Verfassungsentwickelung bei jedem Volke

Glaubt man aber sich nicht bei der Anerkennung der Tatsache beruhigen zu können, dass die Verfassungsentwickelung bei jedem Volke ihren eigentümlichen Gang geht, glaubt man also durchaus ein allgemeines Gesetz dieses Ganges notwendig zu haben, um die Erscheinungen der Geschichte richtig begreifen zu können, so dürfte doch unseres Bedenkens dieses Gesetz nicht in dem Fortschritte der Herrschaft von Einem zu Wenigen und zu Vielen zu finden sein. Vielmehr müsste sodann das Gesetz des geschichtlichen Ganges in der Weise begriffen werden, dass, abgesehen von jenen einfachen patriarchalischen Zuständen, welche überhaupt den Namen von Staaten noch gar nicht verdienen, die Aristokratie, die Herrschaft der vereinigten willenskräftigen Mächtigen, als die erste eigentliche Staatsform zu betrachten ist, dass sodann aus der Aristokratie sich regelmäßig die Monarchie mit Beihülfe demokratischer Elemente entwickelt und dass sodann die demokratischen Elemente anfangen, sich gegen die Monarchie selbst geltend zu machen. Insbesondere ist das ein ausnahmsloses Gesetz, dass niemals mehr eine Monarchie in eine Aristokratie übergehen oder umschlagen kann, wo sie selbst geschichtlich auf den Schultern des demokratischen Elementes oder von diesem getragen und gehoben über eine Aristokratie emporgestiegen ist, und dass unter dieser Voraussetzung nur allein entweder eine beschränkte monarchische Staatsform, oder eine reine Demokratie sich aus der reinen Monarchie entwickeln kann.*)

*) Auf diesen Entwickelungsgang der Staatsformen habe ich schon 1846 in der dritten Auflage meiner Grundsätze des allgemeinen Staatsrechts §. 61 aufmerksam gemacht.


Es ist aber für die Beantwortung der Frage, welche Aussichten die Demokratie in der nächsten Zukunft und insbesondere in Deutschland hat, außerwesentlich, darüber erst lange zu streiten, welches das Naturgesetz der Herrschaftsentwickelung sei und ob es sich in dem ganzen Entwickelungsgange der Geschichte, in der alten wie in der neuen Zeit und in der Entwickelungsgeschichte aller einzelnen europäischen Staaten bewährt habe oder nicht. Eine Thatsache muss ja doch von allen Seiten anerkannt werden, dass nämlich im 15. Jahrhundert in Deutschland die Aristokratie mehr als die kaiserliche Monarchie wog und dass seitdem ein ununterbrochenes Streben eines neuen politischen Elementes nach Geltendmachung und Anerkennung hervortritt, welches wir der Kürze wegen, und um uns von der Redeweise des Herr Prof. Gervinus nicht zu entfernen, ebenfalls als das demokratische bezeichnen wollen, obschon dieser vieldeutige Ausdruck uns nicht der richtige scheint und gewiss geschichtlich richtiger, für das 15—19. Jahrhundert, die Bezeichnung als bürgerliches Element gewählt werden müsste. Das Bürgertum, welches von dem 15. Jahrhundert an sich immer mehr geltend macht, ist nämlich in seinem Wesen nicht in dem Sinne demokratisch, wie man dieses Wort heut zu Tage zu verstehen pflegt; es ist nur vergleichsweise demokratisch im Gegensatz zum Adel und anderen privilegierten Ständen; an sich betrachtet, ist es selbst wieder aristokratisch, nämlich in Beziehung auf das sogenannte Proletariat, ja anfänglich auch im Verhältnisse zu der grundbesitzenden Landbevölkerung. Eben darum, weil das Bürgertum im Wesen ebenfalls aristokratisch ist, und dies besonders in den ersten Jahrhunderten seiner Entwickelung war, so war es auch von Anfang an fähig, ebenso wie die Aristokratie des Adels und der Geistlichkeit, mit der Monarchie eine ihm (dem Bürgertum selbst) vorteilhafte Verbindung einzugehen, wie namentlich die Stellung der deutschen Reichsstädte unter dem Kaiser und die der Landstädte unter den Landesherrn bis zur Auflösung des Reiches anschaulich nachweist. Hätte die Regierungskunst der letzten Jahrhunderte verstanden, dieses aristokratische Element im Bürgertume zu erhalten, hätte man es vermieden, den Begriff des Bürgerstandes über sein ursprüngliches Dasein hinaus auszudehnen, indem man unverständig genug alles mit dem Bürgerstand zum sogenannten dritten Stande zusammenwarf, was nicht Adel und Geistlichkeit war; hätte man ferner dem Bauernstande seine hergebrachten, für seine von dem Bürgerstande wesentlich verschiedenen Lebensverhältnisse berechneten eigentümlichen Privat-, Erb- und Besitzrechte und Ortsverfassungen belassen und für deren selbständige zweckmäßige Fortbildung Sorge getragen, anstatt ihm ein und dasselbe, aber auf ganz andere soziale Zustände berechnete Privat-, Erb-, Besitz- und Gemeinderecht mit dem Bürgerstande — gar häufig gegen den eigenen Willen und durchaus zum Schaden des Bauernstandes selbst — einzuräumen, es würde vieles in Deutschland besser stehen, es würde Niemand daran denken können, den Bürger- und den Bauernstand (namentlich den Letzteren, der als Grundbesitzer naturgemäß konservativ ist) unter den Begriff des demokratischen Elementes zu stellen. Dann würde sicherlich auch kein Proletariat in solcher Bedeutung erwachsen sein, dass es sich selbst, die Verschiedenheit seiner Interessen von denen des Bürger- und Bauernstandes erkennend, als einen vierten Stand von dem dritten Stande hätte ausscheiden und sich zu einer staatsgefährlichen Bedeutung als der eigentliche naturwüchsige Träger des demokratischen Elementes hätte erheben können.




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Demokratie in Deutschland
Gervinius Georg Gottfried (1805-1871), deutscher Historiker

Gervinius Georg Gottfried (1805-1871), deutscher Historiker

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