Der Weg zur Volksfreiheit

Auf diese Weise hat Herr Prof. Gervinus den modernen demokratischen Ideen die Nativität gestellt und einen Stammbaum derselben entworfen, der ihnen den germanischen Protestantismus zum Ahnherrn gibt, und die Verzweigung so weit nachweist, bis die demokratischen Ideen ihren Familien- und Ahnenbrief bei Seite werfen, als erwachsene und zur Selbstständigkeit herangereifte Söhne ihr väterliches Stammhaus verlassen, und auf eigenen Namen von Amerika herüber, vom West nach Ost zurückspringend (S. 136), den Zug „der staatlichen und religiösen Freiheit nach Europa leiten.“ Es sind bei dieser unserer Darstellung der Ideen des Herr Prof. Gervinus nur dessen eigene Äußerungen wörtlich zusammengestellt worden, damit nicht etwa der Vorwurf gemacht werden könne, als sei durch einen freieren Auszug ein anderer Sinn unterlegt worden, als in der Meinung des Verfassers lag. Ob dem Protestantismus mit einer solchen Nachweisung der Vaterschaft der modernen demokratischen Ideen gedient sei, ob er sich das Alles, was H. Prof. Gervinus als seine Ausflüsse und Konsequenzen darstellt, wird beimessen lassen oder sich hieraus sogar etwa ein Verdienst wird machen wollen, — ob mit einem Worte der Protestantismus diese Kausalität und Solidarität anerkennen und auf seine Schultern laden will, — dies sind Fragen, worüber wir uns nicht zu entscheiden getrauen. Hierüber mögen die berufenen Wortführer des Protestantismus — und zwar jenes Protestantismus, welcher durch den Augsburger Religionsfrieden und den Westphälischen Frieden die politische Gleichberechtigung mit dem Katholizismus in Deutschland grundgesetzlich erworben bat — die Corypbäen jener protestantischen Theologie urteilen, welcher der Kern der protestantischen Bevölkerung Deutschlands zugetan ist. Nur so viel glauben wir von unserem Standpunkte aus sagen zu dürfen, dass kein nur einigermaßen billig denkender Katholik sich erlaubt haben würde, dem Protestantismus eine solche politische Kausalität und eine solche Solidarität mit der modernen Demokratie beizumessen, wie dies von H. Prof. Gervinus geschehen ist; vielmehr würde ein jeder billig denkende Katholik befürchtet haben, durch eine solche Beimessung politischer Erscheinungen sich einem nicht unbegründeten Vorwurfe des Missverständnisses der Geschichte und übertreibender Verdächtigung auszusetzen. Schwerlich würde ein Katholik wagen, alle jene politischen Ereignisse und Ideen, welche gleichzeitig mit der Verbreitung der protestantischen kirchlichen Reformation hervortraten und neben ihr sich geltend machten, dem Protestantismus selbst aufzubürden; im Gegenteile müsste der Katholik den Protestanten in Deutschland tief bedauern, wenn sich der Letztere, so oft er sich seiner nach so schweren Kämpfen errungenen Glaubensfreiheit freut, zugleich sagen müsste, dass der Preis für diese Glaubensfreiheit die Aufopferung der Macht, Größe und Einheit des Vaterlandes, die Schwächung desselben nach Außen und Innen war! Wie demütigend wäre es für den Protestantismus, wenn er mit Herrn Prof. Gervinus (S. 68) eingestehen müsste, dass er an Deutschland „Frankreichs politisches Sonderinteresse“ notwendig gehabt hätte, um sich „halten“ zu können, so wie der Protestantismus in England „das Aufgebot aller seiner demokratischen Kräfte“ notwendig gehabt habe, um sich zu halten. Wir können uns nicht denken, dass so viele echte Protestanten in Deutschland, die aus innerster Überzeugung an der Monarchie und an den strengsten konservativen Grundsätzen festhalten, den Ideengang des Herrn Prof. Gervinus für geschichtlich begründet anerkennen werden, wonach der Protestantismus der Großvater der französischen Revolution und aller ihrer traurigen noch fortwährend Europa erschütternden Folgen wäre, und der Protestantismus in eine, wenn auch noch so weit hergeleitete und entfernte Solidarität gesetzt würde mit jenen Auswürflingen katholischer Länder, wie Italien, Ungarn und Polen, welche nicht sowohl die Armee als die Banditen der modernen demokratischen Propaganda bilden, und die H. Prof. Gervinus (S. 172) so schonend „die vom Despotismus vertriebenen Heimatlosen“ nennt. Wir glauben, dass die Stellung des Protestantismus zur politischen Geschichte Europas wohl eine vielfach andere Auffassung zulässt, als die, welche H. Prof. Gervinus vorgetragen hat; wir müssen es aber den geschichtserfahrenen Männern, die der protestantischen Kirche angehören, überlassen, das was an der Darstellung des H. Prof. Gervinus fehlgegriffen sein sollte, selbst in dem Geiste zu berichtigen, wie es das eigene wahre Interesse des Protestantismus und seine Stellung zum gesummten Deutschland erfordert, wenn nicht alle Schuld der Zerrissenheit und Erniedrigung des Vaterlandes auf dem Protestantismus selbst haften bleiben soll.
Fragt man nun darnach, was H. Prof. Gervinus als den Inhalt der Bestrebungen der neuen Demokratie betrachtet, so spricht er seine Ansicht darüber wohl am präzisesten auf S. 97 aus, wo er die Verfassung Nordamerikas als das „Vorbild“ erklärt, „wohin die durchschnittliche Einsicht, die Unzufriedenheit und der Freisinn in allen Nationen strebt; seine 1776 erklärten Rechte sind das Glaubensbekenntnis des Liberalismus in aller Welt geworden.“ Als eine Ergänzung dieser Erklärung über das Streben der Demokratie erscheint sodann die kurz vorher auf S. 95 stehende Äußerung, wonach Herr Prof. Gervinus den „Ruhm der amerikanischen Verfassung“ nicht in die „geschickte Bewältigung verschiedenartiger Elemente,“ sondern in die „vollendete Folgerichtigkeit in der Ausführung eines einzigen Prinzips“ setzt: „nämlich der Freiheit, dem Rechte, nur dem Gesetze zu gehorchen, und der Gleichheit, der allgemeinen Pflicht einem und demselben Gesetze zu gehorchen.“





Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Demokratie in Deutschland