II. Der Theismus in seiner Beziehung zur Medizin und in seinem Kampf mit der physikalisch-mechanischen Weltanschauung.

Wie wir bereits im Capitel I auseinandergesetzt haben, hat es in den Culturen aller Völker einst eine Zeit gegeben, in welcher die Medizinisch-naturwissenschaftliche Erkenntniss ausschliesslich durch die Lehren des religiösen Bekenntnisses zum Ausdruck gebracht wurde. Dieses Bestreben, die Naturerscheinungen durch ausser irdische Kräfte zu erklären, ist das, was wir unter Theismus verstanden wissen wollen. Aber diese religiös gefärbte Naturauffassung trug trotzdem noch keine Spur von Aberglauben an sich. Vielmehr war sie so lange die einzig berechtigte und dem Auffassungsvermögen der Menschen durchaus entsprechende Naturanschauung, als die Erkenntniss noch nicht in den Köpfen aufgegangen war, dass die irdischen Vorgänge auch nur durch irdische Ursachen geschehen könnten. Es war das jene Zeit, von der wir Eingangs dieser Untersuchung gesagt hatten (Seite 2), dass in ihr der Glauben zum Aberglauben und der Aberglauben zum Glauben wurde. In dieser Zeit wurden die Himmlischen für alle leiblichen Gebrechen des Menschengeschlechtes in Anspruch genommen. Ihre Pflicht war es, die functionellen Vorgänge des menschlichen Körpers in allen Phasen auf das Sorgsamste zu beobachten und für den ungestörten Fortgang zu sorgen. Da nun aber die Himmelsbewohner auch ihre Launen hatten, genau wie die Erdenbürger, so kam es leider nur zu oft vor, dass sie sich ihrer Pflicht, für die ungestörte Entwickelung der vegetativen wie animalen Körperfunctionen zu sorgen, in ungenügender Weise annahmen, ja dieselbe eventuell sogar absichtlich vernachlässigten. So entstanden Störungen in dem regelmässigen Ablauf des körperlichen Lebens, und damit kamen die Krankheiten in die Welt. Hatten somit die Götter die unmittelbarste Schuld an dem Auftreten der Krankheit, so war es auch ihre Pflicht, für die Beseitigung derselben zu sorgen. So lagen Pathologie und Therapie ausschliesslich in den Händen der Götter. In welcher Weise nun aber die Gottheiten diese ihre Medizinischen Obliegenheiten auffassten und zur Ausführung brachten, darüber herrschten die verschiedensten Anschauungen, wie dies uns die religiösen Culte lehren. Bei den Babyloniern war der grosse Gott Marduk der Vertreiber aller Krankheiten, während Urugal, Namtor und Nergal die Rolle von Pestgöttern spielten.

Aehnliches finden wir bei den Aegyptern; so galt ihnen die katzenköpfige Göttin Bubastis als Spenderin reichen Kindersegens. Ibis nahm sich der von Verdauungsbeschwerden geplagten Menschheit mit besonderem Interesse an und gab diesen seinen Bestrebungen durch Erfindung des Klystiers einen löblichen Ausdruck.


Auch bei den Griechen machten sich die Götter um die kranke Menschheit verdient. So erfand Apollo die Heilkunst, und wenn es seine Zeit sonst zuliess, half er wohl auch einmal, wenn sich dem Eintritt eines jungen Erdenbürgers in das Irdische Schwierigkeiten in den Weg stellten. Doch hatte für gewöhnlich Aphrodite die Pflicht, in genannten Fällen einzugreifen, wie sie ja überhaupt für Alles, was auf die Liebe Bezug nahm, mochte es sich nun um das Aesthetische oder Pathologische der Minne handeln, haftbar war. Athene spielte die Rolle einer Augenärztin und scheint sich bei dieser Beschäftigung nicht übel gestanden zu haben; so baute ihr z. B. Lykurg, den sie, wie es scheint, von einer sympathischen Augenerkrankung befreit hatte, einen Tempel. Und ausserdem erwarb sie sich durch ihre augenärztliche Thätigkeit noch die verschiedensten epitheta omantia.

Bei der ausschliesslich theistischen Auffassung, welche in den hier in Rede stehenden Zeiten den menschlichen Geist erfüllte, mussten ganz naturgemäss die Priester die alleinigen Träger der gesammten naturwissenschaftlich-Medizinischen Erkenntniss sein. Und das mit Recht. Denn wer hätte bei sothaner Weltanschauung wohl anders dem Menschen Aufschluss über seinen eigenen Körper sowie über die Natur überhaupt geben sollen als der Priester, der irdische Vertreter der unsterblichen Götter. Und wer anders hätte dem Menschen die Hülfe der himmlischen Mächte in allen Leibesnöthen übermitteln sollen als gerade der Priester. So war es also die unvermeidliche Consequenz der theistischen Weltanschauung, dass der Priester sowohl Arzt als auch Vertreter aller naturwissenschaftlichen Erkenntniss, sowie Helfer und Berather in allen irdischen Nöthen war. Mochte nun körperliches oder seelisches Leid den Einzelnen befallen haben, oder mochte das ganze Volk unter schweren Schicksalschlägen wie Pest u. dgl. m. seufzen, immer suchte man im Heiligthum der Götter, bei dem unfehlbaren Priester Hülfe und Rettung. Und die Priester haben es allezeit meisterlich verstanden, das Medizinisch-naturwissenschaftliche Bedürfniss ihrer dienten gründlichst zu befriedigen. Denn die Religionen aller Culturvölker — und das Christenthum nimmt in diesem Punkt keineswegs eine Äusnahmestelle ein — sind stets auf das Eifrigste bemüht gewesen, das naturwissenschaftliche wie Medizinische Denken in engster Abhängigkeit von ihren Lehren und Dogmen zu erhalten. Und zu diesem Zweck hat man dann allerlei Ceremonien, Gebräuche und Lehren gebraucht, mittelst deren der Priester stets in der Lage sein sollte, der von Schmerz und Leid geplagten Menschheit die Hülfe der Götter zu sichern. Gar seltsam und mannigfach nun waren diese heiligen Gebräuche in den verschiedensten Religionssystemen. In dem uralten Cultus des Zoroaster stammten alle Uebel, also auch die Krankheiten, von dem Princip der Finsternisse das durch die Person Ahrimans verkörpert wurde, und nur die aus einem besonderen medischen Volksstamm hervorgegangene Priesterkaste der Magier konnte dieselben heilen. Aber es war nun durchaus nicht so leicht, Mitglied dieser Kaste und Besitzer der nur ihr zugänglichen magischen Fähigkeiten zu werden. Man musste erst in die Mysterien des Mithra eingeweiht werden, ehe man die Herrschaft über die Naturkräfte gewinnen konnte. Hatte man aber die priesterliche Weihe erhalten, so führte man den stolzen Titel „Besieger des Uebels“ und war nun befähigt, die ärztliche Praxis zu üben. Als wesentlichster Bestandtheil einer jeden ärztlichen Behandlung galt das göttliche Wort, das man in Form von geheimnissvollen Beschwörungsformeln, heiligen Gesängen und einzelnen besonders heilkräftigen Worten zur Anwendung brachte. Vornehmlich war es das Wort „Ormudz“, der Name der höchsten Gottheit, dem man die weitgehendsten Medizinischen Fähigkeiten zutraute.

Bei den Sumerern, den Vorläufern der babylonisch-assyrischen Cultur, spielte der Traum eine bedeutende ärztliche Rolle. Man vermuthete in demselben einen directen Medizinischen Rath der Gottheit, und es war nun Sache des priesterlichen Arztes, den Traum in der für das Leiden des Träumenden geeigneten Form zu deuten.

Auch die alt-griechische Cultur hatte dem Traum eine hervorragende Medizinische Bedeutung eingeräumt und sich sogar ein eigenes System, das des Tempelschlafes, zurechtgelegt, um allezeit weissagende Träume von den Göttern zu erhalten. Der Kranke musste nach Darbringung der obligaten Opfer im Tempel eine Nacht zubringen, und was er da träumte, enthielt in unmittelbarster Form den Medizinischen Rath der Gottheit. Aber nur der Priester war befähigt, den so gewonnenen Traum zu deuten und ihm Medizinisches Leben zu verleihen. Da es nun aber wohl auch vorkam, dass ein allzu prosaischer und phlegmatischer Kranker überhaupt nicht träumte, so sprang alsdann der Priester hilfreich ein. Ihn begnadete der Gott stets und aufs Schnellste mit dem rathspendenden Traum. Ueber die Schicksale des Tempelschlafes in den späteren Zeiten des Alterthums und in der christlichen Zeit siehe § 6 und 7 dieser Arbeit.

Höchst eigenthümliche Formen hatte die Medizinische Thätigkeit des Priesters in den ersten Jahrhunderten des Römerthums angenommen. Dies zeigte sich besonders bei grossen allgemeinen Calamitäten, wie Pest, Kriegsnoth u. dgl. mehr. Hatten solcherlei Ereignisse einen das öffentliche Wohl in bedenklicher Weise gefährdenden Umfang erreicht, so suchte man das Wohlwollen der Götter in der wunderlichsten Weise zu gewinnen. Man lud nämlich die Himmlischen einfach zu Gaste, indem man ihnen ein opulentes Mahl rüstete. Das erste derartige Göttermahl wurde in Rom im 6. vorchristlichen Jahrhundert bei Gelegenheit eines grossen Sterbens abgehalten. Apollo, Latona, Diana, Herkules, Merkur und Neptun wurden feierlichst zu diesem Mahl geladen und acht Tage lang währte diese fromme Speisung. Die Gottesbilder lagen dabei auf prachtvoll gepolsterten Speisebetten, und die Tafeln waren auf das Reichlichste besetzt. Aber wie die Götter, so war auch das ganze Volk zum Schmaus geladen. Alle Häuser waren geöffnet und Jedermann mochte an den üppigst beschickten Tafeln der Begüterten schmausen so viel er wollte. Ja selbst die ausgesprochensten Feinde des Hauses konnten eintreten und sich an den Leckereien letzen ohne übler Worte sich versehen zu müssen; ja man hielt es im öffentlichen sanitären Interesse sogar für gerathen, die Gefangenen der Fesseln und der Haft zu entledigen. Hatten aber die Götter trotz der opulenten Gastereien noch immer kein Einsehen und wüthete Pest, Kriegsunglück, Misswachs oder was nun grade das Volk beängstigte, in ungebrochener Wuth weiter, so suchte man durch Bühnen-Spiele möglichst für das Vergnügen der Himmlischen zu sorgen. Derartige Spiele bestanden anfanglich nur aus von Flötenspiel begleiteten anmuthigen Tänzen. Und aus diesen einfachen Anfängen soll sich, wie uns Livius Buch 7, Capitel 2 berichtet, schliesslich das Schauspiel mit allen seinen im Älterthum so eifrig gepflegten Abwechselungen entwickelt haben. Hiernach wäre also unsere moderne Bühne schliesslich gar noch religiössanitären Ursprungs; gewiss eine gar absonderliche Entdeckung, von der sich unsere heutigen Theaterbesucher wohl kaum etwas werden träumen lassen.

Unter Umständen suchte man das Wohlgefallen der Götter an derlei Vergnügen auch noch durch allerei sonderbare Zuthaten zu steigern. So bestimmte man z. B., dass die zur Abwendung der Hannibal-Gefahr veranstalteten Spiele 333 333 1/3 Kupferass kosten sollten.

Fanden aber die Götter trotz alledem an Gasterei, Tanz und Flötenspiel nicht ausreichendes Wohlgefallen und konnten sie durch solcherlei Kurzweil nicht bewogen werden, die Pest oder sonstiges anderes Unglück zu beseitigen, so ernannte man einen Dictator, und dieser schlug, wenn möglich am 13. September, zur Besänftigung des himmlischen Unmuthes einen Nagel im Tempel des Jupiter ein. Dies scheint eine uralte von den Etruskern geübte Sitte gewesen zu sein, wenigstens berichtet der römische Schriftsteller Cincius, dass man solche Nägel im Tempel der etruskischen Göttin Nortia hätte sehen können. Diese Nägeltherapie wendeten die Römer z. B. bei Gelegenheit jener grässlichen Pest an, die im 5. vorchristlichen Jahrhundert wüthete und der auch der berühmte Furius Camillus erlag.

So wundersam uns nun auch all’ die geschilderten Proceduren anmuthen und so sehr sie mit dem modernen Begriff des Aberglaubens auch übereinstimmen mögen, so standen sie doch in der Zeit ihres Entstehens dem Aberglauben eben so fern, wie sie ihm heute nahe stehen würden. Denn jene Zeit, welche die genannten Vorgänge gesehen hat, sie huldigte einem exclusiven Theismus, und weil sie das that, so waren der Götterschlaf, die Göttermahle, die heiligen Spiele und wie sonst noch all’ die wunderlichen Massnahmen heissen mögen, mit denen man die Medizinische Hülfe der Götter sich zu sichern suchte, wohl berechtigte Theile des religiösen Cultus. Der Makel des Aberglaubens klebte ihnen noch nicht an. Und dies Verhältniss bestand von rechtswegen so lange die theistische Weltanschauung unbestritten herrschte.

Auf die Zeit nun, in welcher die theistische Weltanschauung unbeschränkt regierte und in den eben beschriebenen Formen in der Medizin zum Ausdruck gelangte, folgte eine Zeit, in welcher der Theismus die Herrschaft mit einem mächtigen Rivalen, der physikalisch-mechanischen Weltanschauung, theilen musste. Der Kampf zwischen diesen beiden Weltanschauungen hob für die griechische, sowie fiir die abendländische Cultur überhaupt mit dem ersten Auftreten der ionischen Philosophie an. Und bis heut ist derselbe in gar manchem Kopf noch nicht ganz beendet. Das steht aber fest, dass sich der Aberglauben immer dann besonders lebhaft in der Medizin geregt hat, wenn der theistische Gedanke einmal wieder das Uebergewicht erlangt hatte.

Im griechischen und römischen Alterthum scheint es zu einem hartnäckigen Kampf zwischen theistischer und physikalisch-mechanischer Weltanschauung in der Medizin selbst nicht gekommen zu sein. Es wich vielmehr die Vorstellung von dem Eingreifen der Götter in den Ablauf der Körperfunctionen allmählich vor der physikalisch-mechanischen Auffassung zurück, wenigstens was das Denken und Fühlen der Aerzte anlangt. Dass andere Stände, vornehmlich die Vertreter der Religion, nicht so friedlich dieser mechanischen Weltauffassung sich fügten, werden wir im Cap. III bald zeigen. Aber in der Heilkunde selbst war das eben anders. Schon das Corpus Hippocraticum zeigt uns eine von allem theistischen Beiwerk gereinigte Medizin, und von dem Erscheinen dieses Werkes, also etwa vom 5. vorchristlichen Jahrhundert an, bis zum Sturz des Alterthums, also etwa bis in ‘s 5. oder 6. nachchristliche Jahrhundert, macht sich in den Medizinischen Werken niemals mehr der Versuch bemerkbar, Krankheitsursache und Krankheitsbehandlung zu den Göttern des antiken Himmels in Beziehung zu setzen. Im Gegentheil! Man war mit Eifer bestrebt, das Wesen der Krankheit in mechanischen Verhältnissen des Körpers zu finden, und eine Reihe der verschiedensten Medizinischen Lehren zeugt davon. Das umfassende, aus dem 2. nachchristlichen Jahrhundert stammende Werk des Galen, dieser antike Kanon der Medizin, hat allen Theismus und alle Theurgie abgethan und stützt sich nur auf physikalisch-mechanische Momente : Beobachtung, Experiment, Section. Die antike Religion und die antike Medizin hatten eben ihren Frieden mit einander gemacht; aber nicht etwa einen Frieden, bei dem der eine Theil eine volle Niederlage zu verzeichnen gehabt hätte, sondern einen gütlichen Frieden, einen Frieden, bei dem die theistische wie die mechanisch-physikalische Naturanschauung beide in gleicher Weise zu ihrem Recht kamen. Der Einigungspunkt, auf den dieser Friede, oder sagen wir besser Compromiss geschlossen wurde, war die Teleologie.

§ I. Unter Teleologie verstehen wir die Vorstellung, dass alles irdische Sein von einer höheren Macht nach einem vorbedachten Plan geschaffen sei und deshalb alles organische Leben in Form und Bethätigung auf das Vollkommenste der ihm von dieser höheren Macht zugewiesenen Aufgabe entspreche. Für die antike Medizin war diese Vorstellung geradezu unentbehrlich. Denn sie gestattete dem theistisch Gesinnten ohne Weiteres, den Menschen als ein nach allen Seiten hin ausgezeichnetes, für die Weisheit Gottes zeugendes Product des Schöpfers zu halten, ohne ihm in Krankheitsfällen die nach den vorliegenden ärztlichen Beobachtungen unmögliche Annahme aufzuzwingen, dass die Krankheit von Gott stamme. Denn die Krankheit konnte ja doch gemäss der physikalisch mechanischen Naturanschauung sehr wohl ein Product allerlei widriger, rein irdischer Zustände sein, ohne dass mit dieser Annahme auch nur der leiseste Zweifel an der Weisheit und Schaffenskraft der Götter verbunden zu sein brauchte. Diese teleologische Anschauung, welche die gesammte antike Naturbetrachtung wie ein rother Faden durchzieht, tritt bei Galen in einer ganz absonderlichen Stärke in Erscheinung. In allen Theilen des gewaltigen Galenschen Werkes, in der Anatomie wie in der Physiologie, in der Pathologie wie Therapie, überall kehrt die überzeugteste teleologische Auffassung wieder, eine Auffassung, welche schliesslich in dem Ausspruch gipfelt (Gebrauch der Theile, Buch XI, Cap. 14): „Der Vater der Natur hat seine Güte offenbart durch die weise Sorgfalt für alle seine Creaturen, indem er jeder das ihr wahrhaft Nützliche verlieh“.

Von nun an sollte die teleologische Auffassung alles irdischen Werdens, Seins und Vergehens nicht mehr aus der Welt verschwinden. Das Christenthum übernahm sie in vollstem Umfange aus der antiken Cultur, und erst die Philosophie und Naturwissenschaft der modernen Zeit vermochten sie ernstlich zu erschüttern.

Die biologische Wissenschaft, wie sie die Gegenwart geschaffen hat, lehrt uns, dass alle irdischen Naturerscheinungen auch irdischen Ursachen ihre Entstehung verdanken, dass die irdische Welt auch irdisch regiert werde. Und damit hat sich denn die Teleologie, wie sie uns in den Werken des Heiden Galen und in den Schriften der christlichen Kirchenväter entgegentritt, als Aberglauben entpuppt, allerdings als eine Form des Aberglaubens, welche mit den sonstigen Arten des medizinisch-naturwissenschaftlichen Aberglaubens nicht entfernt in eine Linie gestellt werden darf. Dieses unser Urtheil verwahrt sich aber gegen jede Verallgemeinerung auf des Energischste; es will nur für jene Teleologie gelten, welche die Welt beherrscht hat, ehe Descartes und Spinoza lehrten und ehe die moderne Naturwissenschaft mit ihrer biologischen Methode aufgetreten war. Ob nicht aber doch eine Weltauffassung möglich wäre, welche, ohne sich des Vorwurfs des Aberglaubens versehen zu müssen, teleologische Neigungen verrathen dürfte, das ist eine Frage, die zu entscheiden hier nicht der Ort ist. Jedenfalls können wir nicht in Abrede stellen, dass, je tiefer wir in die Geheinmisse der Natur eindringen, sich um so energischer die Existenz eines bewunderungswürdigen, alle Gebiete der Natur durchziehenden intelligenten Willens bemerkbar macht. Stellt man aber diese Thatsache nicht principiell in Abrede, wie es der moderne Materialismus zu thun beliebt, sondern trägt ihr Rechnung, so würde damit eine Rehabilitation der Teleologie sich als nothwendiger Factor unserer Weltanschauung ergeben. Allerdings müsste diese Teleologie ein wesentlich anderes Gepräge tragen, als wie die als Aberglauben erkannte Teleologie des Alterthums und des Mittelalters. Sie müsste von der Betrachtung der gesammten organischen Formenwelt Abstand nehmen, um ihre Thätigkeit an die letzten Glieder jener Kette von Erfahrungen und Schlüssen zu verlegen, welche die moderne Wissenschaft von den Naturerscheinungen sich gebildet hat. Das könnte sie aber unserer Meinung nach auch ohne befurchten zu dürfen, der für den heutigen Naturforscher unerlässlichen Forderung: „die irdische Welt wird in ihren Formen und Vorgängen nur von irdischen Gesetzen geleitet“ irgendwie in den Weg treten zu müssen. Wie eine so geartete Teleologie ausschauen müsste, das hat Hartpole Lecky mit folgenden Worten gezeigt:

„Diese Anschauung, die das Universum mehr als einen Organismus, denn als einen Mechanismus darstellt, und seine Entfaltungen und Uebergänge mehr für das Ergebniss einer stufenmässigen Entwickelung von Innen heraus, als einer Einwirkung von Aussen her ansieht, ist so neu und auf den ersten Blick so befremdend, dass Viele jetzt mit Schrecken davor zurück schaudern unter dem Eindruck, sie zerstöre das Argument von dem Weltplan und komme beinahe der Leugnung einer höchsten „Intelligenz gleich. Allein ich denke, es kann nur wenig Zweifel „sein, dass eine solche Furcht zum grössten Theil unbegründet ist. „Dass die Materie vom Geist regiert wird, dass alle Schöpfungen „und Gestaltungen der Welt Erzeugnisse der Intelligenz sind, dies sind ganz feststehende Lehrsätze, mögen wir diese Schöpfungen für Ergebnisse eines einzelnen, augenblicklichen Willenaktes oder einer langsamen, zusammenhängenden und geregelten Entwickelung ansehen. Die Beweise von einer coordinirenden und combinirenden Intelligenz bleiben beide unberührt, auch kann kein denkbarer Fortschritt der Wissenschaft in dieser Richtung sie zerstören. Wenn die berühmte Theorie, dass alles thierische und „Pflanzenleben aus einem einzigen Lebenskeime entspringt, und dass all’ die verschiedenen jetzt vorhandenen Thiere und Pflanzen durch einen natürlichen Entwickelungsprocess aus jenem Keim hervorgegangen sind, eine ausgemachte Wahrheit wäre, so würden wir doch noch hinzeigen können auf die Beweise von der Intelligenz in der gewesenen und fortschreitenden Entwickelung, in „jenen ausgezeichneten Formen, die so verschieden sind von dem, „was der blinde Zufall hervorbringen könnte, in der offenbaren -Zusammengehörigkeit der äusseren Umstände mit dem lebenden Geschöpf und des lebenden Geschöpfes mit den äusseren Umständen. Das Argument von dem Weltplan würde sich in der That ändern; es würde eine Feststellung in einer neuen Form erfordern aber es würde ebenso überzeugend sein, wie früher. Ja, es ist vielleicht nicht zu viel gesagt, dass, je vollständiger dieser Begriff der allgemeinen Entwickelung gefasst wird, desto fester sich eine wissenschaftliche Lehre von der Vorsehung auf bauen und desto stärker die Zuversicht auf einen künftigen Fortschritt sein wird.“

Man vergl. auch Magnus, Medizin und Religion, Seite 24 ff.

Trotzdem nun also in der Teleologie der Einigungspunkt für die theistische und für die physikalisch-mechanisch denkende Medizin gefunden war, so versuchte der Theismus im Lauf der Geschichte unserer Wissenschaft doch immer auf’s Neue Vorstösse gegen die physikalische Richtung in der Medizin. Und mit jedem solchen Verstoss trat dann auch der Aberglauben in der Medizin wie in den Naturwissenschaften mit einer ganz besonderen Wucht’ in Erscheinung. Nachdem wir uns in dem vorstehenden Capitel II hinreichend über den Theismus und seine Stellung zu der physikalisch-mechanischen Weltauffassung unterrichtet haben, werden wir nunmehr zu einer Betrachtung der einzelnen Formen des Medizinischen Aberglaubens übergehen. Und zwar werden wir, wie wir dies bereits im Capitel I gesagt haben, das gewaltige vorliegende Material in der Weise anordnen, dass wir den Medizinischen Aberglauben nach den Quellen, aus denen er geflossen ist, betrachten. Wir beginnen mit den Beziehungen, die zwischen den religiösen Bekenntnissen und dem Aberglauben allzeit in besonderer Innigkeit geherrscht haben.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Aberglauben in der Medizin.