Demokratie und Verfassung

Da die, eine vollkommene Gleichheit der Menschen voraussetzende Allgemeinheit der politischen Rechte notwendigerweise an gewisse unüberschreitbare Grenzen gebunden ist, die durch die natürliche Verschiedenheit der Menschen gesetzt sind, muss die demokratische Organisation unter allen Umständen von vornherein auf einen Teil des Volkes beschränkt bleiben. Der Grad und die Bedingungen dieser Einschränkung sind dann dafür entscheidend, ob überhaupt noch von einer Demokratie gesprochen werden kann. Das Bedürfnis nach einem Kriterium — das unter anderem Demokratie von Aristokratie sicher scheidet — macht sich hier geltend. Es ist freilich recht willkürlich, wenn Rousseau meint, Demokratie sei noch gegeben, wenn sie sich auf die Hälfte des Volkes beschränke. Eine so beschränkte „Demokratie“ stellt auch das Staatsideal Platos dar, dessen Kommunismus das Vorrecht oder die Pflicht einer bestimmten Klasse ist. In einem gewissen Sinne könnte auch der Neokommunismus der Bolschewiki als eine klassenmäßig beschränkte Demokratie angesehen werden. Allein gerade die Bedingungen der Beschränkung sind hier solche, dass der demokratische Gedanke — trotzdem er in der Beschränkung auf das radikalste hervortritt — dennoch durch seine Beschränkung geradezu aufgehoben und ins Gegenteil verkehrt wird. Er wäre dadurch nicht gefährdet, dass die russische Sowjetverfassung, von dem Grundsatze ausgehend, wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, eine allgemeine Arbeitspflicht statuiert und dem gemäß nur Werktätigen politische Rechte verleiht 43), zumal diese Verfassung dabei eine jahrtausend alte Schranke durchbricht, indem sie auch allen Ausländern, die sich zu Arbeitszwecken in Russland aufhalten, die volle politische Gleichberechtigung gewährt 44). In der für das überaus langsame Fortschreiten des Menschheitsgedankens 45) so charakteristischen Rechtsentwicklung, nach der der Staatsfremde ursprünglich ein vogelfreier Feind, später allmählich und schrittweise bürgerlich gleichberechtigt wird, heute fast überall aber noch politisch rechtlos ist, bedeutet die Sowjetverfassung eine Tat von historischer Bedeutung. Freilich ist der Rückschritt nach anderer Richtung um so größer. Vom Wahlrechte sind ausgeschlossen nicht nur, die arbeitsloses Einkommen beziehen, sondern auch Werktätige, die sich der Lohnarbeiter bedienen, obgleich ihre für die Gesamtheit nützliche und vielleicht sogar notwendige Arbeit ohne die Zuhilfenahme von Lohnarbeitern gar nicht möglich wäre; ferner private Händler, obgleich die Verfassung diesen Handel nicht untersagt, ja — infolge der nur beschränkt durchführbaren Verstaatlichung der Wirtschaft — auf ihn gar nicht verzichten kann; Geistliche und Beamte der Kultusorganisationen, obgleich die Verfassung auf dem Standpunkte der religiösen Freiheit stehend, das religiöse Bedürfnis der Menschen anerkennt und dessen Befriedigung nicht verbietet, mit Rücksicht auf den Charakter, des russischen Volkes auch gar nicht verbieten kann. Aber auch innerhalb dieses so verengten Kreises der Werktätigen sind die politischen Rechte keineswegs gleichmäßig verteilt. Wenn die bezüglichen Bestimmungen der russischen Sowjetverfassung in den vorliegenden deutschen Ausgaben richtig wiedergegeben sind und wenn die sonstigen Nachrichten über diesen Punkt verlässlich sind — und dies wird gerade von sozialistischer Seite allgemein angenommen — dann haben die städtischen Wähler, d. h. das Industrieproletariat gegenüber den Wählern auf dem Lande, den Bauern, und zwar den armen Bauern, denn nur diese sind politisch berechtigt, ein fünffaches Wahlrecht 48). Auf die gleiche Anzahl von Wählern oder Einwohnern fallen in der Stadt fünfmal so viel Vertreter wie auf dem Lande. Und das wäre ja bei dem Zahlenverhältnis zwischen Bauernschaft und Industrieproletariat in Russland durchaus begreiflich. Von Demokratie kann freilich keine Rede mehr sein. Dann aber ist kraft Verfassung Vereins- und Versammlungsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und Pressefreiheit nur der Arbeiterklasse, de facto aber — nach dem Zeugnisse sozialistischer Berichterstatter — nur den Angehörigen einer bestimmten politischen Partei gewährleistet 49). Bewusst setzt man die Diktatur der Demokratie entgegen. Die Unterdrückung und Vernichtung der Bourgeoisie wird als das Ziel der Proletarierdiktatur proklamiert. Allein der Begriff der Bourgeoisie muss sich notwendigerweise verschieben. Bourgeoisie, d. i. nicht mehr der Inbegriff der wirtschaftlichen Ausbeuter, der Unternehmer, Kapital- und Grundrentengenießer, denn solche gibt es streng genommen in der Räterepublik, die das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufgehoben hat, nicht mehr oder doch nur in verschwindenden Resten. Gemeint sind größtenteils die „ehemaligen“ Bourgeois, gemeint ist eine bestimmte Gesinnung, eine bestimmte politische, insbesondere wirtschaftspolitische Grundanschauung, gemeint ist eigentlich alles, was dem sozialistischen Dogma widerspricht. So wird die Diktatur des Proletariates zur Diktatur einer bestimmten politischen Überzeugung, gestützt auf die Verabsolutierung eines bestimmten politischen Ideals.

43) I. Abschn. 4. Kap. Pt, 7 und II. Abschn. 5. Kap. Pt. 18 der Sowjetverfassung.


44) II. Abschn. 5. Kap. Pt. 20.

45) Den Zusammenhang zwischen der demokratischen Idee und dem Humanitätsgedanken betont besonders Koigen a. a. O. passim.

48) Die bezüglichen Bestimmungen der Verfassung sind nicht sehr klar. III. Abschn. 6. Kap. Pt. 25 lautet: Der All-russische Sowjetkongress besteht aus den Vertretern der städtischen Sowjets — wobei je 25.000 Wähler einen Deputierten entsenden — und aus den Vertretern der Gouvernements-Sowjetkongresse — wobei stets 125.000 Einwohner einen Deputierten entsenden. Vgl. dazu: Hirschberg, Bolschewismus, 1919, S. 27 und die sozialistische Propagandaschrift „Rätediktatur oder Demokratie“ (Sozialistische Bücherei, Heft 2) Wien 1919, S. 6. Ferner meine Schrift „Sozialismus und Staat“, S. 104 ff.

49) Vgl. dazu Kautsky, Die Diktatur des Proletariates, 4. Aufl. und Terrorismus und Kommunismus, 1919.


Dass es gerade das sozialistische Ideal ist, bei dessen Durchsetzung die demokratische Methode über Bord geworfen werden muss, mutet deshalb so seltsam an, weil der Sozialismus seit Marx und Engels von der nicht nur für seine bisherige politische, sondern auch für seine ökonomische Theorie grundlegenden Voraussetzung ausgeht, dass das ausgebeutete und verelendete Proletariat die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung bildet und dass dieses Proletariat nur zum Bewusstsein seiner Klassenlage kommen müsse, um sich in der sozialistischen Partei zum Klassenkampfe gegen eine verschwindende Minderheit zu organisieren. Nur darum konnte der Sozialismus die Demokratie fordern, weil er sich einer Herrschaft sicher glaubte, über deren Besitz die Mehrheit entscheidet. Schon das Entstehen bürgerlicher Demokratien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und mehr noch ihr gesicherter Fortbestand sowie ihre fortschreitend demokratische Entwicklung in der Folgezeit war mit den Voraussetzungen des Sozialismus nicht mehr ganz vereinbar. Warum wird die bloß politische Demokratie nicht auch zur wirtschaftlichen, d. h. warum herrscht eine bürgerlichkapitalistische, nicht aber eine sozialistisch-kommunistische Gruppe, wenn das zur sozialistischen Gesinnung erzogene Proletariat die Mehrheit bildet und das allgemeine und gleiche Wahlrecht der Mehrheit die Herrschaft im Parlamente sichert? Natürlich gilt die Frage nur dort, wo echte Demokratie herrscht, wo die Allgemeinheit und Gleichheit der politischen Rechte unzweifelhaft besteht. Das ist aber in den großen Demokratien Westeuropas und Amerikas, das ist, im Grunde genommen, auch in Deutschland und Österreich der Fall. Die Berufung auf Praktiken der Wahlordnung, wie Wahlkreisgeometrie, Erschwerung der Ausübung des Wahlrechtes für gewisse Kategorien von Wählern u. ä., insbesondere der Hinweis auf den mächtigen Einfluss der kapitalistischen Presse reichen keineswegs aus, um die Situation zu rechtfertigen. Zweifellos ist das Ideal möglichster wirtschaftlicher Gleichheit ein demokratisches. Und daher erst die Sozialdemokratie eine vollkommene Demokratie. Allein wenn die bürgerliche Demokratie im Stadium der bloß politischen Gleichheit stecken bleibt, so hat dies — wie der Anschauungsunterricht der jüngsten Revolution, speziell in Russland, nur allzu deutlich zeigt — eben darin seinen Grund, dass das an der wirtschaftlichen Gleichheit und der sie bedingenden Verstaatlichung und Vergesellschaftung der Produktion interessierte Proletariat im Widerspruch zu einer Jahrzehnte vertretenen Lehrmeinung des Sozialismus nicht die überwiegende Mehrheit des Volkes, ja dort, wo der Sozialismus durch das Proletariat tatsächlich zur Alleinherrschaft kam, nur eine schwache Minorität bildet. Das ist der Grund für den prinzipiellen Wechsel in der politischen Methode eines großen Teiles der sozialistischen Partei, das ist der Grund, weshalb an die Stelle der Demokratie, die noch Marx und Engels mit der Diktatur des Proletariates für vereinbar, ja geradezu für die Form dieser Diktatur hielten 50), eben jene Diktatur treten musste, die sich als Absolutismus eines politischen Dogmas und einer dieses Dogma vertretenden Parteiherrschaft darstellt.

50) So heißt es z. B. im kommunistischen Manifest, „dass der erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariates zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist“.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vom Wesen und Wert der Demokratie