Gesetz der geschichtlichen Entwicklung

Um für seine Schrift einen Ausgangspunkt zu gewinnen, stellt Herr Prof. Gervinus ein angebliches Gesetz der geschichtlichen Entwicklung der europäischen Saaten an die Spitze, ein Gesetz, welches schon Aristoteles ausgesprochen haben soll, und welches Herr Prof. Gervinus nunmehr in der Geschichte bis auf die Gegenwart als ein geltendes nachzuweisen sucht. Dieses Gesetz soll ein regelmäßiger Fortschritt sein von der geistigen und bürgerlichen Freiheit der Einzelnen zu der der Mehreren und Vielen (S. 13). Was nun den Aristoteles anbetrifft, so hat dieser ein solches Prinzip, in solcher Allgemeinheit, wohl nirgends ausgesprochen, und ist auch ein solches Prinzip des Fortschrittes bisher noch von keinem seiner Ausleger ihm unterstellt worden. Vielmehr hält sich Aristoteles rein objektiv an die Tatsache der Verschiedenartigkeit der menschlichen Anlagen, wie sie den nationalen Charakter der einzelnen Völker bilden, und nimmt eine Verschiedenheit der Staatsformen an als bedingt durch die geistige, sittliche und physische Befähigung der einzelnen Völker, durch ihre Bildungsstufe und Bedürfnisse, ungefähr eben so, wie Hegel denselben Grundgedanken in den oft missverstandenen Satz zusammenzudrängen suchte, dass jedes Volk die Verfassung habe, die ihm gebühre. Namentlich ist dem Aristoteles die Demokratie nichts weiter als eine Ausartung jenes staatlichen Zustandes, den er als die höchste Stufe der Entwicklung bezeichnet, nämlich der von ihm sogenannten ???????? [Zustand] (des Staates ??? ?????? [par excellence] welche er als eine Aristokratie des ganzen Volkes selbst auffasst, und eben daher die Möglichkeit eines solchen Zustandes an die große, kaum jemals vollkommen in der Geschichte da gewesene und höchstens nur in kleinen Städtestaaten für eine kurze Zeit mögliche Voraussetzung knüpft, dass das ganze Volk auf gleicher Höhe und Einsicht der Bildung stehe. Bei Aristoteles hat also der sittliche Staat seinen festen Inhalt, seinen bestimmten Gedanken, sein bestimmtes mit der Ordnung verträgliches Maß der Freiheit; der unbestimmte Fortschritt, bloß des Fortschritts wegen (die Agitation als Selbstzweck) hat darin keine Stelle, und wo diese Platz greift, da weiset Aristoteles dem Staatskörper schon eine Stufe auf der Seite des Verfalles an und betrachtet ihn als bereits in das Stadium der Auflösung getreten. Übrigens erkennt Aristoteles sowohl dem Königtume als der Aristokratie die Fähigkeit zu, Tüchtiges zu leisten. Das Königtum, das er im Auge hat, ist aber lediglich das patriarchalische und rein despotische Königtum; die Aristokratie ist ihm eine Geschlechterherrschaft, die sich mehr durch die Zahl der Herrschenden, als durch den veränderten Charakter der Herrschaft von jenem Königtume unterscheidet. Nur von diesem Königtume und von dieser Aristokratie lehrt Aristoteles, dass sie nicht mehr bestehen könne, wo ein Volk wirklich so herangereift sei, dass es auf der Stufe der Bildung stehe, welche die ???????? voraussetzt. Aber wie hoch, wie wenig erreichbar sind diese Voraussetzungen! Überdies hat Aristoteles hierbei nur den Entwickelungsgang im Auge, welchen die Umbildung der Staatsformen in den kleinen griechischen Staaten genommen hat. Dass aber das Königtum überall der Aristokratie geschichtlich vorangehen müsse, dass sich sodann erst aus der Aristokratie die Demokratie entwickeln könne, dies ist nicht aristotelische Lehre; überhaupt war dies keine Lehre des klassischen Altertums. Denn schon Herodot hat es bemerkt und Cicero weiter ausgeführt, dass das Königtum meistens erst durch die Bewegungen des demokratischen Elementes entstehe, wo sich nämlich dieses den Bedrückungen durch eine naturwüchsige, aber entartete Aristokratie gewaltsam zu entwinden sucht. Das Altertum betrachtet daher als den gewöhnlichen historischen Entwickelungsgang das Hervortreten der Monarchie als Opposition gegen die Aristokratie, getragen von demokratischen Elementen, häufig nach einer kurzen demokratischen Episode, welche nur den Übergang der Aristokratie in die Monarchie vermittelt, wie sich dies auch bei Cäsar und in neuerer Zeit bei Napoleon I. gezeigt hat. Die Behauptung eines regelmäßigen Fortschrittes der Herrschaft von Einem zu Mehreren und endlich zu Vielen oder Allen, entbehrt sonach schon im Altertume der allgemeinen geschichtlichen Wahrheit, und die geschichtliche Richtigkeit, welche sie im Einzelnen hat, beschränkt sich lediglich auf den Übergang des einfachen Patriarchalkönigtums in Aristokratie. Für die germanischen Völker aber ein solches Prinzip, nachweisen zu wollen, möchte eine ebenso vergebliche als unnütze Mühe sein. Das älteste germanische Königtum, das kleine sogenannte Gaukönigtum, war selbst nichts als eine Art von Aristokratie; auf seinen Schultern also, teils durch die Unterwerfung, teils durch die Vernichtung dieser älteren Aristokratie, die nicht einmal überall vorhanden war, und (wo sie fehlte) durch Unterwerfung der ursprünglichen Demokratie, stieg erst das Stammes- oder Volkskönigtum empor, welches sich endlich unter Karl dem Großen und den deutschen Königen und Kaisern in schweren Kämpfen zu einem Gesamtkönigtum emporarbeitete. Dieses Gesamtkönigtum aber, das übrigens niemals den absoluten Charakter der antiken ???????? [Herrschaft] erreichen konnte, wenn es auch zu Zeiten mächtig darnach strebte, und mitunter einen augenblicklichen Sieg errungen zu haben schien, war stets umgeben mit einer mächtigen Aristokratie, welche, wenn auch für Augenblicke darnieder geworfen, sich immer mit erneuerter Kraft, getragen von dem partikularistischen Sinne der einzelnen deutschen Volksstämme und Länder, wieder erhob und die Befestigung eines reinen absoluten Königtums in Deutschland von den ältesten Zeiten an bis zur Auflösung des deutschen Reiches verhinderte. Es ist aber überdies das angebliche Gesetz des Fortschrittes der Herrschaft von Einem zu Mehreren und Vielen unverträglich mit der vielfachen Gliederung der deutschen Feudalstaaten, in denen sich, abwärts steigend, derselbe Kampf der sogenannten Landesherrn gegen ihre Landherrn (die meliores et majores terrae) [die Besseren und Größeren der Erde] und derselbe Widerstand der ursprünglich in den einzelnen Ländern vorhandenen kleineren aristokratischen Elemente gegen die neu emporstrebende Landeshoheit äußerte, wie die hohe Aristokratie gegen das Emporstreben des Kaisertums auftrat, wenn gleich das geschichtliche Ergebnis dieses Doppelkampfes ein durchaus verschiedenes war. Denn während auf der einen Seite das Streben der Kaiser, die Fürsten und Grafen zu Beamten zu machen, oder wo sie dieselben einen Augenblick in beamtenähnliche Stellung gebracht hatten, in dieser Stellung zu erhalten, misslang und das Kaisertum aus Fürsten und Grafen höchstens Vasallen machen konnte, und der Kaiser (in Folge der Ausbildung des Reiches als Wahlreich) sie stets als seine Pairs und sich selbst für seine Erblande als Mitglied des Fürstenstandes, der Aristokratie, wie jeden anderen Reichsstand anerkennen musste, so wussten sich auf der anderen Seite die Reichsstände als Landesherrn über ihre Landherrn (die nachmals sogenannte Landstände) zu erheben und in demselben Maße ihre Regierungsgewalt in ihren Ländern zu verstärken, wie die des Kaisers im Reiche abgeschwächt wurde. Auch die Art und Weise, wie die Reichsstädte unter die Landeshoheit der Fürsten kamen und in Landstädte umgewandelt wurden, hält genau denselben Gang ein, den wir als den regelmäßigen geschichtlichen, namentlich für die deutschen Staatszustände, bezeichnet haben, und dies ist sogar schon im Reformationszeitalter von einem Vortrefflichen deutschen Geschichtsschreiber, dem Nürnberger Syndikus Wilibald Pirckheimer, bemerkt und beschrieben worden.

Das verschiedene Ergebnis des oben erwähnten gleichzeitigen Doppelkampfes, in welchem sich die deutsche Geschichte bewegte, war es, was die Auflösung des Reiches herbeif?hrte; eine Katastrophe, die einem Teile der bisherigen Aristokratie nebst dem deutschen Kaisertume den völligen Untergang bereitete, dagegen die glücklicheren Mitglieder der alten großen Aristokratie zur Souveränität führte. Somit stand in den neuen souveränen Staaten, ebenfalls aus den Trümmern der Aristokratie hervorgegangen, zum erstenmale die wirkliche und zwar in den meisten Staaten, wenn auch nur vorübergehend, die absolute Monarchie in Deutschland. Der einzige Unterschied von dem von Herodot, Cicero und Pirckheimer bemerkten Entwickelungsgange der Monarchie aus der Aristokratie war in diesem Falle nur der, dass es diesmal nicht ein Kampf des Volkes gegen eine ihm verhasst gewordene Aristokratie war, der die Monarchie herbeiführte, sondern die Hand eines fremden Despoten, dessen hochfliegenden Planen selbst die geringe Reichseinheit zuwider war, welche die alte hohe Aristokratie unter dem Schattenbilde der letzten deutschen Kaiser bestehen gelassen hatte.





Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Demokratie in Deutschland
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (17770-1831), deutscher Philosoph und Vertreter des deutschen Idealismus

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Aristoteles (384 v. Chr.-322 v. Chr.), Grieche, bekanntester Philosoph der Geschichte

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Cicero (106 v. Chr. - 43 v. Chr.), römischer Schriftsteller und Philosoph

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Gervinius Georg Gottfried (1805-1871), deutscher Historiker

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Napoleon I.(1769-1821), französischer Genaeral, Staatsmann und Kaiser

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Wilibald Pirckheimer (1470-1530), berühmter deutscher Humanist

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