I. Was hat man unter Medizinischem Aberglauben zu verstehen?

Glauben und Aberglauben sind Zwillingsbrüder. Wenn auch der Eine die Menschheit ihrer höchsten Aufgabe entgegenführt und der Andere uns nur ein Zerrbild menschlicher Erkenntnis vorführt, so sind Beide doch Kinder eines Stammes. Beide sind hervorgegangen aus dem Gefühl der Unzulänglichkeit des menschlichen Wissens gegenüber den Naturerscheinungen. Die Thatsache, dass grade die wichtigsten Vorgänge des organischen Lebens nicht restlos zu erklären sind, dass vielmehr die Beschäftigung mit denselben sehr bald zu einem todten Punkt führt, der jeder weiteren Erforschung einen unüberwindlichen Widerstand entgegensetzt, diese Thatsache hat zu allen Zeiten in der Menschenbrust das Gefühl der Ohnmacht und der Abhängigkeit hervorgerufen. Und dieses Bewusstsein, von Factoren abhängig zu sein, welche der menschlichen Erkenntniss sich vollkommen entziehen, es hat dann das metaphysische Bedürfniss des Menschengeschlechtes geschaffen, d. h. das Bedürfniss zu jenen räthselhaften Factoren Stellung zu nehmen und sie dem menschlichen Fassungsvermögen näher zu bringen. Indem nun die Menschheit sich anschickte, sothanes metaphysisches Bedürfniss in ethischer Hinsicht zu stillen, schuf sie den Glauben, der dann in den verschiedenen Religionsformen zum Ausdruck gelangte. In wie weit hierbei göttliche Offenbarungen sich thätig gezeigt haben, dies zu erörtern gehört nicht hierher. Der Aberglauben aber trat in die Welt, als man versuchte, auch die naturwissenschaftlichen Vorgänge von dem Standpunkte jenes metaphysischen Bedürfnisses aus zu betrachten und zu erklären, wobei es allerdings vor der Hand noch nicht zu einer gegensätzlichen Stellung zwischen Glauben und Aberglauben kam. Denn es gab eine Zeit, wo Glauben und Aberglauben, d. h. also die metaphysische Betrachtung der ethischen Werthe und die metaphysische Betrachtung der gesammten Lebenserscheinungen nicht nur gleichwerthig waren, sondern sogar in einen Begriff zusammenflossen. Das war in jener Zeit, in der das Menschengeschlecht alle irdischen Vorgänge, gleichviel ob sie geistiger oder stofflicher Natur waren, als unmittelbare Folgen eines stetigen Eingreifens überirdischer Mächte ansah, jene Zeit, in der die Gottheit für alle irdischen Erscheinungen verantwortlich gemacht wurde. In jener Zeit wurde der Glauben zum Aberglauben und der Aberglauben zum Glauben. Eine Scheidung beider trat erst ein, als in besonders erleuchteten Köpfen die Ansicht zu dämmern begann, dass die Naturerscheinungen, das irdische Werden, Sein und Vergehen, zweckmässiger durch irdische, als durch überirdische Factoren zu erklären seien. Die Reaction gegen diese bessere Erkenntniss, das zähe Festhalten an der ursprünglichen Verquickung irdischer Erscheinungen mit metaphysischen Factoren, sie schufen den naturwissenschaftlichen Aberglauben. Für die griechische Welt muss man die Geburt des Aberglaubens etwa in das 7. vorchristliche Jahrhundert rücken, in jene Zeit, als Thales von Milet mit seinem Bemühen, das Irdische auch irdisch zu erklären, hervortrat. Dieses Beginnen des Milesiers ist der Anfang der rationellen, wissenschaftlichen Auffassung der Naturerscheinungen, und erst ihr gegenüber wurde die alte theistische Naturbetrachtung zum Aberglauben. Und was von den Naturerscheinungen im Allgemeinen, das gilt auch von der Medizin im Besonderen. Auch hier kann von Aberglauben erst die Rede sein, als neben der ursprünglichen theistischen Auffassung der Körperfunctionen und neben der metaphysischen Krankenbehandlung eine mit irdischen Momenten rechnende Bewerthung der gesunden wie kranken Erscheinungen des menschlichen Organismus Platz gegriffen hatte. Jetzt erst verloren Theismus und Theurgie, welche bis dahin als wohl berechtige Consequenzen der herrschenden Weltanschauung auch für die Medizin vollste Geltung hatten beanspruchen können, diese ihre Berechtigung und wurden zum Aberglauben. Dies geschah, wenigstens für die griechische Medizin, um die Wende des 6. vorchristlichen Jahrhunderts. Das Corpus Hippocraticum zeigt uns bereits diese von allem theistischen Beiwerk gereinigte, nur mit irdischen Factoren rechnende griechische Medizin. Wann für die vorgriechischen Culturvölker, die Inder, Assyrer, Aegypter, diese Scheidung erfolgt sein möge, lässt sich im Augenblick wenigstens mit Sicherheit nicht bestimmen. Denn die bisher bekannt gewordenen ägyptischen und babylonisch-assyrischen Schriftwerke zeigen bereits ein inniges Gemisch von treuer Naturbeobachtung und theistischen Speculationen, d. h, also eine zwar mit stofflichen, irdischen Erscheinungen rechnende, aber reichlich mit Aberglauben durchsetzte Medizin.

Nach dem, was wir soeben gesagt haben, würde der Medizinische Aberglauben also definirt werden können als: „Glauben, dass die gesunden wie kranken Aeusserungen des körperlichen Lebens ohne Rücksichtnahme auf deren irdische Natur durch überirdische Kräfte erklärt eventuell behandelt werden können."


Je nach der Art und dem Ursprung dieser ausserirdischen Kräfte zeigt der Medizinische Aberglauben die verschiedensten Erscheinungsformen. Suchte man die genannten Kräfte in den himmlischen Gefilden, so kleidete sich der Medizinische Aberglauben in ein religiöses Gewand, und seine Quelle waren die religiösen Culte. Glaubte man aber, dass bei dem Regiment der Welt ausser Gott noch andere geheimnissvolle Elemente betheiligt seien, wie sie die verschiedenen philosophischen Systeme in so mannigfacher Form geschaffen haben, so trug der Medizinische Aberglauben ein philosophisch-mystisches Gepräge, und die Geschichte der Philosophie deckt uns seine Quellen auf. Sollten aber gewisse geheimnissvolle im Schooss der Natur verborgene oder ausserhalb des Erdballs befindliche Kräfte auf das menschliche Leben beeinflussend wirken, so nahm der Medizinische Aberglauben einen naturwissenschaftlichen Charakter an. Vielfach wirkten aber auch die genannten drei Factoren gleichzeitig oder in wechselnden Verbindungen, oder gewisse andere in der menschlichen Natur begründeten Dinge wirkten mit. Und deshalb ist es unter Umständen nicht ganz leicht zu entscheiden, aus welcher Quelle diese oder jene Form des Medizinischen Aberglaubens ihre Hauptnahrung bezogen haben möge. Aber trotzdem wollen wir doch die Quellen, aus denen der Medizinische Aberglauben hervorgegangen ist, unserer Betrachtung als allgemeines Eintheilungsprincip zu Grunde legen, da ohne den Versuch einer systematischen Anordnung des gewaltigen Stoffes eine nur einigermaassen befriedigende Uebersicht über das umfassende Material nicht zu ermöglichen ist.

Bevor wir aber dazu schreiten, zu untersuchen, wie es dazu gekommen sein möge, dass die reinsten und werthvollsten Quellen aller menschlichen Erkenntniss, Religion, Philosophie und Naturwissenschaft zugleich auch die Quellen des Medizinischen Aberglaubens wurden, dürfte es sich empfehlen klarzulegen, welche Gestalt die Medizin unter der ausschliesslichen Herrschaft des Theismus angenommen hatte, und wie sich die Verhältnisse dann gestaltet hatten, als die physikalisch-mechanische Naturanschauung in der Welt erschienen und mit der bis dahin allein herrschenden theistischen Weltanschauung in Kampf gerathen war. Gerade diese Verhältnisse sind für die Entwickelung des medizinisch-naturwissenschaftlichen Aberglaubens so wichtig, dass wir erst auf sie einen orientirenden Blick werfen müssen, bevor wir an die Betrachtung des Medizinischen Aberglaubens selbst herantreten dürfen. Und so wollen wir denn zuvörderst betrachten:

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Aberglauben in der Medizin.