Die Kirchtürme am Wege

Ich habe die Strecke meiner Wanderschaft durch das Leben, die ich so eben kurz beschrieben, mit einer Sandwüste verglichen, über die man gern mit Dampfeseile hinüber kommen möchte. Nun, ich bin wohl einmal in späterer Zeit sechs Wochen lang durch eine wirkliche Wüste gezogen, und zwar nicht auf einem Dampfwagen, sondern auf Kamelen, die Schritt vor Schritt gingen, dennoch ist mir die Zeit keinen Augenblick lang geworden, und ich möchte gleich noch einmal selbst leiblich, wie ich es im Geiste so oft tue, den Weg von der Stätte des alten Memphis nach dem Horeb-Sinai, dem Berge Gottes, und von da nach Hebron machen. In Ludwigslust dagegen ist mir das Stücklein Weges, dahin ich so eben meine Leser mit mir genommen, so blutsauer und bitter langweilig vorgekommen, als ob es hundertmal weiter gewesen wäre, als der Kamelritt vom Niltal bis nach Hebron, obgleich es nur etwa zwölfmal so lang gedauert hat.

Wenn Einer auf dem Dampfwagen durch eine weite, sandige Ebene fährt, da gehen die ganz hart am Wege stehenden Hütten, Felder und Torfstechereien so schnell an seinem Auge vorüber, dass er sie kaum ordentlich anschauen, noch weniger in seinem Reisetagebuche (wenn er ein solches führt) aufzeichnen und beschreiben kann; dagegen hat er es mit dem Betrachten der Kirchtürme, Ritterschlösser und Burgen schon leichter, die ihm nicht unmittelbar am Wege, sondern weiter ab davon liegen. Auf diesen kann er sein Auge ruhen lassen und sich daran ergötzen, zur Unterhaltung auf der Fahrt, und so habe ich es auch während der Tage in Ludwigslust getan, die gerade nicht nach meinem Sinne waren, und so will ich es meinem oben gegebenen Versprechen zu Folge (S. 150) auch meinen Lesern tun, will ihnen die Kirchtürme beschreiben, an deren Anschauen ich mich damals erfreut und mein Herz erhoben habe.


Ein solcher Kirchturm, und zwar ein recht ansehnlicher, großer, der von weither ins Auge fiel, ist mir der alte, liebe Claus Harms in Kiel gewesen. Auch das Glockengeläute dieses Turmes und den Ruf des Wächters der auf seiner Zinne stand, hat man weit und breit im Lande gehört, und ich danke Gott dafür, dass ich die Zeit erlebt habe, in welcher ganze Scharen der Schlafenden ihre Augen und Ohren auftaten für den Turm, so wie für sein Geläute und den Wächterruf von seiner Zinne. Wer ein rechtes, treues Bild, wie kein Anderer es entwerfen könnte, von dem natur- so wie gotteskräftigen Claus Harms sehen möchte, der muss die Lebensbeschreibung desselben (Kiel, akademische Buchhandlung 1851) zur Hand nehmen, in welcher sich vorn neben dem Titelblatte das Portrait des guten, redlichen Alten, auf jeder Seite aber das Naturell und die Gesinnung: das Fleisch und der über dasselbe triumphierende Geist recht naturgetreu gezeichnet finden. Wie Harms selber im 16. Kap. seines Buches, S. 170 u. f. bekennt, hat er nur sehr wenige Briefe geschrieben, ich aber habe einen Brief vom 9. März 1818 aus seiner lieben Hand empfangen, den ich als ein teures Kleinod aufbewahre, dessen Inhalt aber öffentlich mitzuteilen ich mich schämen würde, weil der treffliche Mann, auf den ich gern, wie ein Fußgänger an einen Turm hinanblicke, mit seinem warmen Herzen gar zu viel aus mir und aus meinem Buche: „Altes und Neues“ macht. Einige Worte aber daraus, die sich auf die damalige Zeit beziehen, will ich mitteilen. Nachdem er den Beruf eines christgläubigen Schriftstellers als „hoch und heilig“ gepriesen, sagt er: „Nun, jetzt wäre es die rechte Zeit, mit einzugreifen. Die Ernte ist offenbar weiß und Christus ruft Schnitter herbei. - - Altes und Neues, beides ist dienlich, jetzt besonders; auf dass die Widersacher nicht das Feld behaupten! Sie stampfen furchtbar, wiewohl deren Macht, wie jenes Rosses in der Offenbarung, nur im Munde besteht, den der h. Geist schlagen wird.“

Es mag übrigens ganz dienlich zur Vervollständigung der Schilderung sein, welche ich oben (im 7. Kap. S. 82 u. a. O.) von dem damaligen Zustande der Kirche und der Schulen in Mecklenburg gegeben, wenn ich hier aus Harms' Lebensbeschreibung einige von jenen kräftigen Zügen entnehme, aus denen erkannt wird, dass es um jene Zeit in den Schulen wie in der Kirche des protestantischen Deutschlands auch anderwärts nicht besser aussah. Ich stelle zuerst Das voran, was er aus der Geschichte seines Universitätslebens in Kiel mitteilt, weil man daraus nicht nur die vorherrschende ungesunde Stimmung der Theologie an jener Hochschule, sondern auch die gesunde geistige Natur des redlichen Berichterstatters recht gut kennen lernt. Denn von gesunder Kraft konnte doch selbst die Theologie des alten Professor Geysser nicht sein, der zwar in seinen Vorlesungen über Dogmatik noch so ziemlich orthodor erschien, weil er diese ganz nach dem Lehrbuche des rechtgläubigen Morus vortrug, der dagegen in seiner Exegese des neuen Testamentes seine rationalistischen Ansichten ganz unverhohlen zur Schau trug. Und bei Professor Eckermann brauchte man vollends gar nicht nach dem Ja oder Nein seines theologischen Bekenntnisses zu fragen; dieser wollte in keiner Weise vom eigentlichen Christenglauben etwas wissen, sondern nur von der inländischen wie ausländischen europäischen Gelehrsamkeit und Vernunftweisheit; er trieb, wie Harms von ihm sagt, den Rationalismus auf seine äußerste Spitze. Neben diesen so wie anderen Lehrern des Unglaubens stand der alte Kleucker, dessen geistige Richtung eine außereuropäische, dem Glauben zugeneigte war, fast ohne allen Einfluss da; die älteren Studenten, deren Urteil bei den Jüngeren in großem Ansehen war, riechen diesen ab, bei Kleucker zu hören; seine, von keinen Gaben des Vortrages begünstigte Wirksamkeit als Lehrer war wie gar keine. Die jungen künftigen Theologen mochten von keiner anderen Autorität etwas wissen, als von der einer vermeintlich allgemeinen Stimme der damals herrschenden Schulgelehrsamkeit, welche sich klüger und höher zu sein dünkte als die Weisheit, die von Anfang war und bis ans Ende bleiben wird. Aber wie stand es damals bei unserem Harms? Auf der einen Seite nicht viel, auf der anderen aber dennoch ganz anders als bei der großen Menge seiner Mitstudierenden. Denn er war zwar schon in den Schulen, aus denen er auf die Universität kam, aus der Heimat des kindlich festen Glaubens in die unheimliche Fremde des Rationalismus geraten, hatte aber dabei immer ein sehnliches Heimweh nach dem geistigen Vaterhause in seinem Herzen behalten, das auch in dem Wesen reiner Gefühlsreligion, welche auf Veredlung des natürlichen Menschen ausging, keine Befriedigung fand. Wie aber kam er von den Banden des ihm immerhin imponierenden Rationalismus und der bodenlos in der Luft schwebenden Gefühlsreligion los? Ich muss den trefflichen Mann hier, in seiner unvergleichlichen Weise, selber reden lassen. „Ich bin,“ so sagt er (a. a. O. S. 67) „des Glaubens, dass Alles von außen hineinkomme, nichts sich im Innern aus sich selber entwickle oder erzeuge (Jac. I, 18 f.). Also geschah auch hier in einer ganz äußerlichen Begebenheit. Das war diese: Ein Freund sagte mir in einem Collegio: Du, Harms, ich habe ein Buch bekommen, das ist eins für Dich. Das waren Schleiermachers Reden über die Religion. Wir gingen nach der Stunde eben am Hause des Freundes vorbei; er holte das Buch aus seiner Stube. - - - Es war eben Sonnabend-Mittag. Nachmittag fing ich an, darinnen zu lesen, las tief in die Nacht hinein, brachte es zu Ende, mag darnach wohl ein paar Stunden geschlafen haben, fing Sonntag Morgen wieder von vorn an zu lesen, da ward es mir im Kopfe nicht anders, als würden zwei Schrauben an meine Schläfen gesetzt. Darauf legte ich das Buch hin, ging um den kleinen Kiel, den einsamen Gang, den Gang der Stillen in der Stadt, und auf diesem Gange war's, dass ich, wie mit einem Male, allen Rationalismus und alle Ästhetik und alles Selbstwissen und alles Selbsttun in dem Werke des Heils als nichtig und als ein Nichts erkannte, und mir die Notwendigkeit wie einblitzte, dass unser Heil von anderer Herkunft sein müsse. Ist dieses wem mysteriös, mystisch und diese Erzählung eine Mythe, ein Phantasma, dann nehme er es so; ich kann's nicht deutlicher geben, hab' aber daran, was ich die Geburtsstunde meines höheren Lebens nenne; doch richtiger gesagt, die Todesstunde meines alten Menschen nach seiner Erkenntnis in göttlichen Dingen, anders gesprochen, wie Stilling gesagt von dem Eindrucke, den Herder auf ihn gemacht habe: ich empfing von diesem Buche den Stoß zu einer ewigen Bewegung. Was war aber gewonnen? O sterben wir erst, so kommt das Leben wie von selbst, denn vor dem Tode können wir nicht leben, das Leben ist ein Hindurchdrang, Joh. 5, 24 und Luthers Katechismus: „wo Vergebung der Sünden ist, da ist Leben und Seligkeit“; Vergebung der Sünden aber ist des Todes Tod. Ob ich denn nun das Leben mit vollen Händen ergriffen habe? — O nein, ich hatte nur den Tod begriffen, das Leben noch nicht, war selbst nur ergriffen in etwas und schien mir selber als gestellt auf einen Boden guten Landes, den ich selber nun anbauen müsste, wie Adam der Garten Eden angewiesen war, dass er ihn baute und bewahrte. Mehr hatte ich von Schleiermacher nicht, doch dieses hatte ich von ihm, und danke nächst Gott ihm für Das, hab' es getan und werde es tun, bis zu meiner Zusammenkunft mit ihm, dann erst zum letzten Male.“ Bei dieser Stelle aus der Lebensbeschreibung des teuren Vater Harms kann sich der Schreiber dieses Buches nicht enthalten, ein Wörtlein einfließen zu lassen über die Unerkenntlichkeit und den Undank, womit ein jetzt lebendes Geschlecht auf jene vereinzelt dastehende Zeugen für den Glauben hinzublicken pflegt, welche, um den obigen Ausdruck zu wiederholen, ihrer wie zum Tod erstarrten Zeit „den Stoß zu einer ewigen Bewegung“ gaben. Es war ein Werk von Gott, dass jene einsam in der Wüste stehenden, und selbst von der Ohnmacht und Starrheit ihrer Zeit ergriffenen Zeugen sich aufraffen und dem herrschenden Sinne ihrer Zeit so mutig die Stirn bieten konnten. Und dass es ein Werk von Gott war, das haben seine Folgen bewiesen, denn namentlich Schleiermacher hat nicht nur in einer Seele, wie in der unseres Harms das neue Leben aus dem Tode geweckt, sondern in gar Vielen und durch diese noch in viel mehreren anderen. Den Männern aber, durch welche Gott ein Werk seiner Gnade getan, soll man eben so wie ihres Werkes mit einer Ehrerbietung gedenken, wie ein dankbares Kind des Vaters, der ihn gezeugt hat, auch wenn der Vater so arm war, dass er seinen Kindern nur das Leben und die erste Pflege, nicht die weitere Versorgung geben konnte. So, wie wir dieses Alle tun sollen, gegen unsere geistlichen Väter auch bei dem Erkennen ihrer menschlich vernünftigen Befangenheit und Schwachheit, hat Claus Harms getan, den ich hier wieder selber reden lasse.

„Nicht lange nach diesen Reden Schleiermachers erschienen seine Predigten; wie griff ich nach denen, allein wie täuschte ich mich! Der mich gezeugt hatte, der hatte kein Brot für mich. Ich dachte, er würde das Leben, was durch ihn in mir aufgegangen war, hinüber leiten zur Verkündigung, seine Predigten würden seine popularisierten Reden sein; das waren sie aber so wenig, dass sie an Stellen mir als das Gegenteil vorkamen. Ich war auf mich selber gestellt; ich stand mit meinem Christentum allein, oder wer es hatte, so wohl wie ich, reiner, reicher, wie ich, so habe ich Keinen von ihnen gekannt.“

Das neue Leben, welches in dem jugendlich kräftigen Geiste unseres Harms erwacht war, musste seiner Natur nach sich durch ein Bewegen, auch nach außen kund geben, denn das Wesen des Lebens besteht ja nur in Bewegung und Tat. Was er hierüber in seiner Lebensbeschreibung sagt, das gibt uns ein treues Bild sowohl von ihm selber, dem kräftigen Erwecker vieler Schlafenden, als von dem großen Haufen all' dieser Schlafenden um ihn her. Er fährt weiter, auf S. 70 in seinem Berichte fort: „Das, was ich mein erstes Tun nach außen nennen möchte, das erste Ansetzen des neuen Spatens, das ist eine Katechisation unter Professor Müller gewesen,“ der zugleich erster Lehrer am Kieler Schullehrer-Seminar war. Der Professor hatte in seinen Vorlesungen über Katechetik gesagt, besonders schwere Worte, um darüber zu katechisieren, seien: Umstand und Zustand. Harms wählte gerade deshalb zu seinem Thema den Satz aus dem Landeskatechismus: Wir Menschen sind alle Sünder, sowohl in unserem Verhalten als in unserem „Zustande.“ „Hier war es bei dem Worte Zustand, dass ich sprach aus und nach meinem neugewonnenen Glauben in Gemäßheit des kirchlichen Bekenntnisses. Eine stillere Stille wurde bemerkbar bei einem und anderem Punkte meiner Katechisation. Meine Kommilitonen, die nach gehaltener Katechisation zuerst ihr Urteil auszusprechen hatten, waren fast sämtlich schweigend. Darauf fasste mit seinem Urteil der Professor meine Arbeit an. Zuerst kam meine Begriffsbestimmung des Wortes Zustand vor, mit welcher er nicht zufrieden war. Dann wurde noch Eins und Anderes kritisiert und darnach fing er mit einem fast feierlichen Aber an: „Aber was hat der Verfasser getan! Dem alten, morschen Gebäude des Kirchenglaubens hat er einige gute Säulen untergesetzt; was soll’s? Weg damit! Dann fällt das alte Gebäude, was doch nicht lange mehr stehen kann und nicht länger mehr stehen darf.“ Er war im Affekt, das Auditorium stark bettoffen. Ich war verlegen nicht, doch auch nicht volles Mutes, mich wider ihn zu verteidigen, sagte dies und das mit Herzenswärme, blieb aber unverstanden bei meinen Kommilitonen. Das Alte vom Neuen wurde verstanden, allein das Neue im Alten nicht.“

Harms hatte hier den ersten Anfang im öffentlichen, lauten, treuen Bekenntnisse seines Glaubens gemacht, es blieb aber nicht bei diesem Anfange, sondern so oft sich ihm jetzt Gelegenheit dazu darbot, in Predigten und belehrenden, ernsten Gesprächen, zeugte er von seinem Glauben mit immer freudigerem Auftun seines Mundes. Denn wie der Flug eines Steines, den man von seinem natürlichen Ruhepunkte: vom Erdboden hinaufgehoben hat in die leichte Luft, darin er nirgends einen Haltpunkt fand, immer eiliger, kräftiger, feuriger wird, je weiter er hinabkommt nach seiner lieben, mütterlichen Ruhestätte, so geht es den treuen Zeugen im Verlaufe ihres öffentlichen Bekenntnisses; durch jedes derselben werden sie mutiger und kräftiger. Das kann man recht in des Claus Harms Leben und Wirken sehen, wenn man die Entwickelungsgeschichte von beiden von ihrem Beginne an bis zu jenem Höhenpunkte begleitet, den sie bei der Veröffentlichung der allbekannten 95 Thesen am Jubelfeste der Reformation im Jahre 1817 erreicht hat. Der freche Unglaube des Rationalismus hatte zu jener Zeit unter der Autorität oder doch in stiller Beistimmung der Schule und Kirche an dem höchsten, heiligsten Gute von beiden nicht nur einen Raub begangen, sondern er hatte dieses Heiligste hinausgeworfen auf die Gasse und dasselbe, erinnernd an die oben TH. I. S. 211 erwähnte Tat des großen Geistlichen und nachmaligen Polizeimannes Fouché, gleichwie gebunden an den Schwanz eines Esels durch den Kot schleifen lassen. Dieses war mit dem Worte Gottes in der Herausgabe der Altonaer sogenannten Bibel geschehen: einem Buche von jener Art, welche jeder ästhetisch gebildete Mensch, sei er auch Heide oder Jude, mit Eckel, jeder Christ mit Abscheu betrachten muss. Diese sogenannte Bibel, den rationalistischen Theologen, Schullehrern und allen Leuten ihrer Gesinnung eine gar willkommene Gabe, war fast überall im Lande in Schulen und viele Häuser gekommen. Es hatte denn doch immer noch Einzelne gegeben, welche gegen diesen Gräuel an heiliger Stätte zeugten; man hatte dagegen in öffentlichen Blättern geschrieben, Harms hatte dagegen an die Schleswig-Holsteinische Kanzlei eine dringliche Vorstellung gerichtet, doch Alles war ohne Erfolg geblieben. Dies gab ihm den Gedanken ein, gerade die Zeit des damaligen Reformationsjubiläums und die öffentliche Stimmung bei diesem Feste dazu zu benutzen, um mit seinen Thesen, in denen er außer der Altonaer Bibel auch alle anderen Notzeichen der vom Glauben abgefallenen Kirche ins Auge fasste, wie er sich ausdrückt „der Zeit auf den Leib zu brennen, ob die Oberen, ob die Prediger, ob alle Rationalisten in und außerhalb des Landes nicht sich entsetzen und anderen Sinnes werden möchten. In der Vorstellung, die ich von der Wirkung meiner Thesen hatte, prüfte ich mich selbst vor Gott, ob auch irgend eine unlautere Absicht, irgend eine selbstsüchtige dabei zu Grunde läge, wie ich im Vorwort gesagt, ich legte ein Vater unser vor.“ — „Die Jubelfeier trat ein, ich hatte zweimal zu predigen. Wie gehoben war ich in meinem Geiste, als ich diese Predigten hielt. Die Zuhörerzahl war noch größer, als da ich meine Wahlpredigt hielt, und nach Allem, was vorgegangen, und was (durch das Lesen der gedruckten Thesen) vorbereitet war, konnte ich auch annehmen, dass die Erwartung der Zuhörer auch eine so große gewesen sei, eine so gespannte, wie noch niemals, vor wie nach der Rede. Nicht sowohl nach Dem, was ich selber während des Vortrages empfand, als nach Dem, was ich nachher zu hören bekam über diese Predigten, „war derselben Eingang bei den Zuhörern ein besonders mächtiger gewesen, freilich bei Einigen zur Erweckung des stärksten, grimmigsten Unwillens über sie. Wenige Tage nachher bekam ich schon durch das Stadtkonsistorium den Befehl des Oberkonsistoriums, die Konzepte zu meinen Predigten einzusenden; ich tat dieses, zugleich mit der Bemerkung, dass nach wenigen Tagen der Abdruck derselben nachfolgen werde.“ — Die Thesen waren bald in ganz Deutschland verbreitet, wurden allenthalben mit großer Teilnahme für und wider ihren Inhalt gelesen, doch war, wie begreiflich, die Aufregung in Kiel am allerstärksten. Eine Spaltung entstand in der Gemeinde, für und wider ihren Prediger, mit welchem sie bis dahin mehr als zufrieden gewesen war. Diese Spaltung machte sich durch alle Klassen bemerkbar, in dem Kreise der Gelehrten, wie der Ungelehrten, der Vornehmen wie Geringen, selbst zu der Schuljugend drang die Thesensache ein, so dass auch unter den Knaben und Mädchen Parteien der Harmsianer und Antiharmsianer sich bildeten. In ganz besonderer Heftigkeit war bei den Studierenden an der Universität der Parteienstreit entbrannt und selbst der Hausfrieden der Familien blieb davon nicht ungestört, wenn der Mann vielleicht für die Frau gegen die Thesen von Harms, oder umgekehrt, die Hausfrau für, der Hausherr gegen dieselben sich entschied. Und wären auch beide eines Sinnes gewesen, so waren dieses doch die anderen Freunde und Gäste des Hauses nicht, es gehörte deshalb zu einer löblichen Vorsicht, den Harms nirgends mehr zu einer jener Gesellschaften einzuladen, an denen er früher oft Teil genommen hatte. Der Verfasser der Thesen war vielen seiner Bekannten und Freunde nicht nur wie ein Unbekannter, sondern wie ein Feind geworden, er selbst war Zeuge, wie ein Mann von heftigem Naturell, welcher über seine Berufung nach Kiel Freudentränen geweint hatte, Tränen des bittersten Unmutes vergoss, als er sich über die ihm verhassten Thesen aussprach. Viele entfernt wohnende Freunde, welche früher, wenn sie nach Kiel kamen, Harms besucht hatten, vermieden jetzt sein Haus und ihn.

Das Wort der Wahrheit hatte wie immer, wenn und wo es kräftig und einfältig verkündet wird, einen Rumor gemacht, der nicht nur in Kiel, sondern weit umher im Lande, so wie außerhalb demselben laut wurde. Es erschienen jetzt gleich einem Schwarme der Hornissen und Wespen, deren Nest man zerstören will, die Schriften der erbitterten, „lichtfreundlichen“ Gegner der Thesen und ihres Inhaltes. Auch unter diesen Gegnern gab es Leute aus allen Klassen. Einer der unsinnigst lästernden und pöbelhaftesten war ein Schulmeister und Organist in Holstein, der ein ihm bekannt gewordenes Pasquill auf Napoleon: „Ein Dämon ist dem Höllenreich entstiegen“ durch die Einmischung seiner eigenen spottschlecht geratenen Reime in ein Pasquill auf Harms umwandelte und drucken ließ. Der Mann hatte freilich, so wie Viele seines Gleichen nicht den Mut gehabt, sich als Autor zu nennen, aber die Obrigkeit fand ihn auf, während sie gegen Andere, die es zwar eben so gehässig, doch nicht so gar unmanierlich gemacht hatten, auch wenn sie wirklich gewollt, nichts tun konnte. Denn Boyssen, der ohnehin Konsistorialrat war, hatte doch dem Harms sein übermütiges: „komm Knabe und lerne,“ wenigstens auf lateinisch (Veni puer et disce) zugerufen; Professor Gurlitt lebte in Hamburg und da ließ sich nichts dagegen sagen, dass er die von seinem Gymnasium nach der Universität Abgehenden in einem Programme warnte, vor dem Harms in Kiel „als vor dem unvernünftigen Vernunfthasser, dem freilich annehmlichen Postillator (Postillenschreiber), der aber ein durchaus ungelehrter Mann sei, dessen 95 Thesen von Dummheit und Anmaßlichkeit strotzten.“ Auch anderen genannten und namentlich den ungenannten, dabei aber doch bekannten Gegenschriftlern, wie z. B. Dem, welcher den Harms in seinen früheren Stand, zu den Mehlsäcken zurückwies, konnte man nicht einmal, wie dem oben erwähnten Pasquillanten, dem Schulmeister, widerfahren war, einen offiziellen Verweis durch ihren Propst zukommen lassen.

Den Schriften der Feinde der Thesen gegenüber erhoben auch die Freunde der Wahrheit ihre Stimme in mehreren Schriften. Diese waren zwar minder zahlreich und von ungleich würdigerer, ruhigerer Haltung als die der leidenschaftlichen Gegner, dafür aber von desto kräftigerer, nachhaltigerer Wirkung. Unter den namhaften Theologen, welche für die Thesen sprachen, war der edle Schleiermacher der Bedeutungsvollste; an die Spitze der Gegner von geistlichem Stande hatte sich der Oberhofprediger Ammon in Dresden gestellt. Es schien jedoch, als wenn die Thesen auch noch in anderer Weise als in jener der literarischen Streitigkeiten, nicht nur, wie ihr Verfasser gesagt hatte, den Rationalisten, sondern ihm selber, persönlich „auf den Leib brennen“ sollten. Solche Stellen in denselben, wie im 14. und 30. Satz: „während keine Wacht in unserer Kirche war“ — wie 64 und 65, darin man eine Anforderung an das Volk zu sehen meinte zur Übernahme des Richteramtes über seine Prediger und zur Selbsthilfe gegen vermeintliche Irrlehrer, und andere Sätze, darin man sogar die Absicht erblicken wollte, die ehrwürdigsten Gegenstände zum Gespötte und Gelächter zu machen, waren vom königlichen Oberkonsistorium im schwärzesten Lichte aufgefasst und in solchem vor den Staatsrat gebracht worden. Man sprach im Kreise der Freunde wie der Feinde die nahe Absetzung des Harms von seinem Amte, als eine wahrscheinlich unvermeidliche Sache aus, und wenn die Konsistorien wie Oberkonsistorien allein freie Hand gehabt, wenn nicht der hierin anders gesinnte König und einige seiner Räte auch ein Wort dabei zu sprechen gehabt hätten, dann würde es wohl auch dazu gekommen sein. Hatte doch schon ein wohlgesinnter Mann in einem anonymen Briefe dem „ungerecht Verfolgten“ für den vielleicht nahen Fall seiner Absetzung eine Stätte zugesichert, dahin er mit Frau und Kindern ziehen und seine Versorgung finden sollte.

Es hat Einer, der mit diesen Wegen wohl bekannt war, gesagt, ein Bekenner der Wahrheit, der noch nicht mit einer ganzen Flut von Lästerungen von der Welt getauft sei, der sei noch nicht recht getauft. Nun, eine solche rechte Taufe war in der Tat dem Claus Harms reichlich widerfahren in dieser Zeit, welche er selber die bewegteste nennt, die er erlebt habe, nach innen so sehr, wie nach außen. „Nach außen durch die Arbeiten, zu denen er als Verteidiger der Wahrheiten, die er in seinen Thesen ausgesprochen, gegen die Feinde und Verdreher seiner Worte genötigt war, nach innen durch den unablässigen Drang „das hinaus zu beten, was sich auf sein Herz warf, und hinein zu beten, was sein Herz stärkte.“ Doch bei all' den schweren Erfahrungen, die er machte, stand er, wie er sagt, „so mutig in seinem Kampfe, einige trübe Tage oder Nächte abgerechnet, dass er zum Wohlgefallen kam an den Kränkungen, die man ihm zufügte.“ Gab es doch auch mitten in den langanhaltenden trüben Heimsuchungen immer wieder neue Tröstungen. Namentlich gehörte zu diesen Tröstungen, „welche ja alle von oben kommen“, die sich immer gleich bleibende, außerordentliche Teilnahme an seinen Predigten. Diese waren allerdings so, wie Harms selber die rechte Predigt: die Glaubenspredigt beschreibt, „gehoben von dem gewaltigen, überweltlichen Flügelschlag des heiligen Geistes, der die Apostel und Propheten getragen hat. Die (rechte) Predigt beruht auf der Gabe der Prophetie, neben der Lehrgabe.“

Nun, die Taufe, in welche Harms bei Gelegenheit seiner Thesen genommen worden war, ist nicht umsonst gewesen. „Das weiß ich wohl“, so sagt er, „dass meine Thesen allein die große Veränderung nicht hervorgebracht haben, welche seit 1817 im öffentlichen Bekenntnis, namentlich von der Kanzel, vorgegangen ist. Bis dahin waren die Herzogthümer Schleswig-Holstein fast durchaus rationalistisch, seit diesem Jahre und in wenigen Jahren darnach wurden dieselben fast durchaus orthodox, wenigstens was die Prediger anbetrifft.“ Im Jahre 1819 konnte Harms einem Kirchenpatron, der ihn darum gebeten, nur 3 gläubige Kandidaten des Predigtamtes vorschlagen, im Jahre 1831 konnte er demselben schon 20 — 30 nennen. Man hörte damals unter den Studierenden öfters die Redensart: „Twesten bekehrt seine Zuhörer und Harms tauft sie alsdann.“ Selbst manche schon im Amte stehende Prediger wendeten sich in diesen Jahren vom Rationalismus zur Orthodoxie.

Es sei mir übrigens erlaubt, hier auch noch die Worte eines Mannes mitzuteilen, welcher an dem Thesenstreite mit recht jugendlicher Wärme Teil genommen hat: „Ich bereue es nicht“ (so schreibt derselbe), „dass ich in den Jahren 1817 und 1818 ein heftiger Verteidiger der Thesen, ein überaus eifriger Anhänger von Harms gewesen bin. Dieser hat nichts Anderes gelehrt als Das, was mit dem Glauben in vollem Einklange steht. Dennoch habe ich mich darin getäuscht, dass ich meinte, wenn ich nur ein recht ernstlicher Gegner der Antiharmsianer und Anhänger von Harms sei, wäre ich darum auch schon ein vollkommener Christ. Vor jede menschliche Autorität kann man aufrecht hintreten und sich in ihre Dienste begeben, zu Christo dem Herrn kann man aber nur auf den Knien, durch rechtschaffene Buße kommen. Nun, das ist auch durch Gottes Gnade an mir geschehen, und ich weiß und erkenne gar wohl, was Vater Harms dazu getan, dass es mit mir so weit kommen konnte.“

Die geistige Bewegung in Kiel und in den beiden Herzogtümern stand nicht einzig und allein in ihrer Zeit da. Wie ein Sturmwind, der hier das Meer in Wogen schlägt, anderwärts die Bäume des Waldes erschüttert, oder die Lawine stürzen macht hinunter ins Tal, so ist die Aufregung zu einem neuen, geistigen Leben damals an gar vielen Orten zugleich wahrgenommen worden. Der Stoß der Wellen im Meere ist es nicht gewesen, der die Bäume im Walde so in lautes Rauschen versetzt, oder der die Schneemassen der Lawine zum Herabrollen gebracht hat, sondern es war der Windhauch von oben her, welcher über Meer und Wälder, wie über den Alpenschnee, hinwegzog und sie alle so kräftig anrührte. Es war nur ein Bild im Kleinen von Dem, was damals im Großen geschehen, als in den Völkern, um jene Zeit „da sich in Jerusalem die Stätte bewegte, da sie versammelt waren“, in gar vielen Ländern in Norden und Süden, Osten und Westen die Erwartung erregte von einem Großen, Neuen, das auf Erden geschehen sollte*). Sind doch öfters selbst in der Wissenschaft, wie in der Kunst zu gleicher Zeit, in den weitest von einander entfernten Ländern und Völkern Bewegungen von gleicher Richtung erwacht; Indien hat mit dem christlichen Europa zugleich Meisterwerke der Tempel erbaut; derselbe Frühling der neueren Völkergeschichte, der in Italien die ersten Blüten der bildenden, christlichen Kunst hervorrief, hat sie auch am Niederrhein und in Deutschland geweckt; nahe um jene Zeit, da der forschende Menschengeist weit über das Meer auf die Entdeckung neuer Länder ausging, da machte er sich auch auf zur Erforschung der Räume des Himmels und ihrer Welten. So haben sich auch zu gleicher Zeit und ganz unabhängig die eine von der anderen im südlichen Deutschland, in der Schweiz, in Frankreich, ja in Russland Anregungen eines neuen, christlichen Lebens kund gegeben, welche mit jenen, die der Thesenstreit in den Herzogtümern hervorrief, von verwandter Art waren. Ich bin im Verlaufe meiner Pilgerschaft an mehreren solcher Lichtpunkte und Wächterposten der damaligen Zeit vorübergekommen, und werde ihrer auch noch in diesem Buche gedenken, so hell jedoch, so laut über viele Lande hat kaum ein anderes Licht geleuchtet oder eine andere Wächterstimme die Schlafenden gerufen, als dort zu Kiel in wie aus den Thesen von Harms es geschehen. In welcher Freude ich diese Thesen mit Herz und Mund begrüßt habe, das wird mir, so lange ich lebe, in dankbarer Erinnerung bleiben, aber diese Freude kam mir nicht allein, sondern bald noch eine andere dazu.

*) M. v. meine Ahndungen einer allgemeinen Geschichte des Lebens, zweiter Band, Kap. 9 S. 270 u. f.

Während es nämlich in meiner nächsten Umgebung, wie ich dieses oben S. 164 u. f. beschrieben, ziemlich dunkel und trostlos aussah, kam ein unerwarteter Besuch zu mir, der mir im reichsten Maße Beides: Licht wie Trost brachte. Dies war der mir unvergesslich teure Professor August Neander aus Berlin. Was soll ich von diesem außerordentlichen Menschen sagen? —

Eine hehre Erscheinung in den Zeiten des alten Bundes sind die Nasiräer. Sie, die Verlobten Gottes, bezeugten vor den Augen ihres Volkes den Ernst des Gehorsams gegen ein Gesetz, das Gott ihnen gegeben, bezeugten die Furcht vor der Strafe des Ungehorsams durch den Abscheu vor der Gräuelgestalt des Todes, welcher aus der Sünde kam. Nach ihrem menschlichen Maße sind sie, so wie Joseph, der Nasir unter seinen Brüdern, ein Vorbild Dessen gewesen, der allein den Gehorsam des Gesetzes erfüllt, dem Tode seine Macht genommen und das Leben wiedergebracht hat. Auch die Zeit des neuen Bundes hat ihre Nasiräer, welche nicht durch den richterlichen Ernst des Gesetzes, nicht durch die Schrecken des Todes, sondern durch Gnade dem Herrn verbunden und verlobt sind für Zeit und Ewigkeit. Diese haben nicht nur seine Gebote, sondern Ihn selber, den Herrn, so wie Er ist, vor Augen, denn sie folgen Ihm, wohin Er gehet und wohin Er sie führet. Die Berührung mit dem Toten kann sie nicht mehr beflecken, denn was des Todes war, das ist begraben und zum Leben auferstanden durch den Glauben; Er selber ist es, der in ihnen lebet. Als das Bild eines solchen Nasiräers im Reiche der Gnade, eines solchen Verlobten des Herrn, ist mir der August Neander erschienen. Ein Mensch, in dessen Munde kein Falsch war, der nicht nur den eigenen Willen, sondern Alles, was er hatte und war, geistig wie leiblich, dahin gegeben hatte in den Dienst des Herrn, so dass von ihm selber Nichts übrig geblieben war für die Augen der Welt, nichts aber auch für ihn von der Welt der Sinne, aus welcher er, als ein im Geiste Gebundener, hinweggerückt und geschieden war. Ich werde des rührenden Eindruckes nie vergessen, den Neanders, „im Geist gebundene“ Persönlichkeit auf mich machte. Er hatte mein Altes und Neues gelesen und war während der Osterferien 1818 zu mir gekommen, um mich zu sehen. Er, welcher in der demütigen Einfalt und Unschuld des Herzens wie ein Kind geworden war in der Welt, hatte die Reise unter der zärtlichen Obhut und Pflege seiner Schwestern gemacht. Länger noch und öfter sah ich ihn ein Jahr hernach, wo er mich, meist in Begleitung des Baron von Kottwitz, eines Menschen, der schon auf Erden in der Liebe und im beständigen Nahesein des Herrn selig war, an meinem Krankenbette in Berlin öfters besuchte. Die Liebe, davon sein Herz voll war, sprach sich nicht in Worten aus, aber man fühlte ihre Kraft, man empfand ihre Wärme und jedes seiner Worte war durchleuchtet von einer so freudigen Gewissheit des Verständnisses, dass der Geist des Hörers davon lebendig wurde.

Ich habe in meinem Leben, obwohl in vieler Unlauterkeit, manche Menschen geliebt, nur wenige aber so wie den Neander; sein Tod, obgleich es keiner war, hat mich tief bewegt. Hätte man die eigenen, wie ein Geschwätz zugebrachten Jahre den deinigen zulegen können, du teures, fruchtbares Leben; es wäre wohlgetan gewesen; aber es ist nicht das Unsrige, was wir in Hoffnung leben und sind.

Neander ist, seiner Geburt nach, einer der erwählten Erstlinge aus Israel gewesen. Wenn man auf die Zeit zurückblickt, in welcher der Zug in ihm erwachte, der ihn zu dem Lichte des Lebens führte, für dessen Strahlen sein Volk keine geöffneten Augen hat, dann erkennt man wohl, dass auch bei ihm nicht die fleischlichen Augen es waren, die das Licht mitten in der Finsternis sahen, das über dem Leben der ungläubigen Christenheit und über dem Geiste lag, welche damals in den Schulen der vorherrschende war. Aber auch die Blinden, die in der Welt leben, können es nicht vermeiden, von dem Lichte zu sprechen, das ihre Augen nicht sehen, und wie der früheste unter den Weisen des Altertums, die wir kennen, von der Weisheit, die von Anfang war, sagt: „selbst die Verdammnis und der Tod müssen es aussprechen, dass sie mit ihren Ohren ihr Gerücht gehört haben“ (Hiob 28 V. 22). Dem Neander war ein inneres Auge geöffnet, welches in der Finsternis nur das Licht sah, das hereinstrahlte. Und wie er diesen Strahlen nachzugehen und sie aufzufinden wusste, das bezeugen schon die Schriften seiner frühesten Jugend: sein Kaiser Julian, sein heiliger Bernhard, die er in seinem 23. und 24. Jahre schrieb; seine Denkwürdigkeiten aus der Geschichte des Christentums und des christlichen Lebens und die vollendete, gereifte Frucht seines Erkennntnisses, „die allgemeine Geschichte der christlichen Religion und Kirche.“ Doch ich kann und will hier nicht von den Werken des Mannes reden, der für das Reich der von ihm erkannten Wahrheit unermüdet tätig war, sondern erinnere nur einige der noch lebenden Freunde an die wahrhaft lieblichen Züge aus dem Leben Neanders, während jener Zeit, die er als Privatdozent und Professor in Heidelberg mit den ehrwürdigen Männern: Daub, Kreutzer, Schwarz verlebte, denen er mit kindlich treuer Liebe sich anschloss, so wie in Berlin, dahin ihm bald nachher der Ruf kam, vor Allen an Schleiermacher. Neanders, des Nasiräers Andenken und Bild lebt fort in dem Herzen und dem Wirken seiner treuen Schüler, die er für das Leben des Geistes ausgeboren hat. Denn ob er gleich schon während seines Erdenlebens ein aus der Welt Abgeschiedener war, so ist er dennoch mit Leib und Seele, von ganzem Herzen und mit allen Kräften des Geistes bei Denen gewesen, die mit ihm die Wahrheit suchten und liebten. Und bei diesen ist er fortlebend geblieben und wird es bleiben, so lange es Ihresgleichen gibt.

Mittelbar, durch Briefe, hatten mich auch der teure Baron von Kottwitz, Fr. v. Meyer, mein alter, lieber Jugendfreund Hartmann, der damals in Hamburg lebte, und noch mehrere andere mit mir durch die gleiche Liebe befreundete Männer, in meiner damaligen trübseligen Verlassenheit besucht und durch ihren freundlichen Zuruf gestärkt. Der Besuch von drei wackeren, wohlgesinnten Kandidaten der Theologie aus Württemberg tat meinem Herzen, das an Heimweh nach dem lieben Süden von Deutschland krank war, sehr wohl und mein werter Namensvetter Schubert, jetzt Pfarrer zu Altenkirchen auf Rügen, gab durch seinen Besuch und seine lebendigen Mitteilungen meiner alten, herzlichen Liebe zu dem edlen Volke der Schweden neue Bekräftigung und Nahrung.

Es hat sich zuweilen zugetragen, dass Deutsche, welche in fernen, asiatischen Ländern reisten und an den Hof, etwa des Schachs von Persien oder eines anderen mächtigen Herrschers jener Länder kamen, hier ganz unvermutet, in der Person eines hochangesehenen Mannes bei Hofe, einen Landsmann auffanden, der sich unter dem orientalischen Kopfputze und dem prächtigen Ehrenkleide seiner fremdartigen hohen Würde die deutsche Gesinnung und ein der Heimat freundlich zugewendetes Herz erhalten hatte. Man kann sich’s wohl denken, welche Freude das für die Reisenden in wildfremdem Lande sein musste, wenn auf einmal ein so vornehmer, vermeintlicher Perser sie in der Sprache ihrer lieben Heimat anredete und freundlich begrüßte. Eine Freude von ähnlicher Art ward mir zu Teil, als der berühmte Friedrich Karl von Savigny aus Berlin um jene Zeit nach Mecklenburg zum Besuche an den großherzoglichen Hof kam. Welcher gebildete Deutsche sollte nicht diesen Mann aus seinem damals vielverbreiteten Werke: „vom Berufe unserer Zeit, für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ so wie aus den Anfängen seiner „Geschichte des römischen Rechtes im Mittelalter“ (Bd. I, 1815) gekannt und ihn geehrt haben als einen hochstehenden Meister der Rechtswissenschaft, als einen Mächtigen des Geistes, der Gedanken und der Sprache. Als einen Solchen betrachtete auch ich Savigny in herzlicher Achtung. Aber wie freudig wurde ich überrascht, als mich dieser große Meister und Lehrer in den Schulen des menschlichen Wissens in der wohltuenden Sprache eines Jüngers aus der Schule der göttlichen Weisheit anredete. Savigny hat mit der Geschichte des menschlichen Rechtes und seiner Gesetze, die am Sinai ihren Anfang nimmt, zugleich die eines göttlichen Rechtes lebendig erfasst, welchem auf Golgatha seine vollkräftige Genüge geschehen ist.

Ich weiß Vieles, das ich dem Besuche Savignys in Mecklenburg zu danken habe, und weiß vielleicht nicht Alles. Die freundliche Beachtung, die er mir bezeugte, ist auf die höheren Kreise meiner Umgebung nicht ohne Einfluss gewesen, sie hat hier das mächtige Vorurteil, das gegen mich ausgebrochen war, gemildert, und selbst hin und wieder in günstiger Weise umgestimmt. Ich selber hatte ein solches Vertrauen zu dem Herzen des Mannes gewonnen, dass ich ihm schon mündlich, noch mehr aber in Briefen, unverhohlen die äußere wie innere Haltlosigkeit meiner damaligen Stellung beschrieb und mein sehnliches Heimweh gegen ihn aussprach, hinwegzukommen von diesem unter mir schwankenden Boden, auf den feststehenden meines eigentlichen natürlichen Berufes. Savigny sprach mir guten Mut ein. Er zweifelte nicht daran, dass sich mir bald ein Ausweg eröffnen werde aus der Irre, in die ich geraten war, ja er selber, vielvermögend in seiner einflussreichen Stellung, gab mir Hoffnung dazu.

So wie ich oben S. 174 meinen Lesern es versprach, habe ich sie in diesem Kapitel, darin ich eine Strecke meines Pilgerweges beschrieb, welcher durch tiefen Sand ging, nur mit den Kirchtürmen und ansehnlichen Ortschaften bekannt gemacht, die mir damals zu beiden Seiten der Straße vorzugsweise ins Auge gefallen und für meine späteren Wanderungen durch das Leben bedeutend geworden sind.