gedeihen der Früchte nicht hindern: ich wolle dieses durch ein Beispiel aus dem Leben erläutern.

*) So finde ich es wenigstens in meinen etwas spätgemachten, schriftlichen Aufzeichnungen.

Ich erzählte hierauf, freilich viel ausführlicher als ich hier im Umrisse es andeuten kann, die bekannte Geschichte der Churfürstin Anna von Sachsen, der Gemahlin August I., welche dem Lande, dahin Gott sie von 1548 bis 1585 als Fürstin gesetzt hatte, so zum Segen geworden ist, wie dies nur selten eine Fürstin war. Sie heißt im Munde des Volkes, so wie in der Geschichte die „Mutter Anna“, denn sie hat sich nicht nur an den eigenen Kindern und in ihrem eigenen Haushalte, sondern an allen Untertanen und in dem Haushalte des ganzen Landes als eine Hausmutter von unvergleichlicher Treue, Einsicht und ernster, frommer Gesinnung erwiesen. „Sie ist hierdurch ihrer Zeit, so wie der späteren Nachwelt ein Musterbild, ein Glücksstern geworden, dessen Licht weit umher geleuchtet hat und in ihren nachgelassenen Werken noch jetzt fortleuchtet. Denn wer hat die ersten großen Meiereien in Sachsen, mit ihrem Feldbau, ihren Gärten voll nutzbaren Obstbäumen angelegt, die wohleingerichteten Ställe für zahlreiche Kühe erbauen lassen, den Gewerbfleiß des Volkes so aufgemuntert und geweckt, als die Mutter Anna? Wer sehen will, was der eigene Fleiß ihrer Hände gewirkt und geschaffen hat, der lasse sich in Dresden im Gewandhause die Kleidungen und zierlichen Sachen zeigen, welche die Churfürstin Anna für sich und ihre Kinder so wie zur Verzierung der Zimmer und Tische gefertigt hat. Sie selbst fand ihre Lust am Fortgange der guten Einrichtungen, die unter ihrer Leitung für Gärten und Feldbau, so wie für die Viehzucht getroffen waren, und wie sie bei all' ihrem Tun überall zunächst auf den Nutzen und Dienst des Nächsten gesehen hat, so ist dies auch von ihr in dem großen Laboratorium geschehen, das sie sich zu Annaburg erbauen ließ. Denn während ihr Gemahl, nach dem damals herrschenden Geschmacke der hohen Herren zu seinem Vergnügen die Alchymie, als leidige Kunst des Goldmachens und die Entdeckung anderer geheimer Kräfte, betrieb, ließ die Mutter Anna in ihrem Laboratorium, das sie oft besuchte, Arzneien, zunächst für arme Kranke fertigen; Arzneien, die sich durch ihre Wirkung bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts in Ansehen und Gebrauch erhalten haben.“ „Mehr noch als die Leute es erfuhren, hat diese Fürstin im Stillen und Verborgenen getan, hat sich an ihrem Gemahl einen aufmerksamen und eifrigen Teilnehmer bei all' ihren Bemühungen zum Besten des Landes gewonnen und erzogen, ihre Ausgaben für all' ihr wohltätiges Wirken aus Dem bestritten, was sie in ihrer großen Landwirtschaft erworben und erspart hatte. Es ist ihr niemals um ein äußeres Aufsehen und Glänzen zu tun gewesen; sie und ihre Kinder sind einfach und säuberlich einhergegangen, haben sich nur bei besonderer Gelegenheit in einen, dem Fürstenschatze gehörigen Schmucke gezeigt. Sie war frühe in den Kreis der damaligen, vornehmsten Bildung eingeführt worden, hatte als Prinzessin von Dänemark; als Tochter König Christians III. gar Vieles von der Weisheit der Welt und ihren Streitigkeiten vernommen; hatte sich namentlich in dem Gebiete der Theologie, das sie vor Allem anzog, große und tiefgehende Einsichten erworben; machte aber gegen Andere nicht viel Wesens davon, sondern nahm aus diesem Vorrate, den sie in ihr Herz und in ihren Verstand gesammelt hatte, nur so viel heraus, als sie für sich selber, zur Stärkung und Befestigung ihres Glaubens und zu ihrem Troste und Frieden bedurfte. Denn sie brauchte nicht aus den Brunnen der menschlichen Erkenntnis und Belehrung zu schöpfen, sie kannte den Quell des lebendigen Wassers selber, in Gottes teuer wertem Worte, mit diesem hat sie ihr inneres Leben erhalten und gestärkt, bis das äußere ganz von ihm verschlungen war.“

„Nun, man kann wohl sagen, die Mutter Anna von Sachsen ist selber ein Samenkorn in gutem Boden gewesen, das hundertfältig getragen und eine Aussaat über viele Acker der Menschenwelt hinterlassen hat, welche zum Teil dreißig-, zum Teil sechszigfältig getragen hat. Und durch welche Kraft ist jenes Samenkorn Das geworden, was es war, und hat solche Aussaaten hinterlassen? — Durch die Kraft der Sonne, das heißt durch die Furcht vor Gott und die Liebe zu Ihm und durch den Tau des frischen Wassers, der vom Himmel kam, das heißt durch den steten Umgang mit Gottes Wort. Als das Korn durch diese Strahlen, durch diesen belebenden Tau von oben, einmal aufgeschlossen und zur Ähre erstarkt war, da hat ihm weder Hitze noch Frost noch Sturm und Gewitter etwas schaden können. Und dergleichen Trübsale und Heimsuchungen sind oft über diese gute Fürstin gekommen, schon in ihrem Vaterlande Dänemark, das damals ein Land des Unfriedens und der inneren Zerrüttungen war, dann auch noch in den späteren Jahren, als sie von den 15 Kindern, die sie geboren, 11 dem Tode entgegenwelken und vor ihr ins Grab sinken sah und auch sonst noch Manches sehen musste, das ihrem Herzen wehe tat. Aber wenn sie so in der Hitze ihrer Heimsuchungen saß und sich dann recht kindlich herzlich an ihren Gott wendete, da war es immer, als ob ein erfrischender Windhauch sie anwehte und stärkte und in dem freudigen Gefühle eines solchen Lebenshauches, der aus der seligen Ewigkeit herüberkam, ist sie auch an ihrem Ende hinübergegangen zu Dem, bei welchem ihre lieben, seligen Kinder waren: zu Jesu, dem Geliebten.“ — „Ich meine, man könne wohl das Leben und Wirken dieser Anna allen jungen Fürstinnen als ein Lebensbild vor Augen stellen, daran sie erkennen sollten, was der Mühe, nicht nur des Lernens, sondern des Lebens überhaupt wert sei und zugleich die Kunst, die Blüten guter Art, die Gott ihnen an ihren Zweigen hat hervorbrechen, oder die edlen Samenkörner, die der Herr in ihren Boden gestreut hat, der Zeitigung zu guten, reifen Früchten entgegen zu führen. Diese Kunst besteht darin, dass man sein Herz, in welchem die geistige Aussaat wurzelt, den Strahlen der göttlichen Lebenssonne, welche Christus der Herr ist, auftut und den Tau der göttlichen Verheißungen recht fleißig auf sein Feld fallen lässt. Der äußere Glanz vor den Leuten ist nur ein Kerzenlicht im dunklen Saale, dessen Strahlen keine Blüten zur Frucht reifen können; die Ehre und der Beifall der Welt eine dumpfig warme Gewächshausluft, in welcher der Granatbaum seine gefüllten Blüten zwar entfaltet, bald aber wie eine Maske abwirft.“

„Es ist gut, wenn wir keine Masken werden, sondern mit treuem, wahrhaftigem Angesichte zu Gott und seiner Gnade aufblicken, durch welche wir leben, und wenn wir in der Liebe zu Gott und seinen Menschen, so wie in der Furcht vor Ihm unsere Seligkeit schaffen.“

Ich erinnere mich freilich, obgleich solche Dinge in meinen schriftlichen Aufzeichnungen nicht vorkommen, weil diese den Gedankenlauf nur wie aus der Ferne begleiteten, dass ich in die Geschichte der Mutter Anna, als ich sie der jungen, heiteren Prinzessin erzählte, „um des Effektes willen“ manche volkstümliche Züge einmischte, die ich zu meiner Zeit, namentlich in Freiberg von meinem alten Viertelsmeister Zimmermann oft vernommen hatte, und ich würde das jetzt in meinen alten Tagen nicht mehr tun, wo die Gesinnung über das zum Scherz geneigte Naturell — der Herr über den Reitknecht — mehr Gewalt und Ansehen gewonnen hat. Doch darf ich sagen, dass ich in meinem ganzen dreijährigen Unterrichte der mir innig teuren, für alles Gute und Bleibende sehr empfänglichen Fürstin über: Geschichte, Länder- und Altertumskunde, Naturwissenschaft, so wie bei den Mitteilungen aus der vaterländischen wie ausländischen, alten wie neuen Literatur und dergleichen Dingen mehr, immer Das vor Augen behalten habe, was von allem Wissen, von aller Kunst, die wir auf Erden lernen können, das Beste, ja das einzig Gute ist. Und die Seele, zu der ich so sprach, hat mich verstanden und hat, wie ein alter Chronikenschreiber von dem guten sächsischen Kaiser Heinrich dem Ersten sagt, nach der rechten Hand gegriffen, und was sie ergriffen hatte, festgehalten: als treue Mutter ihres Hauses und Landes, in Freude und in Leid.

Ein Kind von solch' geistiger Lebendigkeit und zugleich von so leicht und tief erregbarem Gemüte, wie der vierjährige Prinz Albrecht, war mir noch niemals vorgekommen. Ich sprach schon davon, mit welcher Liebe sich dieser kleine Prinz an mich anschloss, und weil dieser Zug ein gegenseitiger war, mochte ich keinen Tag sein und bleiben, ohne ihn zu scheu und etliche Stunden bei und mit ihm zuzubringen. Wem hätte es auch nicht herzlich wohl werden sollen in der Nähe dieses Kindes. Ein klarer munterer Quell, der freilich nie zum Flusse werden sollte, sondern schon als Bach versiegte, der aber bereits bei seinem Entspringen voll von anziehendem Reize war; denn er kam aus tiefem Felsengrunde und auf ihm spiegelte sich ein Schein des Morgenrotes, das den nahenden Tag verkündete. Der Prinz war gerne mit mir im Freien, und wie mir schien, hatte er mich lieber allein, als in Gesellschaft der Dame, welche die verständige und sorgfältige Pflegerin seiner ersten Kinderjahre gewesen war, deren Wesen aber dem seinigen eben so wenig als dem meinigen innerlich nahe verwandt war. Er hatte gegen diese ein Geheimnis, das als herrschender Gedanke, als vorwaltendes Gefühl im Wachen wie im Traume sein kindliches Herz erfüllte; es drängte ihn, mir dieses Geheimnis mitzuteilen. Gleich an einem der ersten Tage, an welchem ich, so wie der Arzt es empfahl, mit ihm im Freien spazieren ging, führte er mich in den sogenannten Prinzengarten, der seitwärts vom Park eine eigene, reichhaltige Anlage bildet. Er ließ mir hier keine Zeit, mich unter den zum Teil in schönster Blüte stehenden auserlesenen Blumen und Gesträuchen umzusehen, sondern zog mich mit seiner kleinen Hand unaufhaltsam fort nach einem schönen Gebäude, von der ernsten, edlen Form der alten Begräbnishallen, das im Schatten hoher Bäume dastand. Eine hohe Treppe von architektonisch schönem Gesteine führte zum Eingange, dessen Türe geöffnet stand, denn es war eben jene Zeit, in welcher Caroline v. Bose, die treue Freundin der neulich hingeschiedenen teuren Fürstin, hier gern mit ihrem Schmerze allein war. Ich trat mit meinem kleinen Begleiter leise hinein; wir störten die Stille nicht, die da drinnen bei den beiden Särgen herrschte; der kleine Prinz stand aber so unbeweglich da, als könnte er sich von dem Anblicke nicht losmachen, er zog mich zu sich herunter, und sagte mir leise ins Ohr: „dort in dem Sarge, wo die Fräulein Bose kniet, liegt meine Mama“. Er sah, dass die Freundin am Sarge sich die Tränen trocknete, bemerkte wohl auch an mir die Zeichen einer gleichen Rührung, da konnte er die eigene schmerzliche Bewegung nicht mehr zurückhalten, er nahm meine Hand, zog mich wieder hinaus ins Freie, und hier erst, als hätte er da drinnen die Ruhe eines Schlafenden oder die heilige Stille eines geweihten Ortes nicht unterbrechen wollen, tat sich das verborgene Innere seines kindlich liebenden Herzens auf, wie eine Knospe, die beim Öffnen der Blüte ihren Duft gibt.

Ich war jetzt der Vertraute seines Geheimnisses geworden: jener Welt der Phantasien und Gedankenbilder, in welcher er seit dem Tode der Mutter, die mit diesem Kinde Ein Herz und Eine Seele gewesen war, im Stillen immer gelebt hatte. Für mich hatten die sorglichen Bedenklichkeiten des Arztes, dass man dem zarten Kinde es nicht verstatten solle, dem Gedanken an den Tod seiner Mutter so nachzuhängen, keine solche bindende Kraft wie für die Pflegerin und für andere Personen seiner nächsten Umgebung. So ging ich ihm denn gerne nach in die Welt, die sich sein Geist aus eine an einem so jungen Kinde allerdings überraschende Weise gebildet hatte, aus dem Gedanken an das Entschlafen des Leibes im Tode, an die schauerliche Stille der Gruft, an das Paradies, in das die Seele sich erhebt und wo sie unter den weidenden Lämmern und den um sie spielenden, jungen Rehen im Schatten hoher Bäume wandelt und in einem Palaste mit goldenem Dache wohnt. Pflegt man doch oft zu sagen, wenn kleine unschuldige Kinder im Traume lächeln: es spielen die Engel mit ihnen, aus deren nahem Umgange ihre Seele gekommen ist und mit welchen sie noch jetzt in nahem Verkehre stehen. In der Tat, der Kreis der Vorstellungen, in welchen mein junger Freund mich einführte, glich jenen, die man sich wohl von den Bleibstätten der abgeschiedenen Seelen unschuldiger Kinder machen könnte, obgleich an manchen Zügen der Einfluss unverkennbar war, den das Gespräch der Erwachsenen über den Tod und den Himmel, ja selbst die lieblichen Mährchen, auf ihr Entstehen gehabt hatten, die das Kind aus dem Munde seiner Mutter vernommen hatte.

Der Prinz führte mich jetzt öfters zu dem Hause, darin die Stille des Grabes wohnte, niemals aber, so weit ich mich erinnern kann, wieder in das Innere desselben, zu den Särgen hinein, bei denen, was kein Menschenherz ahnden konnte, schon nach drei Jahren auch der Sarg seines Vaters hingestellt werden und in deren Nähe nach einer kurzen, schnell verlaufenen Jugendzeit auch er selber die Ruhestätte finden sollte für den von langen, heißen Schmerzen ermüdeten Leib. Ich konnte aber von jener ersten Stunde im Prinzengarten und in der Familiengruft auf lange Zeit hin es voraus wissen, welche Fragen und Antworten, sowie gegenseitige Mitteilungen den Inhalt unserer meisten Gespräche bilden würden, sobald wir allein waren. Denn im Beisein Anderer ließ das merkwürdige Kind von unserem, von ihm selbst so genannten „Geheimnis;“ niemals etwas verlauten, sondern da trat sein munteres, zum Scherz, ja zum Mutwillen geneigtes Naturell, so unverhalten hervor, dass es zuweilen kaum zu bändigen schien.

Mir ist dieser öftere, schnelle Wechsel der ganz entgegengesetzten Stimmungen an einem Kinde von diesem Alter eben so merkwürdig, als für die Erkenntnis des Menschenherzens beachtenswert vorgekommen, denn die Gegensätze traten in so augenfälliger Weise und so ohne allen Übergang bei ihm hervor, dass ich manchmal kaum begreifen konnte, dass es dasselbe Kind sei, welches ich dort im Prinzengarten und dann wieder im Schlosse oder auch neben mir, auf demselben einsamen Spaziergange, so munter sich gebärden und scherzen sah. Allerdings war das ein Vorauseilen des Geistes über die natürlichen Grenzen seines Alters und seines leiblich gesunden Zustandes, dass mein kleiner Freund so gar gerne vom Tode und von dem Leben der Seelen nach dem Tode sprach und so viel darüber fragte und forschte, ja dass er auch die möglichst einfachen Antworten auf seine Fragen, die ich ihm gab, so leicht erfasste und verstand; auch wurden seine Gespräche über diesen Gegenstand, so wie der tiefe Eindruck, den der Tod der Mutter auf ihn gemacht hatte, sich schwächte, immer seltener; dennoch verriet sich noch immer auf andere Weise seine Neigung zu einem Ernste, welcher tiefer war, als man sonst bei gesunden, munteren, in äußerem Glücke lebenden Kindern ihn findet. Er hörte mit ganz besonderem Wohlgefallen biblische Geschichten, von denen ihm schon seine fürstliche Mutter manche erzählt hatte; das gewöhnliche Spielwerk der Kinder seines Alters von Blei oder Holz, oder von was sonst für Art, gewährte ihm keine genügende Unterhaltung, ich kann mich nicht erinnern, dass er, wenn nicht vielleicht andere Kindergesellschaft bei ihm war, sie jemals in die Hand genommen habe, dagegen erfand er sich, wenn ich mit ihm im Freien war, andere Spielzeuge, die er aus ihrem unbedeutenden Nichts zu einem Etwas sich gestaltete, in das er mit einer seltenen Macht der kindlichen Phantasie eine Bedeutung legte und ein Leben hineinbrachte, an dem er sich vergnügte. Die dürren Zweige eines alten Baumes, die der Sturm abgebrochen, wurden in seiner geschäftigen Einbildungskraft Pferde und Reisewägen, er setzte sie in Bewegung nach irgend einem fernen Lande, oder die auf den Kanal geworfenen Baumrinden nach einer fernen Insel und ich musste ihm dann beschreiben, wie es in dem Lande, auf der Insel aussähe, was für Leute dort wohnten und allerhand gefahrvolle Abenteuer oder angenehme Ereignisse dazu erdichten, welche den Reisenden, die zuletzt wir selber waren, dort zustießen. Geschichten habe ich ihm auch gar viele erzählen müssen, ohngefähr in der Weise, wie ich dergleichen später in meinen Mährchen für Kinder niedergeschrieben habe, unter denen ihm solche, wie das letzte in jenem Büchlein: „Die Taube und die Henne“ (2. Aufl. S. 170) die liebsten waren. Zuweilen hörte diesen Erzählungen auch seine Schwester, die kleine Prinzessin Helene, mit ihren ernsten, aufmerksamen Blicken zu, und die muntere Stimmung meines kleinen Schülers, der, wenn wir vorher die Vorübungen im Lesen und Lernen eifrig getrieben, auch in anderer Art unterhalten sein wollte, hatte für mich eine so ansteckende Kraft, dass ich gar oft mit dem Kinde zu einem Kinde wurde, das jene Grenzen vergaß, welche sein männliches Alter und seine Stellung ihm anwiesen. Ich musste hierbei schon damals und muss es jetzt noch viel mehr mit Beschämung erkennen, wie sehr ich geneigt sei, in jenen Wechsel und Widerspruch der Stimmungen zu geraten, welcher an mir nicht so harmlos und verzeihlich war, als an dem vierjährigen Kinde. Dies im Allgemeinen über meine Wirksamkeit als Lehrer der so reichbegabten fürstlichen Kinder am Mecklenburger Hofe; eine Wirksamkeit, die neben dem guten Willen, an welchem es ihr nicht fehlte, voller Verirrungen und Mängel war, die wohl kein Anderer so erkennen konnte, als ich sie jetzt erkenne.