Diktatur und Demokratie

Gerade gegenüber solcher Diktatur enthüllt die Demokratie ihr tiefstes Wesen, zeigt sie ihren höchsten Wert. Weil sie den politischen Willen jedermanns gleich einschätzt, muss sie auch jeden politischen Glauben, jede politische Meinung, deren Ausdruck ja nur der politische Wille ist, gleichermaßen achten. Auch die gegenteilige Meinung muss man für möglich halten, wenn man auf die Erkenntnis eines absoluten Wertes verzichtet. Der Relativismus ist daher die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt. Darum gibt er jeder politischen Überzeugung die gleiche Möglichkeit, sich zu äußern und im freien Wettbewerb um die Gemüter der Menschen sich geltend zu machen. Die für die Demokratie so charakteristische Herrschaft der Majorität unterscheidet sich Von jeder anderen Herrschaft dadurch, dass sie eine Opposition — die Minorität — ihrem innersten Wesen nach nicht nur begrifflich voraussetzt, sondern auch politisch anerkennt und in den Grund- und Freiheitsrechten, im, Prinzipe der Proportionalität schützt. Je stärker aber die Minorität, desto mehr wird die Politik der Demokratie eine Politik des Kompromisses, wie auch für die relativistische Weltanschauung nichts charakteristischer ist, als die Tendenz zum vermittelnden Ausgleich zwischen zwei gegensätzlichen Standpunkten, von denen man sich keinen ganz und vorbehaltlos und unter völliger Negation des anderen zu eigen machen kann. Die Relativität des Wertes, den ein bestimmtes politisches Glaubensbekenntnis aufrichtet, die Unmöglichkeit für ein politisches Programm, für ein politisches Ideal — bei aller subjektiven Hingebung, bei aller persönlichen Überzeugung — absolute Gültigkeit zu beanspruchen, zwingt gebieterisch zu einer Ablehnung auch des politischen Absolutismus, mag das nun der Absolutismus eines Monarchen, einer Priester-, Adels-, Kriegerkaste, einer Klasse oder sonst einer privilegierten, jede andere ausschließenden Gruppe sein. Wer sich in seinem politischen Wollen und Handeln auf göttliche Eingebung, auf überirdische Erleuchtung berufen kann, der mag das Recht haben, sein Ohr der Stimme des Menschen zu verschließen, und seinen Willen, als den Willen des absolut Guten, auch gegen eine Welt von Ungläubigen, Verblendeten, weil anders Wollenden durchzusetzen. Darum konnte die Losung des Gottesgnadentums christlicher Monarchie sein: Autorität nicht Majorität, jene Losung, die der konservative Rechtsphilosoph Stahl geprägt hat und die zum Angriffsziel für alles geworden ist, was für geistige Freiheit, für wunderund dogmenbefreite, auf dem menschlichen Verstände und dem Zweifel der Kritik gegründete Wissenschaft, politisch aber: für Demokratie ist. Denn wer sich nur auf irdische Wahrheit stützt, wer nur menschliche Erkenntnis die sozialen Ziele richten lässt, der kann den zu ihrer Verwirklichung unvermeidlichen Zwang kaum anders rechtfertigen, als durch die Zustimmung wenigstens der Mehrheit derjenigen, denen die Zwangsordnung zum Heile gereichen soll. Und diese Zwangsordnung darf nur so beschaffen sein, dass auch die Minderheit, weil nicht absolut im Unrecht, nicht absolut rechtlos, jederzeit selbst zur Mehrheit werden kann. Das ist der eigentliche Sinn jenes politischen Systems, das wir Demokratie nennen, und das nur darum dem politischen Absolutismus entgegengestellt werden darf, weil es der Ausdruck eines politischen Relativismus ist.

Im 18. Kapitel des Evangelium Johannis wird eine Begebenheit aus dem Leben Jesu geschildert. Die schlichte, in ihrer Naivität lapidare Darstellung gehört zu dem großartigsten, was die Weltliteratur hervorgebracht hat; und, ohne es zu beabsichtigen, wächst sie zu einem tragischen Symbol des Relativismus und der — Demokratie. Es ist zur Zeit des Osterfestes, als man Jesus unter der Anklage, dass er sich für den Sohn Gottes und den König der Juden ausgebe, vor Pilatus, den römischen Statthalter führt. Und Pilatus fragt ihn, der in des Römers Augen nur ein armer Narr sein kann, ironisch: Also du bist der König der Juden? Und Jesus antwortet im tiefsten Ernste und ganz erfüllt von der Glut seiner göttlichen Sendung: Du sagst es. Ich bin ein König, und bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich der Wahrheit Zeugnis gebe. Jeder der aus der Wahrheit ist, höret meine Stimme. Da sagt Pilatus, dieser Mensch einer alten, müde und darum skeptisch gewordenen Kultur: Was ist Wahrheit? — Und weil er nicht weiß, was Wahrheit ist und weil er — als Römer — gewohnt ist demokratisch zu denken, appelliert er an das Volk und veranstaltet — eine Abstimmung. — Er ging hinaus zu den Juden, erzählt das Evangelium, und sprach zu ihnen: Ich finde keine Schuld an ihm. Es ist aber bei euch Herkommen, dass ich euch am Osterfeste einen freigebe. Wollt Ihr nun, dass ich euch den König der Juden freigebe? — Die Volksabstimmung fällt gegen Jesus aus. — Da schrieen wiederum alle und sagten: Nicht diesen, sondern Barabbas. — Der Chronist aber fügt hinzu: Barabbas war ein Räuber.


Vielleicht wird man, werden die Gläubigen, die politisch Gläubigen einwenden, dass gerade dieses Beispiel eher gegen als für die Demokratie spreche. Und diesen Einwand muss man gelten lassen; freilich nur unter einer Bedingung: Wenn die Gläubigen ihrer politischen Wahrheit, die, wenn nötig, auch mit blutiger Gewalt durchgesetzt werden muss, so gewiss sind, wie — der Sohn Gottes.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vom Wesen und Wert der Demokratie