Verwaltung und Demokratie

Ob Parlamente — sei es die zentrale Volksvertretung, seien es Lokal- oder Fachparlamente — zur Durchführung von Verwaltungsaufgaben besonders geeignet sind, ist eine andere Frage. Sicherlich kann man sich der Erkenntnis nicht verschließen, dass die Gesetzgebung normalerweise als Fortbildung und Abänderung einer bestehenden Grundordnung keinem permanenten, sondern einem fallweisen Bedürfnis entspricht. Die gesetzgebende Körperschaft eines wohlorganisierten Staates sollte eigentlich nur ausnahmsweise in Tätigkeit kommen, wenn es gilt, etwas an den Grundmauern des Gebäudes zu verbessern. Es ist daher begreiflich, dass die Mitgliedschaft im Parlament nicht Haupt- und Lebensberuf ist. Der Abgeordnete ist und bleibt als solcher Bauer, oder Arbeiter, Gewerkschaftssekretär, Rechtsanwalt, Staatsbeamter usw.; die Verwaltung aber ist sozusagen das tägliche Leben des Staates, ihre Funktionen fordern den ganzen Menschen. Zumal im modernen Staate mit seinen weitgehenden, tief ins Wirtschafts- und Kulturleben eingreifenden Aufgaben. Darum muss das Organ der Staats-Verwaltung als solches im Hauptberuf tätig sein; und muss sich die Auswahl der Organe nach fachlichen Gesichtspunkten vollziehen. Nicht als ob der letztere Gesichtspunkt nicht auch für die legislative Funktion und die Zusammensetzung der gesetzgebenden Körperschaft maßgebend sein sollte! Weil er es tatsächlich nicht ist, erlangt ja die Bureaukratie — der hauptberuflich tätige Fachbeamte 25) — jenes zur Scheindemokratie führende Übergewicht über das Parlament, das die ihm von der Zentralstelle ausgearbeiteten Gesetzentwürfe mit mehr oder weniger wesentlichen Änderungen (meist sehr fragwürdigen Verbesserungen) beschließt. In dieser Bureaukratie liegt die größte Gefahr für die Demokratie. Alle Bureaukratie neigt notwendigerweise zur Autokratie. Der Kampf gegen die Bureaukratie, den der Bolschewismus mit leidenschaftlichem Elan — wenigstens theoretisch — führt, ist ein Kampf für die Demokratie. Es wäre Selbsttäuschung, zu glauben, die Autokratie des Berufsbeamtentums läge nur in der Art der Berufung; wenn an Stelle der Ernennung durch die vorgesetzte Stelle die Wahl durch diejenigen Personen tritt, deren Interessen der Berufsbeamte zu versorgen hat, sei Demokratie gesichert. Wer auf Lebensdauer und -kraft seiner durch besondere Ausbildung und Erfahrung erworbenen Fachkenntnisse ein Amt versieht, wird fast immer, auch wenn er durch Wahl berufen wird, einem Kollegium von Leuten überlegen sein, die nur auf kurze Zeit gewählt, aus tausend Gründen die fachliche Arbeit von sich abwälzen müssen. Es ist in solchen Fällen meist nicht schwer zu unterscheiden, wo der Schein und wo die Wirklichkeit der Macht ist. Konsequente Demokratien dürfen daher kein Berufs- und Fachbeamtentum mit einer nur durch Altersgrenze beschränkten Funktionsdauer dulden. Womöglich nur gewählte Ehrenbeamte mit kurzer Funktionsperiode oder Berufung der öffentlichen Funktionäre durch das Los, wenn nicht gar die Bestimmung eines festen Turnus, nach dem jeder Bürger durch eine gewisse Zeit jede staatliche Funktion auszuüben hat. Das entspricht vor allem dem demokratischen Gleichheitsprinzip, mit dem ja die Vorstellung von Fachbeamten unvereinbar ist. Natürlich ist eine solche Organisation der Verwaltung ebenso wie die unmittelbare Beschlussfassung durch die Volksversammlung, ist ein solcher Grad von Demokratie nur bei sehr einfachen wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnissen, bei einer außerordentlichen Einschränkung der staatlichen Aufgaben möglich. Die Abschaffung des Berufsbeamtentums ist ebenso wie die Ablehnung des Parlamentarismus einfach die Aufhebung der Arbeitsteilung und damit jeder fortschrittlichen Entwicklung, jeder kulturellen Differenzierung innerhalb des politischen Lebens 26).

25) Max Weber a. a. O. S. 14: „In einem modernen Staate liegt die wirkliche Herrschaft, welche sich ja weder in parlamentarischen Reden noch in Enunziationen von Monarchen, sondern in der Handhabung der Verwaltung auswirkt, notwendig und unvermeidlich in den Händen des Beamtentums.“ Und er führt weiter aus, „dass der Fortschritt zur bureaukratischen, auf Anstellung, Gehalt, Pension, Avancement, fachmäßige Schulung und Arbeitsteilung, festen Kompetenzen, Aktenmäßigkeit, hierarchischer Unter- und Überordnung ruhenden Beamtentum“ „der eindeutige Maßstab der Modernisierung des Staates“ sei.


26) Max Weber, für den Bureaukratisierung und Fortschritt zusammenfällt, meint: „Der Bureaukratie gehört die Zukunft“ (a. a. O. S. 27). Zur Beurteilung der antibureaukratischen Tendenzen des Bolschewismus sind die Feststellungen Max Webers über die der Bureaukratie immanente Lebenskraft von größter Bedeutung.


Sicherlich ist es kein Zufall, dass der Philosoph der unmittelbaren Demokratie zugleich die Rück kehr zur Natur gepredigt hat, und es ist sehr bezeichnend, dass Montesquieu für die Grundlage der Demokratie die Tugend erklärt, die Rousseau treffend vor allem als Einfalt der Sitten deutet. Er macht gelegentlich die richtige Bemerkung, die Verwaltung der Demokratie sei um so besser, je einfachere Verrichtungen sie notwendig mache. Auch in diesem Punkte, in dieser Tendenz zum Primitivismus, erweist die politische Theorie des Bolschewismus nur ihren demokratischen Charakter. In dem Über- und Unterordnungsverhältnis der bureaukratischen Organisation sieht Lenin das Charakteristikum jenes Staates, dessen „Absterben“ mit der Diktatur des Proletariates beginne. Er glaubt an einen schließlichen Gesellschaftszustand, in dem es keine „Vorgesetzten“, keine obrigkeitlichen Beamten und daher überhaupt keinen Staat mehr geben wird, weil alle sozialen — ehemals staatlichen — Funktionen, wie er sagt, „abwechselnd von allen ausgeübt, später zur Gewohnheit werden und allmählich als Sonderfunktion einer besonderen Schicht von Menschen — gemeint ist der die gesamte Staatsgewalt monopolisierende bureaukratische Apparat — in Fortfall kommen“. Diese Zukunftsentwicklung ist allerdings nur unter der einen Voraussetzung möglich, dass sich die sozialen Funktionen „immer einfacher gestalten“ werden. Dass Lenin diese Voraussetzung wörtlich setzt, gehört zu den Unbegreiflichkeiten eines theoretischen Systems, das eine straffe und autoritäre Organisation des gesamten Wirtschafts- und Kulturlebens, also eine Verstaatlichung der ganzen Gesellschaft und zugleich die Staatslosigkeit des Anarchismus proklamiert 29). Auch in dieser Neigung zum Anarchismus, die ja mit der Tendenz zum Primitivismus aufs engste verbunden ist, zeigt sich der Bolschewismus nur als radikaler Demokratismus.

29) Vgl. dazu meine Schrift „Sozialismus und Staat“, S, 44 ff., wo ich den Widerspruch zwischen der ökonomischen (auf autoritäre Zwangsordnung gerichteten) und der politischen (zum Anarchismus strebenden) Theorie des Marxismus näher dargelegt habe.

Freilich mehr in seiner Theorie als in seiner Praxis. Diese sieht nach den eigenen, mit beispielloser Offenheit abgelegten Zeugnissen Lenins und Trotzkis — wesentlich anders aus. In einem Bericht an das zentrale Exekutivkomitee der Arbeiter- und Soldatenräte 30) — einem beinahe tragischen Bekenntnis des Zusammenbruchs der bolschewistischen Theorie — fordert Lenin angesichts der völligen Auflösung der Produktion die Diktatur — nicht mehr des Proletariates, sondern einzelner Personen. „Die Revolution hat soeben“, so ruft er aus, „die ältesten, die stärksten und die schwersten Fesseln, denen sich die Massen unter der Knute unterworfen hatten, zerschlagen. Das war gestern, heute aber fordert dieselbe Revolution und zwar im Interesse des Sozialismus widerspruchslose Unterordnung der Massen unter den einheitlichen Willen der Leiter des Arbeitsprozesses“, — „unter den Willen des Sowjetleiters, eines Diktators während der Arbeit“. Natürlich verzichtet auch diese Autokratie nicht auf ihre Repräsentationsfiktion. Und so ist es nicht zu verwundern, wenn Lenin zur Rechtfertigung seiner Forderungen behauptet, dass die „Diktatur von einzelnen Personen in der Geschichte der Revolutionsbewegungen sehr oft nur der Sprecher, der Träger und der Führer der Diktatur der revolutionären Klassen war“.

30) Die nächsten Aufgaben der Sowjet-Macht, 1919.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Vom Wesen und Wert der Demokratie