Volksherrschaft als politische Ordnung

Die Demokratie in Deutschland

Ein Beitrag zur wissenschaftlichen Würdigung von G. G. Gervinus „Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts“
Autor: Zoepfl, Heinrich Prof. Dr. (1807-1877) deutscher Rechtswissenschaftler, Erscheinungsjahr: 1853
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Demokratie, Deutschland, Gervinus, Fortschritt, Aristoteles, Hegel, Volkscharakter, Geschichte, Parteistandpunkte, Herodot, Cicero, Pirckheimer, Monarchie, Aristokratie, Souveränität
Die Triebkraft der demokratischen Ideen

Die hauptsächlichste Triebkraft, durch welche die demokratischen Ideen in das Leben nicht nur der europäischen, sondern auch der nordamerikanischen Menschheit eingeführt wurden, ist nach Herr Prof. Gervinus der Protestantismus. Nach ihm sind S. 19 „die demokratischen Ideen, deren Kampf die ganze Zeit vom Ausgange des Mittelalters an, bis zu uns ausfüllt, durch die Reformation in die Geschlechter geworfen worden.“ So wie früher „durch Erbteilung und Wahlrecht, durch Lehenwesen und Vasallentum, durch ihren Hang genossenschaftliche Verbände zu begründen,“ so warfen die germanischen Völker (S. 22) späterhin „durch die Spaltungen des Protestantismus den römischen Ideen von Staats-, Rechts- und Religionseinheit unüberwindliche Hindernisse entgegen.“ „Der deutsche Geist der Genossenschaft, der in den mittleren Zeiten das Prinzip einer aristokratischen Freiheit aufrecht erhielt, hat sich in der neueren Zeit (S. 42) in einen Geist des Individualismus (germanisch-protestantischen Individualismus) umgebildet, der die Saat demokratischer Freiheit gestreut hat.“ S. 45, unter der Rubrik: „Antizipation der demokratischen Konsequenzen germanisch-protestantischer Staats- und Kirchenbildung in einzelnen Entwürfen zu Luthers Zeit,“ wird gesagt: „die germanisch-protestantischen Neubildungen im Staat und Kirche verlangten Zeit zu ihrer Reife; die demokratischen Entfaltungen namentlich, deren Keime im Grundwesen des Protestantismus lagen, konnten sich in größeren Staatskreisen erst allmählich entwickeln. .. Einzelne Sekten, einzelne Vordringende Geister schritten gleich im Anfange der Reformation zu den Konsequenzen der neuen Richtung, die erst ihr entferntestes Ziel und Ende sein sollten;“ und S. 46: „Neben den kirchlichen Forderungen gingen dann auch die politischen bis zu den demokratischen Konsequenzen vor, die erst viel spätere Zeiten durchsetzen sollten.“

Nach Aufzählung der vielerlei einzelnen politischen Forderungen, von der Aufhebung der Leibeigenschaft bis zur Forderung der Abschaffung von fürstlicher Regierung, Forderung der Republik und Staatseinheit in Deutschland, wird als „eine mehr als alle diese einzelnen Forderungen merkwürdige Vorwegnahme von Grundsätzen, die erst viel später praktisch wurden,“ ihre „grundsätzliche Rückführung auf Freiheit und Gleichheit“ erwähnt, „zu der die Menschen durch Christus erlöst seien, die Berufung auf ein göttliches Recht (auf angeborene Menschenrechte, wie man später sagte).“ (S. 48)[i] „Die Zeit hat auch den Verlauf der kirchlichen und staatlichen Veränderungen, zu denen Luthers Lehre den Anstoß gab, nichts weniger als übereilt.“
Es wird sodann gezeigt, dass die reformatorischen Ideen sich zuerst in Deutschland und in England einen monarchischen Körper in den Gestaltungen schufen, die Staat und Kirche unter Luthers und Cranmers Einflüssen einnahmen; dass sie sodann im Westen Europas eine aristokratische Phase im Calvinismus hatten, und in dessen puritanischen Fortbildungen (welche S. 45 als der schon zu Luthers Zeit von einzelnen Inspirierten und Wiedertäufern erfasste Begriff einer vernunftgemäßen Reinigung des Christentums und seiner Formen bezeichnet worden waren) vorübergehend in England und auf die Dauer in Amerika ihre demokratische Entfaltung fanden. Von Luther wird (S. 50) erzählt, dass er „in aller Weise die weltliche Gewalt befestigte; aber er hatte auch notwendig, sich auf sie zu stützen,“ denn er hatte seine Sache gegen „das verbundene Papsttum und Kaisertum durchzufechten, und was hätte noch im dreißigjährigen Kriege aus dieser Sache werden sollen, wenn Fürst und Volk getrennte Wege gingen? Ihre Einigkeit war freilich um den schweren Preis erkauft, dass das Volk sich seinen Fürsten einfach unterordnete.“ S. 53 wirb ausgeführt, dass dadurch, dass die Landesherren an die Spitze ihrer protestantischen Landeskirchen gestellt wurden, deren monarchische Gewalt einen „Zuwachs ihres Einflusses“ erhalten habe; und dadurch „die Ausbildung der Absolutie selbst in diesen kleinen Staaten angebahnt,“ sowie die „kleinstaatliche Teilung befestigt“ wurde; es wird anerkannt, dass dies „für Deutschlands Machtstellung nach Außen verderblich“ war, es wird jedoch darin, dass die „gefährliche Uebermacht des Kaisers dadurch gebrochen wurde wie die des Papstes, mehr Vorteil als Schaden, mehr Notwendigkeit als Wahl“ gefunden. S. 54: „Dem Kaiser zu beweisen, dass er nicht ein Monarch, sondern in der bündischen Aristokratie der Fürsten nur der Erste unter Gleichen war, waren Ideen, die schon bei dem schmalkaldischen Bündnisse zur Rede kamen und im Religionsfrieden von 1552 durchgekämpft wurden. Die protestantische Bewegung setzte die Reichsreform trotz Kaiser und Papst durch, die die Verbindung zwischen Kaiser und Papst so lange verhindert halte.“ Unter den Veränderungen, welche im Gefolge hiervon in der deutschen Staatsverfassung stattfanden, wird S.55 aufgeführt, dass „die staatliche Sonderung es über die Einheit gewann.“ Eingeräumt wird, dass dem schädlichen Einflusse des Auslandes auf die Zersplitterung deutscher Kraft und Staatsentwickelung dadurch allerdings ein Anhalt gegeben worden sei: doch wird darin ein, wenn gleich „leidiger,“ doch wirklicher und unleugbarer Gewinn von dem großen „Gesichtspunkte der nationalen Unabhängigkeit, ja der europäischen Freiheit betrachtet“ gefunden, denn „das verderbliche Bestreben undeutscher Kaiser nach allgemeiner nationaler Entwickelung ward dadurch gehemmt.“ S. 58: „Als 1579-80 die nördlichen Provinzen (Utrechter Union) von Philipp II. abfielen, geschah dies ganz nach den Grundsätzen der calvinischen Reform, die hier Boden gegriffen hatte: dass einem Volke und seinen Ständen immer das natürliche Recht zustehe, einem Tyrannen, der seiner Pflicht zuwider handelt, nachdem er vergebens vermahnt war, ihrerseits die Pflicht aufzusagen.“ Auf S. 168 wird als ein Ausspruch der ersten calvinischen Staatsrechtslehrer die in der Form einer Warnung eingekleidete Drohung aufgeführt, „dass es Staaten gebe ohne Fürsten, aber nicht ohne Volk.“ Dass Calvin selbst diese Ansichten anderer calvinistischen Lehrer vom Widerstandsrechte des Volkes gegen die Obrigkeit nicht teilte, wird S. 64 erwähnt. Hieran reiht sich S. 65 die Erklärung : „Wenn Calvin in seinen dogmatischen Ansichten nicht freier und nicht minder konservativ, in seinen politischen Ansichten nicht weniger gemäßigt als Luther war, so lag gleichwohl in seiner Reform weit mehr als im Luthertum die Anlage, kirchlich und politisch den nächsten Schritt vorwärts zu thun zur demokratischen Fortbildung der protestantischen Ideen.“ Anerkannt wird S. 69 u. 70, dass „der Calvinismus sehr die Staatseinheit von Frankreich gefährdete, einen Besitz, den die langen Arbeiten des Königtums der Nation eingetragen hatten, und den wieder aufzuopfern weder in ihrer Neigung noch in ihrem Vorteil lag.“ S. 103: „So war denn auch Frankreich in dem Augenblicke, als die evangelische Lehre Eingang fand, von dem Eindrang des germanischen Sondergeistes, von dem Zerfalle in kleine Staatsgebiete bedroht. Seine Einheit schien nicht erhalten werden zu können, ohne das Opfer des Protestantismus, wie der Protestantismus nicht in Deutschland ohne das Opfer der Einheit! Durch die ganzen Religionskriege in Frankreich ziehen sich die Plane der protestantischen Großen hin, sich unabhängige Fürstentümer zu bilden. Der Prinz von Condé fasste Anjou und Poitou für sich ins Auge, der Herzog von Bouillon Perigord und Limosin u. s. w. Bouillon hatte nichts Geringeres im Sinne, als Frankreich zu einer Art Föderativ-Republik umzuschaffen unter dem Schutze des Churfürsten von der Pfalz, und die einzelnen Provinzen zu Statthalterschaften der protestantischen Edeln zu machen.“ Nachdem angeführt ist, dass der Calvinismus durch die lästige Strenge in seiner Sittenzensur bei den Großen keinen Anklang fand, wird von ihm S. 70 gesagt: „Auf das Volk zurückgedrängt, entfaltete er schnell seine demokratischen Anlagen, die alles Regiment in Schrecken versetzten.“ Im Bezug auf Deutschland heißt es sodann S. 71: „In Deutschland war das Volk gewöhnt worden, sich bei allen kirchlichen Bewegungen passiv in Bezug auf den Staat zu verhalten: der unruhige staatsgefährliche Geist des Calvinismus verleugnete sich gleichwohl auch hier nicht.“ Nachdem erzählt ist, wie die calvinistischen Grundsätze nach England kamen und die lutherischen Ansichten verdrängten, so wird gesagt: „Die demokratischen Staatsideen kamen auch hier in ihrem Gefolge.“ Die Revolution in England, welche den König auf das Schafott, und einen Cromwell an die Spitze des Staates brachte, wird mit den Worten eingeleitet S. 78: „Jetzt schien in England die Zeit gekommen zu sein, wo die demokratische Entwickelung des Protestantismus Boden greifen, die Ideale der Wiedertäufer, das Reich der Vernunft in Staat und Kirche verwirklicht werden sollte.“ S. 84 liest man: „In der amerikanischen Verfassung wurde späterhin das politisch-kirchliche Ziel vollständig erreicht, das die folgerichtigen Geister in Deutschland im Anfange der Reformation über alle bestehenden Verhältnisse hinwegsehend, in Aussicht genommen hatten.“ Die Einwanderer in Nordamerika werden S. 89 also charakterisiert: „Es waren vorzugsweise germanische Einwanderer, die sich hier seit dem 17. Jahrhundert zusammenfanden, Deutsche, Holländer, Schweden, Engländer, und aus England hauptsächlich Männer des alten Volkes, der Sachsen. „Es waren vorzugsweise Protestanten, und zwar der reinsten Farbe, Puritaner und Quäcker in Überzahl.... Republikanischer Geist durchdrang die Pflanzer usw.“ In Bezug auf den Wechsel, in welchem sich Frankreich bald zwischen den beiden Richtungen, die den Norden und den Süden mit einander verfeindeten — dem Protestantismus und Katholizismus — befand, wird S. 101 gesagt: „In diesem Wechsel nun ist nicht das wenigst Merkwürdige, die stete Solidarität zu beobachten, die zwischen dem Protestantismus und allen staatenverkleinernden, partikularistischen Bestrebungen, und dem Katholizismus und allen staatenvergrößernden zentralistischen Richtungen besteht.“ Die Bewegung, welche im vorigen Jahrhundert Frankreich ergriff, „die nationale Freiheit und Tätigkeit auf dem politischen Gebiete zu entwickeln,“ wird S. 129 geschildert als „der freie Geist des Protestantismus, der jetzt auf dem Umwege der Literatur“ — (welche kurz zuvor S. 101, als zwischen „heidnischer Freigeisterei und christlicher Bigotterie schwankend“ bezeichnet worden war) — hereindrang, und zunächst auf dasselbe Ziel hinrückte, zu dem man in den freien germanischen Staaten unter Religionskämpfen gelangt war.“ Dieses Ziel wird (ebendas. u. S. 130) näher dahin beschrieben, dass nicht allein „für das Volk, sondern durch das Volk gehandelt werde, dass die Nationen nicht nach Theorien beglückt werden sollen, sondern nach ihrem eigenen Willen und zu ihrer eigenen Zufriedenheit, worin das Höchste gelegen sei, was der Staat überhaupt erlangen kann. Es sollten Volksreformen treten an die Stelle der fürstlichen Selbstregierung, an die Stelle der Bevormundung, und des Volkes eigene Gesetzgebung an die Stelle der königlichen Allmacht; mit einem Worte, an die Stelle der Verbesserung der Verwaltung sollte eine Veränderung der Verfassung treten. Dazu schien die durchgreifende Gewalt des Volkes unentbehrlich.“ Als Grund hievon wird S. 130 ausdrücklich angegeben, „dass noch keine Erfahrung ein Beispiel dafür geliefert habe, dass es je möglich sei, aus der unumschränkten Monarchie einen dauernden und aufrichtigen Übergang zur verfassungsmäßigen zu machen, dass es einen königlichen Weg zur Volksfreiheit gebe!“ Endlich beißt es S. 136: „Die politische Idee hatte sich in Amerika von der religiösen Beimischung gelöst, ja sie hatte sich unter dem dortigen reinen Demokratismus, unter dem die Glieder aller Nationen gleich befriedigt lebten, selbst von nationalen Bedingungen frei gemacht. Die germanisch-protestantische Besonderheit war nicht länger eine Bedingung ihres Weiterwirkens.“

Johannes Calvin (1509-1564), Reformator französischer Abstammung und begründer des Calvinismus

Johannes Calvin (1509-1564), Reformator französischer Abstammung und begründer des Calvinismus

Martin Luther, (1483-1546) dt.Reformator

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Louis II. de Bourbon (1621-1686), Prinz von Conde, bedeutender französischer Feldherr

Louis II. de Bourbon (1621-1686), Prinz von Conde, bedeutender französischer Feldherr

Thomas Cranmer (1489-1556), englischer Reformator

Thomas Cranmer (1489-1556), englischer Reformator

Thomas Cromwell (1485-15409, englischer Staatsmann

Thomas Cromwell (1485-15409, englischer Staatsmann

Johannes Calvin (1509-1564), Reformator französischer Abstammung und begründer des Calvinismus

Johannes Calvin (1509-1564), Reformator französischer Abstammung und begründer des Calvinismus

Oliver Cromwell (1599-1658), Gründer der englischen Republik

Oliver Cromwell (1599-1658), Gründer der englischen Republik