Einführung

Wenn sich ein Mann, der sich in einem Zweige des Wissens einen Namen erworben hat, auf ein anderes Gebiet der Literatur begibt, wie dies Herr Hofrat Professor Gervinus mit seiner Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts getan hat, so kann von ihm selbst wohl schwerlich etwas anderes erwartet werden, als dass ihm die wissenschaftliche Kritik auch hier auf den Bahnen folge, die er eröffnet, und dass sie ihm eben hierdurch ihre Teilnahme an seiner neuen Tätigkeit bezeigt. Je eigentümlicher und neuer die vorgetragenen Ansichten über Politik und Geschichte sind, je mehr Anspruch auf Beachtung sie machen dürfen, desto weniger wird es befremden können, wenn sich alsbald Stimmen erheben, welche auch eine andere Auffassung der Geschichte und Politik zu vertreten suchen, ja es wird dies im Interesse der Sache selbst nur erwünscht sein können. Diese Erwägungen haben die Niederschreibung und Veröffentlichung der nachstehenden Zeilen veranlasst: ein etwaiges Unterstellen anderer Motive, welcher Art sie auch sein mögen, muss der Verfasser dieser Blätter durchaus von sich ablehnen. Wir haben es hier nur mit der Sache, nicht mit der Person zu thun: mit letzterer stehen wir weder in näherer freundschaftlicher noch in feindlicher Beziehung; nicht Namen, sondern Gründe allein können und sollen hier den Ausschlag geben. Über den Zweck, wegen dessen die oben erwähnte Schrift des Herrn Prof. Gervinus, die eigentlich eine Einleitung zu einem in Aussicht gestellten größeren Werke über die Geschichte des 19. Jahrhunderts sein soll, jetzt schon und besonders veröffentlicht worden ist, kann wohl ein Zweifel nicht obwalten. Sie soll nach der Vorrede dazu dienen, „manches erschütterte Vertrauen der Menschen auf unsere Zukunft wieder zu befestigen,“ und diese Zukunft ist nach Seite 176 „der östliche Siegeszug der Freiheit, der vollendet werden wird, wie alle Geschichte mit Zuverlässigkeit zu verkünden scheint.“ Die Schrift des H. Prof. Gervinus soll ferner, nach der Vorrede, dazu dienen, „manchen gesunkenen Glauben an die Gegenwart wieder aufzurichten, manchem Gescheiterten in dem Schiffbruch dieser Jahre eine Rettungsstätte zu bereiten.“ Unter dem, was in dem Schiffbruche dieser Jahre untergegangen ist, kann aber nichts anderes verstanden sein, als erstlich jene Freiheiten, welche in der vom Frankfurter Parlament beschlossenen deutschen Reichsverfassung ihren Ausdruck gefunden hatten — Freiheiten, die in dem Maße, wie sie hier gewährt werden wollten, so sehr mit allen gegebenen Verhältnissen im Widerspruche standen, dass nicht nur die im Dreikönigsbündnisse vereinigten Kronen bei dem Entwurfe der Unionsakte, sondern noch mehr das „Unionsparlament in Erfurt, auf ihre Zurückfühlung auf ein bescheideneres Maß Bedacht nehmen mussten — und zweitens jene Reichs- und Unionsverfassung, welche die Einheit Deutschlands durch seine Zerspaltung, d. h. durch den Ausschluss Österreichs von Deutschland anstrebte, ein Plan, der nach H. Prof. Gervinus (S. 72 seiner Schrift) „schon bei dem Ausbruche des dreißigjährigen Krieges, so wie zur Zeit des westphälischen Friedens die energischen Köpfe Deutschlands, wie in unserer Zeit wieder bewegte.“ Darüber kann also kein Zweifel obwalten, dass man es mit einer Parteischrift zu tun habe, und dass der Verfasser als der Wortführer einer Partei auftritt, der derselben tröstend und ermunternd zuruft, ihr in den letzten Jahren angestrebtes Ziel ungeachtet des dermaligen Misslingens nicht als unerreichbar und ihre Sache nicht als verloren aufzugeben. Dadurch, dass die vorliegende Schrift hier als eine Parteischrift bezeichnet wird, soll aber keineswegs ein Tadel ausgesprochen, sondern nur der Standpunkt genau bezeichnet werden, den sie einnimmt, und welchen ihr gegenüber die Kritik einzunehmen hat. Wer weiß, dass alles politische Leben nur in Parteien durchgekämpft werden kann, wer es daher für jeden, der in der Politik irgend ein Resultat erreichen will, unerlässlich hält, dass er eine Partei ergreife, und der daher selbst einer Partei angehört, kann und wird seinem Gegner aus dessen Parteistellung keinen Vorwurf machen und die Überzeugung ehren, vermöge deren ein jeder seine Partei für die richtige hält: er wird sich auch gerne bescheiden, dass seine Kritik ebenfalls nur als vom Parteistandpunkte ausgehend betrachtet wird. Wo sich sonach die Parteien in ihrer Stellung gegen einander gegenseitig als kampfberechtigt anerkennen, mag man getrost die Entscheidung über die Richtigkeit der Ansichten dem Verlaufe der Geschichte anheimstellen. Auch wäre es gewiss unrichtig, wenn man mit der Bezeichnung als Parteischrift einer Schrift wissenschaftlichen Charakter absprechen wollte, so wie es auf der anderen Seite nicht richtig scheint, wenn man durch Behauptung oder Anerkennung des wissenschaftlichen Charakters einer Schrift deren Parteistellung als ausgeschlossen betrachten wollte. Beide Charaktere sind um so viel weniger unvereinbar, als auch in der Wissenschaft naturgemäß Parteien einander gegenüberstehen und als jeder, der Überzeugungen vertritt, die in einem weiteren Kreise geteilt werden, eben dadurch von selbst einer Partei angehört, ohne deshalb auf seine persönliche Selbständigkeit verzichtet zu haben. Aus dem eben Gesagten wird sich von selbst ergeben, Hass die juristische Beurteilung der Schrift des Herrn Prof. Gervinus, d. h. die Frage nach der etwaigen Straffälligkeit des Verfassers, ganz außerhalb der Absicht dieser Zeilen liegt. Hierüber zu urteilen ist die Sache der Gerichte: auf deren unabhängiges Urteil von einem Parteistandpunkte aus einwirken zu wollen, muss für gleich tadelnswert geachtet werden, gleich viel, von welcher Seite aus eine Einwirkung versucht werden sollte. Wir hoffen, dass auch die strengste Beurteilung unserer Schrift das Zeugnis nicht wird verweigern können, dass darin nichts enthalten ist, was in strafrechtlicher Beziehung zum Nachteile des Herrn Prof. Gervinus gedeutet werden könnte. Dagegen nehmen diese Blätter auch dasselbe für sich in Anspruch, was die Schrift des Herrn Prof. Gervinus für sich in Anspruch nimmt: Ausdruck einer auf wissenschaftlichem Wege gewonnenen Überzeugung zu sein, wenn gleich diese Überzeugung eine andere ist als die, zu welcher sich Herr Prof. Gervinus bekennt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Demokratie in Deutschland