Vom Wesen und Wert der Demokratie

Autor: Kelsen, Hans Prof. Dr. (1881-1973) österreichischer Rechtswissenschaftler, Erscheinungsjahr: 1920
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Demokratie, bürgerliche Revolutionen, Diktatur, Freiheit, Freiheitsgedanke, Rechtsordnung, Gleichheit, Sozialismus, demokratische Ideale, politisches Denken, soziale Revolution,
I. Revolution und Demokratie

Die bürgerlichen Revolutionen von 1789 und 1848 hatten das demokratische Ideal beinahe zu einer Selbstverständlichkeit des politischen Denkens gemacht; — selbst wer sich seiner Verwirklichung mehr oder weniger zu widersetzen unternahm, glaubte dies meist nur mit einer höflichen Verbeugung vor dem grundsätzlich anerkannten Prinzip und unter einem vorsichtigen Deckmantel demokratischer Terminologie wagen zu dürfen. Ein offenes und unumwundenes Bekenntnis zur Autokratie ist während der letzten Jahrzehnte weder bei einem bedeutenden Staatsmanne noch bei einem namhaften Literaten zu verzeichnen. Demokratie ist das die Geister im 19. und 20. Jahrhundert fast allgemein beherrschende Schlagwort. Gerade darum aber verliert es — wie jedes Schlagwort — seinen festen Sinn. Weil man es — dem politischen Modezwang unterworfen — zu allen möglichen Zwecken und bei allen möglichen Anlässen benützen zu müssen glaubt, nimmt dieser missbrauchteste aller politischen Begriffe die verschiedensten, einander oft sehr widersprechenden Bedeutungen an, sofern ihm nicht die übliche Gedankenlosigkeit des vulgär-politischen Sprachgebrauches zu einer keinen bestimmten Sinn mehr beanspruchenden, konventionellen Phrase degradiert.

Da zwingt die durch den Weltkrieg ausgelöste soziale Revolution zu einer Revision auch dieses politischen Wertes. Jene grandios organisierte Massenbewegung, die bisher mit größter Energie und mit größtem Erfolg auf eine Demokratie gerichtet war, die neben dem Sozialismus — wie ja der Name der führenden Partei bezeugt — die Hälfte ihres geistigen Wesens darstellte, diese Bewegung staut, ja spaltet sich gerade an jenem Punkte, wo es gilt, nicht nur die Grundsätze des Sozialismus, sondern vor allem diejenigen der Demokratie zu verwirklichen. Während der eine Teil nur zögernd und von mannigfachen Hindernissen gehemmt, die alte Richtung weiter zu verfolgen sucht, drängt der andere stürmisch und entschlossen einem neuen Ziele zu, das sich frei und offen als eine Form der Autokratie enthüllt. Gegenüber der Diktatur des Proletariates — so wie sie die neokommunistische Theorie des Bolschewismus auffasst — wird die Demokratie, wie ehedem gegenüber der monarchischen Autokratie, von Neuem zum Problem.

In der Idee der Demokratie — und von ihr, nicht von der ihr mehr oder weniger angenäherten politischen Wirklichkeit soll zunächst die Rede sein — vereinigen sich zwei oberste Postulate unserer praktischen Vernunft, drängen zwei Urinstinkte des geselligen Lebewesens nach Befriedigung. Fürs eine die Reaktion gegen den aus dem gesellschaftlichen Zustande fließenden Zwang, der Protest gegen den fremden Willen, dem sich der eigene beugen muss, gegen die Qual der Heteronomie. Es ist die Natur selbst, die sich in der Forderung der Freiheit gegen die Gesellschaft aufbäumt. — Die Last fremden Willens, die soziale Ordnung auferlegt, wird um so drückender empfunden, je unmittelbarer im Menschen das primäre Gefühl des eigenen Wertes sich in der Ablehnung jedes Mehrwertes eines anderen äußert, je elementarer gerade dem Herrn, dem Befehlenden gegenüber das Erlebnis des zum Gehorsam Gezwungenen ist: Er ist ein Mensch wie ich, wir sind gleich! Wo ist also sein Recht, mich zu beherrschen 1)? So stellt sich die durchaus negative Idee der Gleichheit in den Dienst der ebenso negativen Forderung der Freiheit.

1) In dieser Ablehnung alles persönlichen Mehrwertes liegt der antiheroische Charakter der Demokratie, den besonders hervorhebt: Koigen, „Die Kultur der Demokratie“, 1912. ,,In dem Kampfe gegen das Titanentum, gegen die Willkür und die Launen des Gewaltmenschen und des Heros ist der demokratische Kulturgedanke geboren und im Kampfe um die Vermenschlichung sowohl der natürlichen, usurpatorischen wie der supranatürlichen, göttlichen Willensäußerungen ist er groß geworden.“ A. a O.S. 4.

Aus der Annahme, dass wir — in der Idee — gleich seien, kann wohl die Forderung abgeleitet werden, dass einer den andern nicht beherrschen solle. Allein die Erfahrung lehrt, dass wenn wir in der Wirklichkeit gleich bleiben wollen, wir uns beherrschen lassen müssen. Darum verzichtet aber die politische Ideologie keineswegs darauf, Freiheit und Gleichheit miteinander zu verbinden. Gerade die Synthese beider Prinzipien ist für die Demokratie charakteristisch 2). Nur dass eben der Begriff der Freiheit einen solchen Bedeutungswandel erfahren muss, damit er überhaupt in die Sphäre politischen Kalküls eingehen kann. Aus der absoluten Negation der Herrschaft und somit des Staates überhaupt wird eine besondere Form derselben. Wenn wir schon beherrscht werden müssen, so wollen wir nur von uns selbst beherrscht sein. Politisch frei ist, wer keinem anderen als seinem eigenen Willen Untertan. In dieser Bedeutung findet sich der Gedanke der Freiheit mit dem der Gleichheit zur Begründung der demokratischen Idee.

Man pflegt die Freiheit als politische Selbstbestimmung des Bürgers, als Mitwirkung an der Bildung des herrschenden Willens im Staate, als die antike Freiheitsidee der germanischen entgegenzusetzen, die sich in der Vorstellung eines Freiseins von Herrschaft, eines Freiseins vom Staate überhaupt erschöpft. — Indes handelt es sich dabei nicht eigentlich um einen historisch-ethnographischen Unterschied. Der Schritt von der germanischen zu der sogenannten antiken Gestaltung des Freiheitsproblems ist nur die erste Stufe jenes unvermeidlichen Wandlungsprozesses, jener Denaturierung, der der ursprüngliche Freiheitsinstinkt auf dem Wege unterworfen ist, den das menschliche Bewusstsein aus dem Zustande der Natur in den Zustand der staatlichen Zwangsordnung zurücklegt. Dieser Bedeutungswandel im Begriffe der Freiheit ist überaus charakteristisch für die Mechanik unseres sozialen Denkens. Die ungeheure, gar nicht überschätzbare Bedeutung, die gerade dem Freiheitsgedanken in der politischen Ideologie zukommt, ist nur erklärlich, sofern er aus einer letzten Quelle der menschlichen Seele, aus eben jenem staatsfeindlichen Urinstinkt entspringt, der das Individuum gegen die Gesellschaft stellt. Und doch wird in einer fast rätselhaften Selbsttäuschung dieser Freiheitsgedanke zum bloßen Ausdrucke für eine bestimmte Stellung des Individuums in der Gesellschaft. Aus der Freiheit der Anarchie wird die Freiheit der Demokratie. Der Wandel ist größer als es auf den ersten Blick erscheint. Rousseau, vielleicht der bedeutendste Theoretiker der Demokratie, stellt die Frage nach dem besten Staat — und das ist für ihn das Problem der Demokratie 3) — mit den Worten: „Wie findet man eine Gesellschaftsform, die jedes Glied verteidigt und schützt und in der jeder einzelne, obgleich er sich mit allen vereint, dennoch nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher?“ Wie sehr ihm gerade die Freiheit der Grund- und Eckstein seines politischen Systems ist, das zeigt auch sein Ausfall gegen das parlamentarische Prinzip in England. „Das englische Volk wähnt frei zu sein, es täuscht sich außerordentlich; nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder ist es frei; nach Schluss derselben lebt es in Knechtschaft, ist es nichts. Rousseau zieht bekanntlich die Konsequenz der Unmittelbarkeit der Demokratie. Allein selbst wenn der herrschende Staatswille durch unmittelbaren Volksbeschluss zustande kommt, auch dann ist der einzelne nur in einem Augenblicke frei, nur während der Abstimmung, und auch das nur, wenn er mit der Majorität und nicht mit der unterlegenen Minorität gestimmt hat. Darum fordert das demokratische Freiheitsprinzip, dass die Möglichkeit einer Überstimmung auf ein Minimum beschränkt werde: Qualifizierte Majorität, womöglich Stimmeneinhelligkeit, werden als Garantien für die individuelle Freiheit angesehen. Sie sind bei der erfahrungsmäßigen Gegensätzlichkeit der Interessen für das praktische Staatsleben so indiskutabel, dass selbst ein Freiheitsapostel wie Rousseau Einstimmigkeit nur für den staatsbe gründenden Urvertrag fordert. Und diese Beschränkung des Prinzips der Einstimmigkeit auf den hypothetischen Akt der Staatsgründung ist keineswegs — wie man anzunehmen pflegt — bloß aus Opportunitätsgründen zu erklären. Dem aus der Freiheitsforderung entspringenden Prinzipe der Einstimmigkeit bei Abschluss des Grundvertrages würde streng genommen entsprechen, dass auch der Fortbestand der vertragsmäßigen Ordnung von der dauernden Zustimmung aller abhängig, dass somit jedermann frei sei, jederzeit die Gemeinschaft zu verlassen, sich der Geltung der sozialen Ordnung dadurch zu entziehen, dass er ihr seine Anerkennung verweigert. Hier zeigt sich deutlich der unlösbare Konflikt, in dem die Idee der individuellen Freiheit zur Idee einer sozialen Ordnung steht, die ihrem innersten Wesen nach nur in objektiver — d. h. nur in einer, letzten Endes von dem Willen des Normunterworfenen unabhängigen — Gültigkeit möglich ist 6) . Diese objektive Geltung sozialer Ordnung bleibt für eine auf das spezifisch Soziale gerichtete Erkenntnis zwar selbst dann unberührt, wenn der Inhalt dieser Ordnung irgendwie durch den Willen der Normunterworfenen bestimmt wird. Allein die formale Objektivität verlangt auch eine materielle. In dem Grenzfalle, wo das „du sollst“ des sozialen Imperativs bedingt wird durch ein „wenn und was du willst“ des Adressaten, verliert die Ordnung jeden sozialen Sinn. Darum muss, soll überhaupt Gesellschaft, soll insbesondere Staat sein, auch zwischen dem Inhalt der Ordnung und dem Inhalte der ihr unterworfenen Willen eine mögliche Differenz bestehen. Wäre die Spannung zwischen diesen beiden Polen, zwischen Sollen und Sein gleich Null, d. h. aber der Freiheitswert gleich unendlich, dann könnte von Unterworfenen überhaupt keine Rede mehr sein. Indem die Demokratie die nach der Idee der Freiheit — hypothetisch also — durch Vertrag, somit einstimmig zustandegekommene Ordnung durch Mehrheitsbeschluss fort bilden lässt, begnügt sie sich mit einer bloßen Annäherung an die ursprüngliche Idee. Dass noch von Selbstbestimmung die Rede ist und davon, dass jeder nur seinem eigenen Willen Untertan, wenn der Wille der Mehrheit Geltung beansprucht, das ist ein weiterer Schritt in der Metamorphose des Freiheitsgedankens7).

Aber auch der mit der Majorität Stimmende ist nicht mehr nur seinem eigenen Willen unterworfen. Das erfährt er sofort, wenn er seinen bei der Abstimmung geäußerten Willen ändert. Die rechtliche Unmaßgeblichkeit solcher Willensänderung zeigt ihm nur allzudeutlich den fremden Willen, oder, ohne Bild gesprochen: die objektive Geltung der Ordnung, der er unterworfen ist. Es müsste sich für seine Willensänderung eine Mehrheit finden, damit er, das Individuum, wieder frei sei. Und diese Konkordanz zwischen dem Willen des einzelnen und dem herrschenden Staatswillen ist um so schwieriger, diese Garantie für die individuelle Freiheit ist um so geringer, je qualifizierter die Majorität, die zur Erzeugung des abändernden Staatswillens erforderlich ist. Sie wäre so gut wie ausgeschaltet, falls Stimmeneinhelligkeit dazu nötig wäre. Hier zeigt sich eine höchst merkwürdige Doppelsinnigkeit der politischen Mechanik. Was früher bei der ganz nach der Idee der Freiheit sich vollziehenden Gründung der Staatsordnung zum Schutze der individuellen Freiheit diente, wird nunmehr zu ihrer Fessel, wenn man der Ordnung sich nicht mehr entziehen kann. Staatsgründung, Urzeugung der Rechtsordnung oder des Staatswillens kommt ja in der sozialen Erfahrung so gut wie überhaupt nicht in Betracht. Man wird doch zumeist in eine fertige Staatsordnung hineingeboren, an deren Entstehung man nicht mitgewirkt hat, und die einem daher von Anfang an als fremder Wille entgegentreten muss. Nur die Fortbildung, die Abänderung dieser Ordnung steht in Frage. Und unter diesem Gesichtspunkte bedeutet allerdings das Prinzip der absoluten (und nicht das der qualifizierten) Majorität die relativ größte Annäherung an die Idee der Freiheit.

2) Das kommt schon in dem Worte Ciceros zum Ausdruck: ,,Itaque nulla alia in civitate, nisi in qua populi potestas summa est, ullum domicilium libertas habet: qua quidem certe nihil potest esse dulcius et quae, siaequa non est, ne libertas quidem est“.

3) Das ist freilich keine unvoreingenommene Problemstellung. Fragt man nach dem Wesen der Demokratie, darf man diese nicht von vornherein als beste Staatsform voraussetzen. — Das scheint bei der im übrigen vorzüglichen Darstellung Steffens (Das Problem der Demokratie, 3. Aufl. 1917) zu unterlaufen, der in dem Bestreben, Demokratie als beste Staatsform zu erweisen, manchen ihrer charakteristischen Wesenszüge negiert, bloß weil er ihn — wenn auch vielleicht ganz mit Recht — für unvorteilhaft hält. — Natürlich ist das Gegenteil ebenso bedenklich. Man darf nicht die konstitutionelle Monarchie für die beste Staatsform halten, wenn man eine objektive ,,politische Beschreibung“ der Demokratie geben will, wie dies bei Hasbach (Die moderne Demokratie, 1912) der Fall ist. Vgl. dazu Anm. 15.

6) Die Theorie des Staats Vertrags, ebenso wie ihre moderne Spielart, die sog. Anerkennungstheorie, die die Geltung der Nonnen der Rechtsund Staatsordnung auf der Anerkennung der Normunterworfenen begründet, entspricht durchaus dem subjektivistisch-individualistischen Charakter der Demokratie. Wie die subjektivistische Erkenntnistheorie die Welt der Wirklichkeit als meine — des Erkennenden — Vorstellung, so behauptet die analoge Werttheorie der Demokratie allen Wert, insbesondere den entscheidenden sozialen Wert: den Staat oder das Recht, als meinen — des Wertenden — Willen. Wie die subjektivistische Erkenntnistheorie letztlich zum Solipsismus, so führt die ihr zugeordnete politische Werttheorie zum Anarchismus.

7) Auch das Gewohnheitsrecht hebt den Gegensatz von sozialem Sollen und individuellem Sein nicht auf — wie es wohl scheinen möchte; aber es reduziert ihn auf ein Minimum, indem es gebietet: Verhalte dich so, wie sich deine Genossen für gewöhnlich zu verhalten pflegen. Das Unrecht, der Ordnungsbruch wird so von vornherein zu einer bloßen Ausnahme von der Regel des Seins. Darin erweist das Gewohnheitsrecht seinen demokratischen Charakter gegenüber der Satzung, zumal wenn diese — wie in älterer Zeit — als Befehl einer Gottheit, eines die. Gottheit repräsentierenden Priesters oder eines von den Göttern abstammenden Heldenkönigs auftritt. Indem Theorie und Praxis des Gewohnheitsrechts sich gerade zu Zeiten des politischen Absolutismus geltend machen, wirke es — als konträres Prinzip und Gegengewicht — in der Richtung eines Machtausgleichs.

Aus ihr ist das Majoritätsprinzip abzuleiten. Nicht aber — wie dies meist zu geschehen pflegt — aus der Idee der Gleichheit. Dass die menschlichen Willen untereinander gleich seien, ist wohl die Voraussetzung des Majoritätsprinzips. Allein dieses Gleich-Sein ist nur ein Bild, kann nicht die effektive Messbarkeit, die Summierbarkeit menschlicher Willen oder menschlicher Persönlichkeiten bedeuten. Es wäre unmöglich, das Majoritätsprinzip damit zu rechtfertigen, dass mehr Stimmen ein größeres Gesamtgewicht haben als weniger Stimmen. Aus der rein negativen Präsumtion, dass einer nicht mehr gelte als der andere, kann noch nicht positiv folgen, dass der Wille der Mehrheit gelten solle. Wenn man das Mehrheitsprinzip allein aus der Idee der Gleichheit abzuleiten versucht, hat es tatsächlich jenen rein mechanischen, ja sinnlosen Charakter, den man ihm von autokratischer Seite vorwirft. Es wäre nur der notdürftig formalisierte Ausdruck der Erfahrung, dass die mehreren stärker sind als die wenigeren; und der Satz: Macht geht vor Recht, wäre nur insofern überwunden, als er sich selbst zum Rechtssatz erhöbe. Nur der Gedanke, dass — wenn schon nicht alle — so doch möglichst viel Menschen frei sein, d. h. möglichst wenig Menschen mit ihrem Willen in Widerspruch zu dem allgemeinen Willen der sozialen Ordnung geraten sollen, führt auf einem vernünftigen Wege zum Majoritätsprinzip. Dass dabei natürlich die Gleichheit als die Grundhypothese der Demokratie vorausgesetzt wird, zeigt sich eben darin, dass nicht gerade dieser oder jener frei sein soll, weil dieser nicht mehr gilt als jener, sondern dass möglichst viele frei sein sollen. Und da ist eben die Konkordanz zwischen Einzel- und Staatswillen um so leichter, mit je weniger anderen Individualwillen eine Uebereinstimmung notwendig ist, um eine Abänderung des Staatswillens herbeizuführen. Die absolute Majorität stellt hier tatsächlich die oberste Grenze dar. Bei weniger wäre die Möglichkeit gegeben, dass der Staatswille im Augenblicke seiner Erzeugung mit mehr Individualwillen in Widerspruch als in Einklang steht; bei mehr, dass eine Minderheit den Staatswillen — indem sie dessen Abänderung verhindert — im Widerspruch zu einer Mehrheit zu bestimmen Vermag 8).

8) Darum kann die in die meisten Verfassungen aufgenommene Bestimmung einer qualifizierten Majorität für Verfassungsänderungen, das Prinzip der starren Verfassung nicht als demokratisch gelten.

Angesichts der unvermeidlichen Differenz zwischen dem Willen des einzelnen, der den Ausgangspunkt der Freiheitsforderung bildet, und der staatlichen Ordnung, die dem einzelnen als fremder Wille entgegentritt, selbst in der Demokratie entgegentritt, wo diese Differenz nur annäherungsweise auf ein Mindestmaß herabgesetzt ist, vollzieht sich ein weiterer Wandel in der Vorstellung von der politischen Freiheit. Die im Grunde genommen unrettbare Freiheit des Individuums tritt allmählich in den Hintergrund und die Freiheit des sozialen Kollektivums in den Vordergrund. Der Protest gegen die Herrschaft von meinesgleichen führt im politischen Bewusstsein zu einer Verschiebung des Subjektes der — auch in der Demokratie unvermeidbaren — Herrschaft: zur Konstruktion der anonymen Person des Staates. Von ihr und nicht von äußerlich sichtbaren Menschen lässt man das Imperium ausgehen. Ein geheimnisvoller Gesamtwille und eine geradezu mystische Gesamtperson wird von den Willen und Persönlichkeiten der einzelnen losgelöst. Diese fiktive Isolierung vollzieht sich nicht so sehr gegenüber den Willen der Untertanen, als vielmehr gegenüber den Willen derjenigen Menschen, die die Herrschaft faktisch ausüben, und die nunmehr als bloße Organe eines hypostasierten Herrschaftssubjektes erscheinen. So verdeckt der Schleier der Staatspersonifikation das dem demokratischen Empfinden unerträgliche Faktum einer Herrschaft Von Mensch über Mensch. Die für die Staatsrechtslehre grundlegend gewordene Personifikation des Staates hat zweifellos ihre Wurzel auch in dieser Ideologie der Demokratie.

Ist aber einmal die Vorstellung beseitigt, dass meinesgleichen herrscht, verschließt man sich nicht mehr der Erkenntnis, dass das Individuum, sofern es der Staatsordnung gehorchen muss, unfrei ist. Es verschiebt sich eben mit dem Subjekte der Herrschaft das Subjekt der Freiheit. Man betont zwar um so nachdrücklicher, dass das Individuum, sofern es in organischer Verbindung mit anderen Individuen die Staatsordnung erzeugt, in eben dieser Verbindung und nur in ihr „frei“ sei. Der Rousseausche Gedanke, dass der Untertan seine ganze Freiheit aufgibt, um sie als Staatsbürger wieder zurückzuerhalten, ist darum so charakteristisch, weil in dieser Unterscheidung von Untertan und Staatsbürger der gänzliche Standpunktwechsel in der sozialen Betrachtung, die völlige Verschiebung der Problemstellung angedeutet ist. Der Untertan ist das isolierte Individuum einer individualistischen, der Staatsbürger das unselbständige, nur Teil eines höheren organischen Ganzen bildende Glied des Kollektivwesens einer universalistischen Gesellschaftserkenntnis; eines Kollektivwesens, das von dem durchaus individualistischen Ausgangspunkt der auf Freiheit eingestellten Wertung einen transzendenten, metaphysischen Charakter hat 9). Der Szenenwechsel ist ein solch vollständiger, dass es im Grunde genommen nicht mehr richtig ist, zumindest nicht mehr darauf ankommt, zu behaupten, der einzelne Staatsbürger sei frei. Die — von manchen Autoren auch folgerichtig gezogene — Konsequenz erfordert, dass, weil die Staatsbürger nur in ihrem Inbegriffe: dem Staate frei sind, eben nicht der einzelne Staatsbürger, sondern die Person des Staates frei sei. Das drückt auch der Satz aus, dass frei nur der Bürger eines freien Staates sei. An die Stelle der Freiheit des Individuums tritt die Souveränität des Volkes oder, was dasselbe ist: der freie Staat, der Freistaat als grundsätzliche Forderung 10) . Das ist die letzte Stufe in dem Bedeutungswandel des Freiheitsgedankens. Wer der Selbstbewegung nicht folgen will oder nicht zu folgen vermag, wie dieser Begriff kraft immanenter Logik vollzieht, der mag sich über den Widerspruch aufhalten, der zwischen dem ursprünglichen und dem schließlichen Sinne liegt und auf ein Verständnis der Schlussfolgerungen verzichten, die der geistreichste Schilderer der Demokratie gezogen, indem er auch vor der Behauptung nicht zurückschreckte, dass der Staatsbürger nur durch den allgemeinen Willen frei sei und dass man daher denjenigen, der diesem Willen den Gehorsam verweigert, indem man ihm gegenüber den Staats willen erzwingt, zwingt — frei zu sein. Es ist mehr als bloß paradox, es ist ein Sinnbild der Demokratie, wenn in der Genuesischen Republik über den Gefängnistüren und auf den Ketten der Galeerensklaven das Wort „libertas“ zu lesen war 11)!

9) Rousseaus volonté generale — der anthropomorphe Ausdruck für die objektive, von dem Willen der Individuen, der volonté des tous, unabhängig gültige Staatsordnung — ist mit der Theorie des Staatsvertrags — der eine Funktion der subjektiven volonté des tous ist — völlig unvereinbar. Allein dieser Widerspruch zwischen einer individualistischen und einer universalistischen Konstruktion oder — wenn man will — diese Bewegung von einet subjektivistischen Ausgangsposition zu einem objektivistischen Endresultat ist für Rousseau nicht weniger charakteristisch wie für Kant und Fichte.

10) Die Volkssouveränität als ,, demokratische Grundforderung“ weist Steffen ebenso in Rousseaus contrat social wie in der Nordamerikanischen Deklaration of independence (1776) und in der französischen Declaration des droits de l'homme et du citoyen (1789) nach. A. a. O. S. 75 ff. „Volkssouveränität“ ist gleichbedeutend mit dem — neuestens geläufigeren — Begriff „Selbstbestimmungsrecht des Volkes“. In diesem scheint ein gewisser innerer Widerspruch zu liegen. Damit das Volk sich selbst bestimmen könne, muss es vorher selbst als solches, nämlich als politische Einheit, irgendwie bestimmt, vor allem abgegrenzt sein. Diese Bestimmung kann aber niemals autonom, sondern muss — ihrem Wesen nach — heteronom sein.

11) Nach Rousseau a. a. O. IV. Buch, 2. Kap.