Die Gestaltungen der individuellen Freiheit

Was nun diese Gestaltungen der individuellen Freiheit in dem Völkerleben anbetrifft, so waren dieselben in der Zeit des Altertums und selbst noch im Mittelalter unendlich vielfacher, als in der neueren Zeit. Unverkennbar besteht wenigstens unter allen westeuropäischen Völkern tatsächlich bereits in Bezug auf gewisse Grundansichten von dem Wesen und dem Inhalte der individuellen Freiheit eine gewisse Gleichförmigkeit, die im Vergleiche zu früheren Verschiedenheiten eine sehr bedeutende genannt werden kann. Es ist dies, wie Herr Prof. Gervinus S. 170 richtig bemerkt hat, die Frucht des erweiterten Völkerverkehrs, der fortwährend sich steigernden und vermehrenden Berührungen der Völker unter einander, nicht nur im Gebiete der Literatur, der Wissenschaft, der Politik, sondern auch im Gebiete des Handels und der materiellen Interessen überhaupt. Diese stetigen, friedlichen Berührungen der Völker unter einander haben bewirkt und führen im Stillen weiter, was die größten Eroberungskriege eines Alexander, eines Cäsar und seiner Nachfolger, eines Attila und eines Napoleon nicht in gleichem Maße zu bewirken im Stande waren. Sie erzeugen einen allgemeinen Gedankenkreis, in den auch bereits Amerika mit hineingezogen ist und täglich mehr hineingezogen wird, so wie die steigende Auswanderung immer stärkere Bande des Zusammenhangs der Bevölkerungen der beiden Weltteile knüpft. Wenn sonst ein Volk in kriegerischem Überlaufe das andere eroberte, so erobern jetzt die Völker sich gegenseitig; sie schlingen durch den friedlichen Krieg des Handels und der Industrie nicht nur die Hände in einander, es verbinden sich auch gegenseitig immer mehr die Geister durch die Wissenschaft und den technischen Entdeckungsgeist.

Man mag anerkennen, dass der Gedanke der individuellen Freiheit, wie er sich in der Gesamtheit der westeuropäischen Nationen aus ihrem Gesamtleben erzeugen musste, in der nordamerikanischen Deklaration der Menschenrechte von 1776 seinen ersten positiv-rechtlich formulierten Ausdruck erlangt hat.*) Neu war aber hieran sicher nichts als diese Form; die wenigen, ganz allgemein gehaltenen Sätze, welche die natürliche Freiheit und Gleichheit der Menschen aussprachen, waren längst in allen Naturrechtskompendien des europäischen Kontinents zu lesen; überraschend war nichts, als dass man nunmehr in Amerika Ernst damit machte, das praktisch durchzuführen, was die Philosophen Europas längst theoretisch gelehrt hatten, ohne dass man daselbst bis dahin Hand angelegt hätte, um die historisch bestehenden Ungleichheiten und Beschränkungen der individuellen Freiheit, wie die Hörigkeit u. s. w. aufzuheben. Wenn man in diesem Sinne von einem Rückschlage spricht, welchen die amerikanische Freiheitsidee auf Europa ausgeübt habe, so hat dies allerdings seine geschichtliche Richtigkeit; Europa empfing allerdings von Amerika einen Anstoß, seine eigenen längst theoretisch ausgebildeten Ideen praktisch zu machen, was man bis dahin kaum für möglich gehalten hatte. Das, worauf wir aber hier besonders hindeuten, was wir besonders hervorzuheben suchen, ist, dass die Idee der gesetzlichen Freiheit und rechtlichen Gleichheit der Menschen, des von Amerika ausgegangenen praktischen Anstoßes ungeachtet, doch keine fremdländische, keine amerikanische und erst über das Weltmeer nach Europa herübergebrachte Idee war; dass sie eine von der Wissenschaft, der Philosophie, dem sittlichen Bewusstsein der europäischen Völker selbst längst vorher erzeugte, ja sogar von den deutschen Bauern in dem Bauernkriege als Gegensatz des Druckes, worunter sie standen, wenn gleich unklar begriffene und praktisch vergriffene Idee, aber jedenfalls doch eine europäische Menschheitsidee war. Darin aber, dass sie dies war, lag ihre historische Notwendigkeit, in Europa selbst auch zur praktischen Geltung zu kommen, und daher würde sie zu dieser auch sicher gelangt sein, wenn auch der Anstoß von Amerika nichtgekommen wäre; dieser konnte also nur die Reife dessen beschleunigen, was in Europa selbst längst gesäet und aufgegangen war. Amerika hatte zu dieser europäischen Idee nichts hergegeben, als einen jungfräulichen Boden, auf dem dieselbe rasch Wurzeln schlagen und sich rasch entfalten konnte; aber dies eben darum, weil ihr dort noch keine Geschichte, kein in historischen Verhältnissen und im positiven Rechte gegründetes Hindernis entgegenstand; denn unfrei war in Amerika Niemand, als der schwarze Sklave, für den auch heut zu Tage noch ein Theil der amerikanischen Staaten keine Menschenrechte hat. In Europa, namentlich in Deutschland, war dies aber alles anders: hier bestanden historisch bevorrechtete Stände, positiv rechtliche Beschränkungen von Grund und Boden; hier musste jede Neuerung, die im Namen der Vernunft, der Sittlichkeit, der Bildung, des fortgeschrittenen wissenschaftlichen oder philosophischen Bewusstseins eingeführt werden wollte, zugleich als eine Rechtsverletzung vom Standpunkte des historischen Rechtes aus erschienen. Hier musste sich ein Kampf entspinnen, der in Amerika gar nicht möglich war; ein Kampf, den man im Vorgefühle seiner Gefährlichkeit so lange wie möglich hinausgeschoben hatte: der Kampf des Neuen, für vernünftig Erkannten, und der Kampf des Bestehenden, historisch Berechtigten. Das Neue musste hier notwendig auf einer Seite als Unrecht, als Umwälzung empfunden werden, wo es nicht, was selten geschah, sofort zu friedlicher Ausgleichung kam; das Neue rächte sich auf der andern Seite dafür dadurch, dass es das Bestehende als Gegensätzliches als unvernünftig bezeichnete, und seinerseits in seiner beanspruchten Vernünftigkeit den unverjährbaren Titel für seine sofortige Geltung fand. Dass bei diesem Umschwunge das sogenannte Vernünftige nichts anderes wollte, als das werden, was es eben zerstörte, nämlich historisches Recht, und dass das historische Recht nur darum hatte entstehen können, weil es zur Zeit seiner Entstehung auch für ganz vernünftig geachtet worden war, dass also hier nur ein neuer Abschnitt eines ewigen Kreislaufes begann, wurde von den Wenigsten bemerkt. Bei diesem Umschwunge haben sich auch alle Kräfte der europäischen Menschheit beteiligt, ja sie mussten sich alle zusammen betheiligen, wenn in die verrosteten Speichen des Zeitrades eingegriffen und dasselbe um eine Spanne weiter geschoben werden sollte. Leider war aber hier gar häufig von einem geordneten gesetzlichen Zusammenwirken dieser Kräfte, von der Verfolgung des vorgesetzten Zieles auf einem rechtlichen Wege, nicht die Rede. Allbekannt ist es und auch von Herrn Prof. Gervinus recht gut dargestellt, wie bald die Demokraten, bald die Träger absoluter Kronen, stürmend dahin wirkten, das ganze Gebäude alter Ständeunterschiede und der Beschränkungen der persönlichen Freiheit und des Grundes und Bodens niederzureißen, und dass somit Absolutismus und Radikalismus in diesem Streben, welches zunächst auf den Ruin der beiden gleich unbequemen Aristokratie abzielte, einig waren. Der Grund dieser gleichen Handlungsweise auf zwei so verschiedenen Seiten liegt sehr einfach darin, dass sowohl der Absolutismus wie der Radikalismus glaubten, ein Zeitbedürfnis befriedigen zu müssen, und dass der Radikalismus naturgemäß darauf angewiesen war, nach dem Besitztume der Aristokratie, als dem ihm zunächst Erreichbaren, zu greifen; der Absolutismus aber fand es am bequemsten, aus fremdem Beutel zu wirtschaften, und das dem Anscheine nach vom Schicksale ohnehin zum allgemeinen Sühnopfer ausersehene Besitztum der Aristokratie dem von ihr bisher danieder gehaltenen demokratischen Elemente Preis zu geben, um damit seine eigene Existenz zu fristen, und seine Popularität auf die wohlfeilste Art zu begründen. Herr Prof. Gervinus nennt dies (S. 52. 105) den Beruf des Absolutismus, die Völker „zur Freiheit und Bildung zu erziehen,“ und namentlich findet er darin (S. 146) eine „wohltätige Gewaltsamkeit, durch die der finstere katholische Geist in Bayern und ähnlichen Landen gebrochen worden, dass die geistlichen Güter eingezogen, die Klöster vermindert, und wo es anging, aufgehoben und den geistlichen Herrschaften ein Ende gemacht wurde.“ **) Übereinstimmend hiermit findet H. Prof. Gervinus auch an einer anderen Stelle (S. 144) die Mediatisierung so vieler Reichsstände, der Reichsstädte und der Reichsritterschaft durch Napoleonische Einwirkung als „eine notwendige Gewalttat, zu der sich die Deutschen aus sich selbst nur schwer entschlossen hätten,“ dadurch gerechtfertigt, dass dadurch „die erste Aussicht auf eine größere staatliche Einheit Deutschlands eröffnet wurde.“ Wir wollen über das Passende solcher Bezeichnungen hier nicht streiten, wohl aber halten wir dafür, dass derjenige, der den Gewalttaten des Absolutismus eine gleichsam providentielle Berechtigung beilegt, wie hier Herr Prof. Gervinus tut, sich eben dadurch auch des Rechtes begibt, über Gewalttaten das verdiente Verdammungsurteil zu sprechen, die ein revolutionierter Pöbelhaufe begeht. Auch die Frage, ob bei einer solchen Umwälzung, wenn sie doch einmal statt haben soll, nicht die ordnende Hand eines genialen Despoten, der wenigstens in friedlicher Weise in der Form der Gesetzgebung eingreift, leichter zu ertragen ist, als die blutdürstige Tyrannei aufgeregter Volkshaufen, kann hier unerörtert bleiben, da das Schicksal, wenn solche Krisen eintreten, den unglücklichen Opfern durch seinen eisernen Ratschluss stets die Wahl erspart. Für unseren Zweck genügt die Feststellung der Thatsache, dass Radikalismus und Absolutismus seit dem Ausgange des vorigen Jahrhunderts in wechselnder Reihe die Aristokratie vernichtet und sowohl deren persönliche als dingliche Vorrechte verschwinden gemacht haben.


*) Die Stelle in der Unabhängigkeits-Erklärung der vereinigten Staaten vom 4. Juli 1776, welche sich auf die individuelle Freiheit bezieht, lautet wörtlich: „Wir halten folgende Wahrheiten für klar und keines Beweises bedürfend, nämlich, dass alle Menschen gleich geboren, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt sind, dass zu diesen, Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit gehöre.“

**) H, Prof. Gervinus hat hier einige unbestreitbare Thatsachen übersehen, nämlich dass gerade die größten geistlichen Fürstentümer, die Bayern erwarb, die fränkischen Fürstentümer Bamberg und Würzburg, die geistig frischesten und strebsamsten Provinzen der bayerischen Monarchie sind, und dass sie dies nicht etwa erst durch die Säkularisation geworden find, sondern dass vielmehr von dem Augenblick ihrer Verbindung mit Bayern an auch in diesem Lande durch die Verpflanzung einer Masse von fränkischen Intelligenzen nach der bayerischen Residenz ein geistig frischeres Leben begann: dass es auch fortwährend diese fränkischen Fürstentümer sind, aus welchen Bayern vielfach seine ersten Staatsmänner, Juristen und Verwaltungsbeamte zieht, und dass von jeher die geistlichen Fürstentümer Bamberg und Würzburg die Wiege waren, woraus eine große Zahl der tüchtigsten durch ganz Deutschland berühmtesten und vielfach auswärts verpflanzten Professoren in allen Fächern der Wissenschaft hervorgegangen ist, unter denen wir nur einen Gönner, Schneydt, G. A. Kleinschrod, G. M. Weber, Birnbaum, Brendel, Cuccumus, Eeuffert, die Brüder Roßhirt, die Brüder J. u. Th. Rudhart, einen Nüßlein, Brenner, Döllinger (Anatom), Röschlaub, Markus, Siebolb, Schönlein, und von jüngeren einen H. G. Ph. Gengler, Fuchs, Pfeuffer, Siebert, Schneidawind u. A. nennen wollen.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Demokratie in Deutschland
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