Demokratie und Praxis

Solcher Wandel der Theorie auf dem Wege zur Praxis ist allzu begreiflich! Wenn Demokratie nicht nur im Reiche der Ideen aufgerichtet werden soll, wenn Demokratie zu einem Problem sozialer Technik wird, dann zeigen sich erst die engen Grenzen, die hier dem politischen Willen, auch dem besten und ehrlichsten, gesetzt sind. Zur Aufgabe ist gestellt : eine Verfassungsform, in der das Volk sich selbst beherrscht. Allein der Realität, die man als Volk bezeichnen kann, fehlt, was vor allem nötig ist, um eine Herrschaft ausüben zu können, die Einheit. Von nationalen, religiösen und wirtschaftlichen Gegensätzen gespalten, stellt es — seinem soziologischen Befunde nach — eher ein Bündel von Gruppen, als eine zusammenhängende Masse eines und desselben Aggregatzustandes dar. Die Einheit des Volkes ist größtenteils ein moralisch politisches Postulat. Und dennoch ist der einheitliche Volkswille die unerlässliche Hypothese für eine Herrschaft des Volkes, die Grundlage, auf der das Gebäude der demokratischen Verfassung aufgebaut wird. Wenn diese das Volk als Einheit in einem einheitlichen Wahlakt einen einheitlichen Vertretungskörper wählen lässt, trifft sie der Vorwurf, dass sie als Realität voraussetzt, was zunächst nur als Postulat seine Geltung hat. Die von der Demokratie angenommene Gleichheit der Individuen bedeutet eine radikale Mechanisierung des sozialen Organisationsprozesses und schafft eine Form, bei der die organische Gliederung des sozialen Körpers und die große Verschiedenheit des Wertes, den die einzelnen Glieder für die Gesamtfunktion haben, nicht zum Ausdrucke kommen kann. Dieser Einwand ist von jeher gegen die Demokratie von der Autokratie, insbesondere von der Aristokratie in ihren verschiedenen Formen erhoben worden. Indem nun die Räteverfassung das Proletariat als eine politisch privilegierte, ja politisch allein berechtigte Klasse von Staatsbürgern konstituiert, die Grundsätze der radikalen Demokratie auf diese Gruppe allein beschränkend, indem sie die Privilegierung dieser Gruppe gegenüber der politischen Entrechtung aller anderen auf den besonderen Beruf und die besondere Befähigung gerade dieser Klasse zur Herrschaft, auf die besondere Bedeutung derselben für den Staatszweck gründet, nähern sich die Argumentationen für die Räteverfassung mitunter gewissen scheinbar längst überholten und bisher als recht reaktionär geltenden Gedankengängen. Das zeigt sich besonders deutlich in den politischen Ausstrahlungen des Rätegedankens, in den Tendenzen, die er außerhalb Rußlands speziell in Deutschland gezeitigt und an seiner wahrscheinlich unbeabsichtigten Wirkung auf die Organisation der nicht proletarischen Klassen. Indem das Rätesystem das demokratische Prinzip durch eine in sich widerspruchsvolle Einschränkung, durch einen Verzicht auf die Allgemeinheit der gleichen Rechte aufhebt, wurde die Rückbildung zu vordemokratischen Organisationsformen, die Wiederbelebung der Ständeverfassung angebahnt. Denn neben den Arbeiterräten, die alle politische Macht an sich zu reißen bestrebt sind, beginnen sich Bürger- und Bauernräte zu bilden, die ihren Anteil an der Staatsgewalt fordern. Neben, ja gegen die geschriebene demokratische Verfassung, sehen wir in Deutschland wie in Österreich starke Ansätze zu einer ständischen Organisation entstehen. Es ist zwar heute noch nicht möglich festzustellen, ob es sich dabei um dauernde oder nur um vorübergehende Erscheinungen handelt. Doch darf nicht unterlassen werden, auf die schweren Mängel einer ständischen Organisation hinzuweisen. Soll nicht ein steter Kampf der einzelnen Gruppen um die entscheidende, d. h. ausschließliche Macht im Staate dessen Grundlagen ständig erschüttern, können die allen Gruppen gemeinsamen, also staatlichen Angelegenheiten nur in Übereinstimmung aller Stände besorgt werden. Die ungeheure Schwerfälligkeit dieses Apparates mit seiner inneren Konkurrenz der zahlreichen, ständisch abgegrenzten Bureaukratien, seine geradezu auflösende Tendenz machen ihn für moderne Verhältnisse unmöglich. Gerade darin liegt ja ein Vorzug der Demokratie und ihres Majoritätsprinzips, dass sie bei größtmöglicher Einfachheit der Organisation doch immerhin eine gewisse politische Integration der Staatsgesellschaft gewährleistet. Die Praxis der Demokratie entwickelt eben schrittweise oder hat doch wenigstens die Tendenz, dies zu tun, was ihre Theorie schon voraussetzt.

Gewiss wäre es verfehlt, die Wirkung dieser Integration zu überschätzen und zu vermeinen, die Praxis der Demokratie könne jemals vollkommen erreichen, was ihre Theorie in der Fiktion voraussetzt: die Einheit des Volkes, die man nur allzu leicht hinter der Einheit des Staates vermutet oder gar mit ihr identifiziert. Auch von der Demokratie gilt das Wort, das Nietzsche vom „neuen Götzen“ sagt: „Staat heißt das kälteste aller Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: Ich, der Staat, bin das Volk“ 33). Dass der auf juristischem Wege erzeugte „Wille des Staates“ der „Wille des Volkes“ sei, ist selbst dann eine Fiktion — wenn auch eine Fiktion mit geringster Wirklichkeitsdistanz — wenn das Willensbildungsverfahren demokratisch organisiert ist. Nicht weil die Demokratie den wahren Willen des Volkes zutage zu fördern außerstande wäre und eine andere Form es besser vermöchte — wenn dies einer gelingt, so ist es die Demokratie — sondern weil das politische Grundphänomen des Volkswillens an und für sich im höchsten Grade problematisch ist. Unbefangener, von der juristischen Form abstrahierender Betrachtung der tatsächlichen Vorgänge bei der sozialen Willensbildung kann nicht verborgen bleiben, dass die niemals automatisch, niemals aus sich selbst bewegliche Masse die dem Wollen spezifische, initiativ schöpferische Funktion nicht zu leisten vermag. Das für die Richtung und den Inhalt des Volkswillens entscheidende Stadium liegt meist vor dem demokratischen Verfahren, in dem er — richtiger seine politische Ausdrucksform, der Staatswille — erzeugt wird, und hat durchaus autokratischen Charakter: Der Führerwille eines einzelnen wird dem Willen der Vielen aufgezwungen. In der Realität des sozialen Geschehens behauptet sich das Gesetz der kleineren Zahl 34); die Wenigen herrschen über die Vielen. Und unter diesem Gesichtspunkte ist die Frage der besten Staatsform die Frage nach der besten Methode der Führerauslese. Gerade das aber kann man der Demokratie nachrühmen, dass sie das bestmögliche Selektionsprinzip garantiert 35). Einmal, weil sie die größtmögliche Basis für die Auslese schafft, weil sie den Kampf um die Führerschaft auf die breiteste Grundlage stellt, ja schon darum, weil sie überhaupt die Führerschaft in den öffentlichen Wettbewerb setzt. Dann aber, weil wirkliche Führerqualitäten in diesem Kampfe Aussicht auf den Sieg haben. Wer die Methoden kennt, nach denen in bureaukratisch-autokratischen Monarchien etwa die leitenden Stellen in der Exekutive, vor allem die Ministerposten erworben werden, der kann nicht umhin festzustellen, dass hier leicht das Prinzip einer umgekehrten Auslese maßgebend sein kann. Es hat gewiss tieferen Sinn, dass man von einem „sich hinauf dienen“ spricht. Nicht wer am besten herrschen, sondern wer am besten dienen, um nicht zu sagen dienern kann, erreicht das Ziel. Und es ist psychologisch gewiss begreiflich, dass der geborene Herrscher nur Diener um sich sehen will, nur Diener brauchen zu können glaubt.


33) Also sprach Zarathustra, I. Teil.

34) Vgl. dazu Wieser, Recht und Macht, 1910, S. 15.

35) Vgl. dazu Max Weber a. a. O. S. 55 ff .


Dass Demokratie die beste Führerauslese gewährleistet, dieser Vorzug ihrer Wirklichkeit steht freilich in einem Widerspruche zu ihrer Idee. Denn Demokratie ist das Ideal der Führerlosigkeit. Recht aus ihrem Geiste sind die Worte, die Platon in seiner Politeia dem Sokrates bei der Frage in den Mund legt, wie in dem Idealstaate ein Mann von hervorragender Qualität, ein Genie behandelt werden soll. „Wir würden ihn als ein anbetungswürdiges, wunderbares und liebenswürdiges Wesen verehren; aber nachdem wir ihn darauf aufmerksam gemacht, dass es einen solchen Mann in unserem Staate nicht gebe, und auch nicht geben dürfe, würden wir ihn, sein Haupt mit Öl salbend und bekränzend — über die Grenze geleiten“ 36). So will es allerdings die demokratische Forderung der Gleichheit. Allein man muss sich in politischen Dingen gewöhnen, zwischen Realität und Ideologie zu unterscheiden. „Wenn man das Wort Demokratie in der ganzen Strenge seiner Bedeutung nimmt, — sagt Rousseau — so hat es noch nie eine wahre Demokratie gegeben und wird es auch nie geben. Es verstößt gegen die natürliche Ordnung, dass die größere Zahl regiere und die kleinere regiert werde.“ Und er schließt dieses Kapitel — wohl etwas allzu resigniert — mit den Worten: „Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung passt für Menschen nicht“ 37). Allein so wie aus der Freiheit des Individuums die Volkssouveränität des Freistaates, so wird aus der grundsätzlichen Gleichheit der Individuen die Tendenz möglichster Ausgleichung. Die dogmatische Voraussetzung, dass alle Bürger gleich geeignet seien, jede beliebige Staatsfunktion zu leisten, wird schließlich zur bloßen Möglichkeit, alle Bürger zu den Staatsfunktionen geeignet zu machen. Die Erziehung zur Demokratie wird eine der praktischen Hauptforderungen der Demokratie selbst 38). Und obgleich alle Erziehung als ein Verhältnisses Lehrers zum Schüler, als geistige Führer und Gefolgschaft, ihrem innersten Wesen nach, in einem guten Sinne, autokratisch-autoritär ist, gestaltet sich das Problem der Demokratie in der Praxis des sozialen Lebens dennoch zu einem Erziehungsproblem allergrößten Stiles 39). Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Frage nach der Befähigung einer bestimmten Klasse zur Herrschaft oder Mitherrschaft im Staate zu beurteilen. Und das ist eine Frage, sollte doch eine Frage sein. Es ist einer der Irrtümer der sozialistischen Theorie von der Diktatur des Proletariats, dass sie, die sich die soziale Revolution — begreiflicherweise — ganz nach Analogie der bürgerlichen Revolutionen von 1789 und 1848 vorstellte, von der selbstverständlichen Annahme ausging, das Proletariat werde zur Übernahme der Gewalt ebenso befähigt sein, wie es seinerzeit die Bourgeoisie war“ 40). Allein das Bürgertum war — kraft seiner wirtschaftlichen Situation — in der Lage gewesen, sich für die politische Herrschaft, von der es der Adel ferne gehalten hatte, vorzubereiten. Es ist vielleicht ein tragisches Geschick, dass die politische Herrschaft dort, wo sie bisher vom Proletariate erobert wurde, in unvorbereitete Hände fiel, die — eben darum — nicht imstande sind, sie dauernd festzuhalten. Nicht allein die Verwaltungskatastrophe der russischen sozialistischen Republik ist damit gemeint, sondern auch die außerordentlichen Schwierigkeiten, die der von Abkömmlingen der Bourgeoisie geführten sozialdemokratischen Partei in Deutschland wie in Österreich daraus erwachsen, dass sie innerhalb des Proletariates über die qualifizierten Kräfte nicht verfügt, die sie benötigt, um sich des Verwaltungsapparates auch nur in jenem beschränkten Maße zu bemächtigen, als dies einer bürgerlich-sozialistischen Regierungskoalition entspricht.

Die gerade für die praktische Durchsetzung gefährliche Problematik des Zentralbegriffes der demokratischen Ideologie, die Unsicherheit in der Bestimmung des Begriffes Volk 41) , zeigt sich auch bei dem Versuche, einer irgendwie bestimmten Abgrenzung desselben. Was gehört eigentlich zum Volke? Das ist eine Frage, die verschiedene Demokratien sehr verschieden beantwortet haben. So einleuchtend es ist, dass die Idee der Demokratie eine möglichst extensive Interpretation des Begriffes fordert, so sicher ist es, dass praktische Rücksichten in den verschiedensten Richtungen nach Restriktion drängen. Indem man in den meisten Demokratien Kinder, Geisteskranke, Verbrecher, Ausländer, Frauen, Sklaven — je nach dem Standpunkte der Welt- und Lebensanschauung alle oder nur einige dieser Kategorien — von der politischen Berechtigung ausschloss, beschränkte man das „Volk“ im politischen Sinne auf einen verhältnismäßig verschwindend kleinen Teil jener Menschenmenge, die ethnographisch als Volk angesprochen werden muss. Dabei leistet natürlich wieder die Fiktion der Repräsentation gute Dienste. Denn selbst wenn der Kreis des politischen Volkes, d. i. der politisch Berechtigten, noch so eng gezogen ist, verzichtet man nicht darauf, ihn als Repräsentanten der großen alle ausnahmslos umfassenden Gemeinschaft gelten zu lassen. Stellt man aber dem Volke im natürlichen Sinne nicht die politisch berechtigten Personen, den Idealbegriff des politischen Volkes, sondern das Häuflein der politisch wirklich Tätigen, ihre politischen Rechte, und sei es auch nur das Wahlrecht zur Volksvertretung, effektiv Ausübenden, also den Realbegriff des politischen Volkes gegenüber, dann läuft — kann durch Erziehung das politische Interesse nicht verallgemeinert werden — Demokratie allerdings Gefahr, zur Farce zu werden.

36) Politeia, III, 9. Es handelt sich um einen Mann, „der durch sein Geschick alles mögliche werden und alle Dinge nachahmen könnte“. Es ist sehr bezeichnend, dass die Ausschließung eines solchen vielseitigen Genies mit Berufung auf die notwendige Arbeitsteilung erfolgt.

37) A. a. O., III. Buch, 4. Kap.

38) Vgl. dazu meine Abhandlung „Politische Weltanschauung und Erziehung“ in den „Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung“, 2. Bd., i. Heft, S. I ff. (1912).

39) Vgl. dazu Steffen a. a. O. S. 97.

40) Sehr treffend Steffen a. a. O. S. 148, 149.

41) „Demokratisch gesehen gibt es gar keinen Volkswillen als Ganzes und Fassbares. Das Volk setzt sich aus den Willensäußerungen der Vielen zusammen. Indem die vielen in gesetzliche, regelrechte Verhältnisse zu einander treten und Recht pflegen, wird die Mehrheit ihrer Willen zu einem Volkswillen. Dass der schöpferischen Rechtskraft ein besonderer Gemeinschaftswille neben dem Willen zum Schutz der Autonomie eines jeden innewohnt, fällt den Ideologen des demokratischen nicht auf“. Koigen a. a. O. S. 142. Hier drängt vielleicht der Gedanke hervor, dass die Einheit des Volkes nur als Organisation, d. h. aber als Rechtsordnung möglich ist. Daher auch die gelegentliche Frage Koigens: „Vielleicht decken gar die Begriffe Volk und Recht einander“? A. a. O. S. 7.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vom Wesen und Wert der Demokratie