Doberan und das Meer

„Mecklenburg ist dennoch ein schönes Land, reich an Reizen der Natur, die das Auge vergnügen und das Herz erheben.“ In diesen Ausspruch würde wohl Jeder einstimmen, der vielleicht durch eine längere Beschränkung seines Aufenthaltes in der Umgegend von Ludwigslust, zu ungünstigem Vorurteile geneigt, einmal hinauskäme an das grünende Hügelbette der vielen Landseen, vor Allem aber an die Küste des Meeres. Das edle, werte Schwesterpaar aus der Schweiz, welches, wie ich vorhin (S. 45 und 47) sagte, den beiden Prinzessinnen zum großen Segen beigesellt war, hatte, von der erhaben schönen Heimat am Genfersee herkommend, in dem Flachlande von Ludwigslust an schmerzlichem Heimweh gelitten; dieses aber wich alsbald bei dem Anblicke und in der Nähe des Meeres; den Herzen wurde es da so frisch und freudig wohl zu Mute, wie in der Heimat der Hochalpen. Ich werde nachher von Dem reden, was in beiden: in dem Anblicke der Hochalpen und des Meeres den gleichen, mächtigen Eindruck auf die Seele begründet; hier beschreibe ich vorerst nur ein anmutiges Hügelland, welches mir wie eine liebliche Vorhalle erschien zu dem Naturtempel des Meeres und der Gebirge, durch jene Züge, in welchen es, gleich einem wohlgelungenen Miniaturbilde, eine bergige Landschaft und zugleich einen Meeresgrund darstellen kann, der zur Zeit der Ebbe vom Gewässer verlassen ist.

Es war in jener Zeit des späteren Sommers, in welcher der Wind schon über die Stoppeln der Saatfelder weht, als ich, im Jahr 1816 zum ersten Male, nach Doberan und an die Küste der Ostsee kam. Jenes Jahr, das sich in den südlicher gelegenen Binnenländern durch sein fast unaufhörliches Regenwetter dem Gedeihen und Reifen der Saaten und Früchte so nachteilig erwiesen hatte, war dieses für die nördlich gelegenen Küstenebenen von Deutschland keinesweges so gewesen. Diese wurden damals zwar auch, öfter als in anderen Sommern, vom Regenwetter heimgesucht, doch war dieses nicht so anhaltend, als anderwärts; es wechselte öfters mit sonnenhellen, warmen Tagen. Schien es doch, als ob der mächtige Strom der wässerigen, atmosphärischen Niederschläge, welcher die südlicheren Landstriche überflutete, die nördlicheren Ebenen nur mit seinem Rande benetzt hätte, denn hier hatte das Land sein Gewächs in reicher Fülle gegeben, und zur Reife gezeitigt; die Ernte war eine sehr ergiebige, und bei dem hohen Preise, um welchen das Getreide nach auswärts verkauft wurde, für die Feldbesitzer sehr einträgliche, der Wohlstand des Landes hierdurch ein gemeinsamer für alle seine Bewohner geworden. Wenn wir deshalb in den Briefen unserer Verwandten und Freunde in Sachsen und in Bayern eine Schilderung der großen Not und der Teuerung lasen, die bei ihnen, namentlich auf dem ärmeren Volke, lastete, da kam es uns vor, als ob wir, im Vergleich mit ihnen, in einem Lande Gosen wohnten, wo Alles in Überfluss oder doch zur Genüge zu finden war.


Auch unser Aufenthalt in Doberan, unsere spätere kleine Reise nach Pommern und auf die Insel Rügen, waren fast immer von mildem, gutem Wetter begünstigt, und deshalb ist der erste Eindruck, den die Natur jener Gegenden in meiner Erinnerung zurückließ, ein so ungetrübter und heiterer geworden.

Ich hatte die Reise in Begleitung der Herrschaften gemacht; wir kamen ziemlich spät am Abend nach Doberan. Hier aber ließ ich mir in der ersten Nacht nur wenig Zeit zur Ruhe; ich war früher auf als der Tag; ich hatte noch niemals das Meer gesehen, und wollte gerne den ersten Anblick desselben für mich allein, ganz ungestört genießen. Die Straße, welche hinaus zu dem Seebade und zu dem Meere führte, war selbst in der Dämmerung nicht zu verfehlen, zuerst die vereinzelten Bäume an ihrer Seite, dann das Gehölz zu ihrer Rechten, dienten dem Fremdling in der Gegend zu Wegweisern, hinein in den Hochwald, der wie ein Tor, das der Wächter so frühe noch nicht aufgetan, die Aussicht nach der Küste verschloss. Da wird Plötzlich das Tor geöffnet, man tritt aus dem Walde hinaus ins Freie. Ich war den Weg nicht, wie beim gewöhnlichen Schritte, in anderthalb Stunden gegangen, sondern hatte ihn vielleicht in der Hälfte dieser Zeit durchlaufen; im Walde war es so schwül, hier außen wehrte mir ein kühler Hauch vom Meere her eine noch nie gefühlte Erfrischung zu. Ein leichter Anflug von Morgenröte stieg an dem Gewölke in Osten heran, ich stand auf dem heiligen Damme, mit dessen rollendem Gestein die Brandung spielte. Ein kräftiger Wind führte die Wogen, in lange Reihen geordnet, ans Ufer heran; ehe noch die eine Reihe sich zerschlagen, da folgte ihr schon die andere; und wer konnte diese Heerschar der gegen das Festland herankämpfenden Wellen zählen, in deren Zuge, so weit der Blick des Auges reichte, nirgends ein Anfang noch ein Ende zu finden war. Rings um mich her ward kein anderer Laut gehört, als die Töne eines Liedes der Schöpfung, welche das wogende Meer auf dem Spiegel seines Gewässers, und am Gestein der Küste anschlug; gleich Myriaden der emporgehobenen Hände regten sich die hügeligen Ränder der Wellen, glänzend als Sterne, im Lichte der aufgehenden Sonne. Ich konnte des Anhörens der majestätisch einfachen Tonweise einer solchen gewaltigen Äolsharfe nicht satt werden, es war mir, als wiederholte sich in dem Liede immer nur dasselbe Wort, dessen tiefere Gedanken der erschaffene Geist in Ewigkeit nicht ausdenkt. Wie ein Träumender, im festen, süßen Morgenschlafe, der von keinem Geräusche auf der Gasse gestört wird, bemerkte ich lange nicht, dass drinnen im Badehause und in seinen Nachbargebäuden die Geschäftigkeit einiger ihrer Bewohner erwacht, dass selbst einer der fremden Badegäste an meine Seite getreten war. Seine Anrede schreckte mich aus dem lieblich ernsten Nachsinnen auf; doch weiß ich nicht mehr, was ich, oder was er gesprochen.

Was ist es, das in den Anblick der großen Wasser eine Kraft legt, welche nicht den leiblichen Sinn, der an das Sehen des Wassers gewohnt ist, sondern die Seele und den Geist des Menschen so mächtig bewegt und dahin nimmt? Ist es die anregende Kraft jenes Geistes selber, der über den Wassern schwebte, ehe noch der Erdboden an die Meere begründet und an die Wasser bereitet war?

Ein lebendiger Atem, welcher durch die Welt des Irdischen und Endlichen geht, ist es, der auch unserem Leibe seinen Atem und sein Leben gibt; der Geist aber lebt von dem Anhauche eines andern Odems, welcher nicht von endlicher Natur ist. Wie der Leib erfrischt und bekräftigt wird, wenn der kühlende Wind ihn anweht, der über das Meer kam, so fühlt sich der Geist, hier an dem Gewässer, dessen Grenze und Ende sein leibliches Auge nicht sieht, angerührt von der belebenden Kraft eines Elementes, zu dessen Inwohner er, wie der Leib für das Reich der Luft, gemacht und bereitet ist. Es ist die Regung des künftigen Adlers in dem ihn noch umschließenden Ei; sie wird einst zum Aufschwunge über die Wolken werden.

Mitten im dunklen Gefühle der Seele erwacht der Gedanke: der geistige Blick in ein Sein, das ohne Ende ist; der Gedanke der Ewigkeit. Wie der rankende Epheu am Gemäuer des Turmes oder an der hohen, uralten Felswand, so erhebt sich der Geist an dem Anschauen des Mächtigen, das über das Maß seiner Leiblichkeit hoch und unabreichbar weit hinausgeht; denn sein eigentliches Heim ist nicht in dem Leib aus Erde gemacht, den das arme, enge Gehäuse eines Sarges umschließt.

Der unkundige Bewohner des inneren Festlandes von Afrika, der zum ersten Male an das Ufer des Weltmeeres tritt, kann den Gedanken nicht fassen, dass auch dieses große Gewässer seine Schranken und Grenzen habe; endlos, wie uns die Lichtwelt des nächtlichen Himmels, scheint ihm der Ozean. Und doch weiß der Schiffer, dass das Meer, wie alles irdisch Geschaffene, an einem nahen oder fernen Festlande sein Ende und seine Grenzen finde, an denen es aufhört, ein flutendes Meer zu sein. Endloser noch und unermessbarer als das Meer erscheint unseren Sinnen der Luftkreis, welcher das Meer und die Erde in seinem Schoße trägt. Und dennoch hat auch dieser seine Grenzen in dem Äther des leiblichen Weltraumes, in welchem die Gestirne des Himmels gleich den Fischen im Meere ihren Weg der Bahnen durchlaufen. Nicht nur in unabreichbarer Höhe schwebt die Luft, in welcher die Vögel und die Tiere des Landes leben, über dem Meere, sondern sie dringt auch hinab bis zu dem abgelegensten Grunde des Gewässers und gibt dem Fische, der in der dunkelsten Tiefe wohnt, seinen Atem. Und in die Luft selber dringt, so wie diese in das Gewässer, die höhere Leiblichkeit des Äthers mit ihren Kräften herein, welche als Licht und elektromagnetische Anregung sich kund geben. Unser Auge sieht das Meer und all' seine schäumenden Wogen; schon die Luft entzieht sich seinen Blicken, der Äther wird den Sinnen nur bemerkbar durch das Wirken seiner Kräfte in dem irdischen Elemente. So ist zuletzt auch alles das Andere, was der leiblich endliche Sinn erfasst, von leiblich endlicher Natur wie er selber, über die Welt des Leiblichen aber und mitten in ihr, diese umfassend und alldurchdringend, besteht eine Welt des Geistigen oder Ewigen, welche allein ohne Grenzen, ohne Anfang und Ende ist.

Die Ostsee, wie ich vorhin sagte, war das erste Meer, das ich gesehen; ich bin aber später noch an manchem anderen Meere gestanden, habe das Gefühl, das mich bei dieser ersten Bekanntschaft mit dem gewaltigen Elemente ergriff, in noch höherem Maße als hier empfunden an der Nordsee wie am Mittelmeere, am schwarzen wie an dem mir unvergesslichen roten Meere. An der Ostsee ist keine Ebbe noch Flut bemerkbar, was schon der Nordsee einen ungemeinen Vorzug vor ihr gibt. Dennoch habe ich jene niemals so spiegelglatt und unbewegt gesehen, als das Wasser des Propontis, doch auch niemals so, fast ohne Aufhören in hohen Wogen gehend, als das schwarze Meer es ist. Während meines mehrmaligen, längeren Aufenthaltes in Doberan war ich täglich am Meere, habe dasselbe im Dunkel der Nacht wie in der Helle des Mittags gesehen, doch erst später in Nizza hatte ich das Glück, etliche Wochen, am roten Meere manche Tage und Nächte in unmittelbarer Nähe an seinem Wogenschlage zu wohnen und zu bivouakieren. In der Tat, dem Eingeborenen und Bewohner einer Meeresküste, und sei es die von Lappland, mag die Anwandlung des Heimwehes eben so nahe liegen, wenn er in ein Binnenland versetzt wird, als dem Schweizer, der in das Flachland des nördlichen Deutschlands kommt.

Unmittelbar an der Küstenebene, selbst auf dem heiligen Damme, ist die Fernsicht über den Meeresspiegel eine beschränkte *), doch hat man von dem Seebade, gegen Westen hin, nicht weit zu dem Dietrichshager Berge, welcher, obgleich nur ein Zwerg gegen den Brocken, dennoch fast siebzehn Mal höher ist, als die 30 Fuß hohe Terrasse am Badehause, und auf welchem sich die Fernsicht schon bis über 6 Meilen erweitert. Und allerdings wächst mit solcher Ausdehnung der Aussicht auch der Genuss an derselben, so dass ich jedem Reisenden aus unserem Vaterlande es wünschen möchte, dass er den ersten Eindruck des Meeres auf den Höhen bei Genua oder nordwärts von Triest empfangen möchte, ja noch mehr, wie dies mir zu Teil geworden, auf einer Bergzinne des Libanon.

*) Auf einer ganz ebenen Fläche am Ufer kann ein aufrecht stehender Mensch kaum eine Meile weit über das Meer hinschauen.

Ein tierisches Gewimmel, das ich bis dahin nur aus Beschreibungen und Abbildungen gekannt, in der Natur noch niemals gesehen hatte, zog schon in den ersten Tagen meines Aufenthaltes an der Küste des Meeres meine Aufmerksamkeit an sich. Dies waren die Scheibenquallen oder Medusen, dergleichen ich, so viel ich mich erinnern kann, kaum an einem anderen Meeresufer so viele beisammen gesehen, als dort an dem der Ostsee, wo sie schon den Seefahrern des Altertums eine auffallende, unheimliche Erscheinung waren. Gleich wie ein aus geronnenem Meeresschaume gebildeter Scheinleib, der, wenn die Woge ihn auf den Strand wirft, alsbald wieder in Schaum zerfließt, tritt die Qualle unter den anderen lebendigen Wesen der Sichtbarkeit auf und nimmt dennoch, so unförmlich dem Auge ihre breitgedrückte Scheibe vorkommen mag, welche gleich unreinem Glase durchscheinend ist für das Licht, durch ihren nach außen wie nach innen symmetrisch gegliederten Bau ihre mitbürgerliche Stelle unter den anderen Tieren des Meeres ein. Doch ich hoffe noch öfter in der Geschichte meiner Wanderungen an das Meer und zu Dem, was in ihm ist, zu kommen, darum verlasse ich dasselbe hier und kehre zu den Wohnstätten und dem geselligen Treiben der Menschen zurück.

Ein Denkmal aus jener Zeit, da über das im Dunkel liegende Land die Sonne des neuen geistigen Lebens aufging, ist die Kirche von Doberan. Diese darf sich zwar nicht wie einige der selbst noch in ihren Resten ehrwürdigen Christentempel im südlichen und westlichen Deutschland eines mehr denn tausendjährigen Alters rühmen; man sieht es ihrem schönen, altgotischen Gebäude an, dass es in einer Zeit entstanden, darin die Sonne, in deren Lichte Alles neu wird, in Süden und Westen schon hoch stand, während in dem Jahre, da man hier, im alten Heidenlande, die Grundsteine zum Bau der Kirche und ihres Klosters legte (1186), die Trümmer des nachbarlichen von den Wenden zerstörten Klosters, und die Gräber der von ihnen ermordeten Mönche noch frisch waren. Aber der Bau wuchs schnell, durch fürstliche Freigebigkeit gefördert, zu seiner Vollendung auf, während in der gleichen Zeit die hehren Domkirchen von Straßburg, Cöln, Freiburg im Breisgau u. a. m, gleich hochstämmigen, langsamer wachsenden Eichen noch im Bau standen. Die Kirche von Doberan steht seit 1232 in ihrem Ausbau da, ist mithin nur um 24 Jahre jünger als der Dom zu Magdeburg, fast gleichaltrig mit dem zu Marburg. Ich habe mich oft schon an dem äußeren Anblicke dieser ehrwürdigen Siegeshalle des Christenglaubens erfreut, in ihrem Inneren aber weniger an der Predigt, welche ich da hörte, als an dem Kirchengesange guter, alter Lieder erbaut. Den Eindruck, den das Gebäude im Ganzen auf mich machte, konnten die bekannten Grabschriften in einigen der Seitenhallen nicht stören, deren Humor, wenn auch nicht ganz ortsgemäß, dennoch zum Teil ein sehr naiver und harmloser ist*).

*) Die eine am Grabsteine einer alten Befreundeten des Klosters heißt, so viel ich mich noch erinnere, ins Hochdeutsche übersetzt:

Hier liegt die alte Ahle Pott,
Genad' ihr, lieber Herre Gott,
Als sie dir wollt genaden,
Wenn du wärst alte Ahle Pott
Und sie wär' lieber Herre Gott.

Eine andere Grabschrift gilt dem Koch des Klosters, sie heißt:

Hier liegt der Peter Klare,
Er kochte niemals gare.
Dazu gar unflätig,
Gott sei seiner Seele gnädig.


Ich verglich vorhin die Natur der Umgegend von Doberan mit einer kleinen Vorhalle zu den mächtigen Naturtempeln einer Gebirgsgegend und des Meeres, darin sich, wie in einem Miniaturbilde, Züge der Ähnlichkeit mit beiden finden. Denn wenn man den ebenen Boden näher betrachtet, findet man in ihm die zerstückten Reste von solchen Schalentieren, findet denselben Sand und Grus, der noch jetzt den Boden des benachbarten Meeres bildet, und die Hügel umher: der Jungfernberg, der Stahlbadberg und selbst der zierliche Buchenberg stellen nach ihrem verkleinerten Maßstabe die Umrisse einer Gebirgsgegend dar. Denkt doch Keines von uns in einer schönen, milden Mondscheinnacht daran, dass das Licht des Vollmondes um 800.000 mal schwächer ist, als das der Sonne; wir freuen uns an seiner lieblichen Helle wie an der des Tages. In ähnlicher Weise vergnügt sich das Auge, wenn es durch die Einförmigkeit eines platten Flachlandes ermüdet war, an dem bescheidenen Abglanze eines Hochlandes. Ist es doch zuletzt nur das Licht selber, nicht das Maß desselben, was dem Auge, das aus dem Dunkel kommt, hier im Leben der diesseitigen, wie der jenseitigen Welt Freude gewährt und stilles Genügen.

Der Ruf, in welchem Doberan durch seine Kirche in den ersten Jahrhunderten nach seiner Begründung in geistiger Hinsicht gestanden, hat sich in neuerer Zeit, in leiblicher Form erneuert, seitdem im Jahre 1793 Friedrich Franz an der benachbarten Küste die Seebadeanstalt errichtete, welche in Deutschland die erste war, und in vieler Beziehung vor ihren jüngeren Schwestern die berühmteste geblieben ist. Während der eigentlichen Badezeit im Sommer ist der Andrang der Badegäste zunächst aus den höheren Ständen ein sehr großer und augenfälliger; die Herrschaften, sowie ihre Begleitung und Dienerschaft, die Menge der Anderen, welche durch ihre Künste und Gewerbe das Bedürfnis des geselligen Vergnügens oder ihre eigene Lust an diesem Vergnügen befriedigen wollen, bringen dann in den kleinen, während des Winters so vereinsamten Ort ein reges, buntes Leben hinein, welches für den stillen Zuschauer nicht ohne hohes Interesse ist. Unter all' den Badegästen oder Besuchenden, welche ich bei meinem mehrmaligen Aufenthalte in Doberan gesehen, ist mir der alte Held Blücher der anziehendste und bedeutsamste gewesen. Er stand damals in dem ehrenvollen Alter von 74 Jahren, nicht als ein Greis, sondern als ein Mann seiner Zeit. Ich ging ihm oft zu Gefallen, nur um ihn, den rechtschaffenen Deutschen, mit ehrerbietigem Wohlgefallen zu betrachten. Ich sah ihn bald allein mit so ungeniertem Benehmen, als sei er in einem Feldlager unter lauter Soldaten, bald in Gesellschaft seines alten Freundes, des Großherzogs Friedrich Franz, am Tage öfters auf der Straße gehen, noch öfter aber am Abende bei der Spielbank sitzen, wo er die Häuflein der Goldstücke, die bei ihm lagen, gehen und kommen sah, mit einer Ruhe, welche, mit der Furcht und all' ihren Bedenklichkeiten unbekannt, wohlvertraut aber mit der Hoffnung ist. „Sie haben,“ so sagte scherzend ein fremder Herr zu einem jungen preußischen Offizier, „in Ihren Kriegen manche Gefangene gemacht: Österreicher, Russen, Franzosen, Schweden und sonst noch Kriegsleute von allerhand Sorten; der Blücher aber ist doch unter all' ihren Gefangenen der tüchtigste gewesen.“ „Wie meinen Sie das?“ fragte der junge Herr. Ein älterer Landsmann von gleichem Stande nahm ihn bei Seite. „Sie scheinen sich,“ sagte er, „nicht an den Zug aus der Jugendgeschichte des alten Marschall Vorwärts zu erinnern, auf den sich die Anspielung bezieht. Blücher, da er als unbärtiger Jüngling in Gesellschaft seines Vaters, des Rittmeisters in hessischen Diensten, die Insel Rügen besucht, und dort ein schwedisches Husarenregiment gesehen hatte, ist von dem Anblicke der kräftigen Männer so ergriffen worden, dass er selber als Junker in den schwedischen Soldatendienst eintrat. Aber der junge Husar und das Regiment, in welchem er tapfer focht, wurde von einem Husarenregimente der Preußen überflügelt und besiegt, Blücher, anfangs als Gefangener, dann aus freier Neigung, trat in den Dienst der deutschen Husarenregimenter ein und ist darin geblieben. Denn es war dasselbe Regiment, das er in späterer Zeit in mancher siegreichen Schlacht zu Felde geführt hat.“

Man durfte es für ein besonderes Glück halten, den Blücher, nicht wie er in der Mitte seines Lebens war, sondern als Greis zu sehen. Er war eine jener Menschennaturen, welche erst in der Zeit, wo das Haar zu ergrauen anfängt, den Gipfel ihrer Tatkraft erreichen, so wie manche Früchte unserer Bäume erst spät nach der Zeit der gewöhnlichen Kernreife des Obstes, wenn andere Äpfel schon längst faul sind, zu ihrem vollen Wohlgeschmacke gelangen. Der alte Marschall Vorwärts ist bis über die Mitte seines Lebens gar scharf auf das „Haltstille“, und sogar auf das „Rückwärts“ exerziert und kommandiert worden. Man weiß ja, in welcher Weise ihn Friedrich der Große, den er freilich ein wenig kurz und derb um die wohlverdiente Beförderung zum Rittmeister gebeten, nicht nur noch kürzer und derber auf das „Stillhalten“ im Arreste, sondern auf das „Rückwärts“ der gänzlichen Entlassung aus seinem langen Lieutenantsdienste verwiesen hat. Nun, das Husarenpferd und der Ackergaul sind zwar beide von gleichem Tiergeschlechte, aber ein Mann, der, wie Blücher, an Leib und Seele für den Soldatenstand gemacht ist, wird sich schwerer in das Geschäft des Landwirtes finden, als ein kräftiges Husarenpferd in das Ziehen des Pfluges und des Heuwagens. Und gerade in jener Zeit des Lebens, wo die Leute in ihren besten Kräften stehen, musste Blücher, viele Jahre lang als Pommer'scher Landjunker, auf seinem Gute Großraddow sitzen, bis er von Friedrich Wilhelm II. wieder zu seinem vorigen Dienste berufen wurde. Er war schon in die fünfziger Jahre hineingerückt, da er an der Spitze seines Husarenregimentes mit den Franzosen am Rhein sich herumschlug. Schon damals ist Blüchers Name in Ehren genannt worden; erst als 70jähriger Greis ist er aber zu der eigentlichen Reife seiner Taten und seines Heldenruhmes gelangt. Nun, es ist immer besser, wenn uns das „Haltestill“ und das „Rückwärts“ auf dem Exerzierplatze des Lebens eingeübt wird, das „Vorwärts“ aber nachher kommt, als wenn wir in umgekehrter Weise mit dem Rückwärts nicht in den Lehrjahren, sondern erst im Felddienste unseres Lebens bekannt werden müssen.

Auch der preußische Minister, Fürst Hardenberg, besuchte mit seiner Gemahlin das Seebad von Doberan, und in ihrer Gesellschaft befand sich eine Somnambule, deren Hellsehen zu einem mehr als gewöhnlichen Grade gesteigert war. Ich selber musste es aus der Erfahrung, die ich an dieser Kranken gemacht, bezeugen, dass im Inneren der Menschennatur ein Sinn verborgen liege, welcher, wie der äußere Gehörsinn die gesprochenen Worte, so die noch ungesprochenen Gedanken einer anderen Seele zu vernehmen vermag. Dass aber jener verborgene Sinn eines künftigen, in unserer leiblichen Natur, wie im Mutterschoße verschlossenen Daseins schon so vorzeitig hervortritt, das gehört nicht zu dem gesunden Verlaufe, weder des leiblichen noch des geistigen Lebens. In der Begleitung des Fürsten war auch ein geistreicher, junger Arzt: Koreff, der später in Paris einen rühmlichen Wirkungskreis gefunden hat.

In Rostock, dahin mich mein freundlicher Herr, der Erbgroßherzog, führte, wurde es mir sehr heimatlich zu Mute; in Warnemünde, dahin ich die Prinzessin Marie begleitete, gefiel es mir sehr wohl. Zum ersten Male machte ich hier auch eine kleine Fahrt auf dem Meere.

Ich war in Doberan auch in meinem nächsten Berufe nicht untätig, und denke namentlich noch jetzt gern an den Genuss, welchen mir dort die älteste Geschichte der Deutschen bis zu dem Tode Karls des Großen, durch die eigene Freude an ihrem Vortrage und durch die Teilnahme meiner Zuhörerin gewährt hat. Zur Unterhaltung diente dann auch die alte deutsche Heldensage, so wie sie in den Werken der Dichter des Mittelalters sich abspiegelt. Mit meinem lieben Prinzen Albrecht machte ich, wenn wir am Nachmittag in dem Garten am Amthause beisammen waren, gar manche Wanderung der Phantasie und des Gedächtnisses über Land und Meer und über die Grenzen von beiden hinaus. Ich wünschte, ich hätte Das treu im Gedächtnisse behalten, was eines Tages, als der Sturmwind in ungewöhnlicher Stärke die Bäume bewegte, das merkwürdige Kind gegen mich äußerte. Wir erinnern uns öfter der Gefühle, welche irgend ein Gespräch oder etwas, das wir gelesen, in uns aufregte, die Worte aber, welche dies getan, sind uns aus dem Gedächtnisse entschwunden. Ich weiß nur noch, dass meine Freundin, die oben (S. 77) erwähnte Fräulein von Bose, deren ganzes Herz an dem Kinde hing, die damalige Stimmung desselben, welche eben so sehr eine ernste, als eine fröhliche war, dem Heimweh nach seiner verstorbenen Mutter zuschrieb, und dass sie mit der Weise, in der ich mich meinem kleinen Freunde hingab, sehr zufrieden war.

Ein besonderes Vergnügen gewährte mir um diese Zeit die Bekanntschaft mit einem jungen Genossen meiner Wissenschaft: mit dem damaligen Studenten und nachmaligen Professor in Rostock: Röper, dessen Eifer für die Pflanzenkunde, in deren Gebiet er später durch rühmliche Leistungen das Bürger- und Meisterrecht erworben hat, schon in früher Jugendzeit erwacht war. Wir freuten uns gemeinschaftlich an dem Reize der Pflanzenwelt, die uns hier in der Nähe der Meeresküste umgab, und durch seine treuen Schilderungen und Berichte wurde ich ungleich besser, als dies bei meinem kurzen Besuche in der altberühmten Stadt geschehen konnte, in die Bekanntschaft mit der Universität Rostock eingeführt. Was ich da hörte, gefiel mir wohl; das Verhältnis eines Lehrers zu dem kleineren Kreise von Zuhörern kann, wenn er will, ein so väterlich bildendes und erziehendes werden, als es dieses an einer größeren, zahlreich besuchten Universität nicht leicht sein mag. Und der günstige Boden ist von guter Natur; die aufkeimende Jugend von Mecklenburg verspricht einen reichen Ertrag zur Ernte.

Ich war dennoch, bei all' dem Guten und Neuen, das ich da gesehen und genossen, nur mit halbem Herzen in Doberan, so lange ich hier getrennt von meiner anderen Hälfte, von meiner Julie, sein musste. Diese aber kam und erst jetzt ward mir Doberan ein so vollkommen lieblicher Lustort, als er dies vielen Anderen war, und vielleicht noch in einem anderen Sinne, als diesen Vielen; denn Das, was unseres Herzens höchste Lust war, ist dieses nicht für Viele, sondern für Wenige.

Hier in Doberan fühlt sich mancher der besuchenden Gäste durch den Gebrauch der See- und Stahlbäder, so wie schon durch den Anhauch der Seeluft, gleichwie neu verjüngt. Ich, Gott Lob! bedurfte der Stahlbäder zu solcher Bekräftigung nicht, obgleich ich die mir neuen Gaben des Meeres dankbar und oft genoss. Es gibt aber Elemente von anderer Art, als das Wasser des Meeres und des Stahlbades sind, Elemente, welche mehr noch als die Wasser Amana und Pharphar zu Damaskus in verjüngender Kraft das Herz bewegen. Solche Elemente lagen für mich in dem Wiedersehen meiner beiden lieben Jugendfreunde: Mohnike und Arens (m. v. I. S. 392. II. 69 u. a.). Den Freund Mohnike besuchte ich selber in Stralsund, seinem damaligen Wohnorte, Arens aber kam ganz unversehens und unerwartet zu mir nach Doberan. Wir hatten uns seit meinem Aufenthalte in Altenburg nicht mehr gesehen; ich fand den Freund, dem leiblichen Aussehen nach, älter geworden, sein Herz aber, voll treuer, warmer Liebe, war unverändert jung geblieben. Wir hatten uns viel zu sagen und zu erzählen; ich vor Allem Ihm von Dem, was mir in Nürnberg geschehen und geworden war. Ich denke freudig an unser Gespräch, auf einem Spaziergange, den wir gegen die Hügel am Meere hin machten. Ein solches mächtig aufsteigendes Abendroth meinte ich niemals gesehen zu haben, als hier an der Küste. „Es kündigt einen künftigen, herrlichen Tag an, aber das Dunkel der Nacht liegt zwischen dem schönen Abende und dem noch schöneren Morgen.“ Wir dachten beide an den künftigen Abend des Lebens und an den Tag, der aus dem nächtlichen Dunkel hervorbricht. Meinem Freunde kam dieser Abend und das nächtliche Dunkel der Grabesstille bald nachher, doch leuchtete seinem Abende der milde Strahl, der den Tag verkündet, dessen Frieden durch kein Ungewitter noch Stürme wird gestört werden. Wir nahmen Abschied für ein Wiederfinden, dessen Freude durch die Furcht vor einem Wiederverlieren nicht mehr getrübt wird.