Das Ziel der Bestrebungen der modernen Demokratie

Das Ziel der Bestrebungen der modernen Demokratie, abgesehen von jenem Teile derselben, der Wühlerei und Anarchie zum Selbstzwecke macht, dürfte somit Herr Prof. Gervinus im Allgemeinen richtig angegeben haben. Was man hier vermisset, ist dagegen die sofortige scharfe Scheidung und Auseinanderhaltung der beiden ganz verschiedenen Gegenstände, auf welche hiernach die Bestrebungen der Demokratie in Europa, insbesondere in Deutschland gerichtet sind. Etwas anderes ist nämlich die Freiheit und Gleichheit der Staatsangehörigen an sich, etwas anderes die nordamerikanische Verfassungsform. Letztere ist eine Form, in welcher man die staatsbürgerliche Freiheit verwirklicht und geschützt findet, oder doch zu finden glaubt; ersteres aber sind Befugnisse und Pflichten der einzelnen Staatsangehörigen, deren Verwirklichung und Anerkennung — in so weit diese überhaupt als vernunftnotwendig anerkannt wird — wohl auch noch in anderen Staatsformen bewirkt und geschützt werden kann, als in der nordamerikanischen Form. Dieser letzteren Ansicht scheint auch H. Prof. Gervinus selbst zu sein, der nicht nur in den verschiedenen Stellen seiner Schrift, wo er auf die Verfassung von England zu sprechen kommt, dieser große Anerkennung zollt — sowie gewiss auch jeder Engländer den für verrückt erklären würde, der gegen ihn behaupten wollte, dass England keine freiheitliche Verfassung habe und der Engländer kein freier Mann sei — sondern H. Prof. Gervinus scheint dieser letzteren Ansicht um so mehr zu sein, als er S. 176, nachdem er den östlichen Siegeszug der Freiheit prophezeit hat, es dahin gestellt sein lässt, ob sich die Staatsformen als „Republik oder Monarchie, als konstitutionelle oder demokratische Monarchie gestalten werden,“ wobei er anerkannt, dass wenn der „Geschichte auch im Großen ein gesetzlicher Lauf geordnet ist, in den besonderen Gestaltungen der Ereignisse den Menschen viel Willkür und ihren Begabungen viel Spielraum gelassen ist.“

Ist dies aber, und hierin glauben wir nicht zu irren, die Ansicht des Herrn Prof. Gervinus, so musste mit der größten Schärfe, um Verwirrung und Missverständnisse zu vermeiden, welche leicht zum Nachtheile des Verfassers ausschlagen konnten, der geschichtliche Verlauf der Freiheitsbestrebungen an sich, d. h. der Bestrebungen in den Völkern nach individueller Freiheit und Rechtsgleichheit, und der geschichtliche Verlauf der Verfassungsbestrebungen, d. h. der Bestrebungen nach demokratischer Staatsform unterschieden werden. Denn so nahe verwandt diese beiden Arten der Bestrebungen an sich sind, so vielfach sie auf einander einwirken und Einfluss haben können und zu haben pflegen, so sind sie doch auch in vieler Beziehung wesentlich verschieden und von einander unabhängig, was wenigstens derjenige zu bestreiten keinen Grund haben wird, der wie Herr Prof. Gervinus, auch für den vollendeten Siegeszug der Freiheit noch eine Auswahl unter mehreren Verfassungsformen offen hält. Sollen wir es kurz aussprechen, so halten wir die Unterlassung dieser Unterscheidung zwischen allgemeinen, universellmenschlichen Freiheitsbestrebungen, und den stets nur konkret bei bestimmten Völkern möglichen und vorkommenden Verfassungsbestrebungen, das unklare Durcheinanderwerfen dieser beiden Richtungen, für den Hauptfehler in der Gervinus'schen Schrift, und eben darum wird es nöthig sein, sich über diesen Punkt etwas näher auszusprechen.


Die allgemein menschlichen Freiheitsbestrebungen, die Strebungen nach individueller Freiheit in dem oben angegebenen Sinne, nämlich die Strebungen nach dem für alle Staatsangehörigen gleichheitlichen Rechte, nur dem Gesetze und nicht der Willkür zu gehorchen, wurzeln tief und unvertilgbar in der menschlichen Natur. Sie sind in dem innersten Wesen des Menschen begründet, und müssen als von Haus aus berechtigte Strebungen von jedem anerkannt werden, der in dem Menschen ein Subjekt der Vernunft und Freiheit anerkennt. Man wird aber vom Standpunkte der Geschichte aus auch anerkennen müssen, dass nach den Naturanlagen der einzelnen Völker, sowohl in physikalischer als geistiger und sittlicher Beziehung, so wie nach der allgemeinen Bildungsstufe, die sie bereits erreicht haben, und unter dem Einflusse mannigfacher tellurischer Verhältnisse, die Idee der individuellen Freiheit bald mehr bald minder vollkommen zu ihrer geschichtlichen Darstellung kommen muss. Man wird von diesem Standpunkte aus zu der Überzeugung gelangen, dass einem jeden Volke überhaupt nur eine gewisse Kulturstufe zu erreichen beschieden ist, über welche es nicht nur nicht hinauskommen kann, sondern sogar wieder rückwärts geht, wenn es diesen Punkt erreicht hat. In gleicher Weise kann man von der Entwickelung der individuellen Freiheit sagen, dass sie bei jedem Volke einen besonderen Typus ihrer geschichtlichen Gestaltung, einen bestimmten geschichtlichen Inhalt und eine gewisse Höhe hat, über die sie sich bei einem bestimmten Volke nicht hinaus zu entwickeln vermag, und dass es nur nachtheilige Folgen haben kann, wenn sie künstlich über diesen Punkt hinausgetrieben wird.




Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Demokratie in Deutschland