Zweite Fortsetzung

Schlafen? Der Schlaf will nicht kommen. Eine so mächtige Welle der Erregung erhebt sich in meiner Seele und trübt diese, und ich fühle instinktiv, dass vor mir, am verlöschenden Feuer, in einem gebrechlichen, gebeugten Körper noch konvulsiv ein Greisenherz schlägt, das sich jahrzehntelang verblutete . . . Die menschliche Seele ist des Nachts in der Steppe, im Finstern sehr feinfühlig, empfindlich . . .

„Du guter Alter“, beginne ich bittend, zaghaft, „hast du auch während der Leibeigenschaft hier gelebt?“


„Hier, du Gottesmensch, hier!'' antwortete der Greis nach einer Weile und, wie mir scheint, ungern. Aber ich fahre fort: „War euer Dorf auch Gutsbesitz?"

„Unser ganzes, heiliges Russland war ja damals Gutsbesitz! Ebenso unser Dorf, natürlich. Aber auch jetzt lebt ja unsere Dorfgemeinde auf des Gutsbesitzers Land. „Rabskoie“*) heißt unser Dorf; das herrschaftliche Gut lieg nicht weit davon entfernt, es ist ein großes, reiches Gut. Aber die Leute darin sind jetzt so kränklich und so schwächlich, ganz anders, als die früher geartet waren . . . das war ein kräftiger, stämmiger Menschenschlag . . . Der Herr war böse und kieselhart, he — he! Was sind das für Menschen gewesen, du Gottesmensch! . . ." „Also waren die Gutsherren früher besser, was?"

*) „Rabskoie" bedeutet: Sklavendorf.

„Besser? . . . Was kann es da besser oder schlechter geben? Er ist so, wie ihn Gott geschaffen hat. Er lebt eben für sich selbst. Damals aber war es etwas anderes, da regierte der Herr über uns, über der Dorfgemeinde mit eiserner Hand!"

„Sie haben wohl das Volk gequält, was? Gar grimmig waren sie? . . ."

„Grimmig, furchtbar grimmig, dafür sind sie ja die Herren . . . Für sie ist die Bauernseele wortlos und wertlos, so belustigen sie sich denn, treiben ihre Possen mit ihr, lassen an ihr ihre Wut aus!"

„Hast du viele solcher Herren in deinem Leben gesehen, Alter?"

Unbestimmt schüttelt er den Kopf; man weiß nicht, bedeutet es ja oder nein.

„Viele, du Gottesmensch, es ist Verschiedenes vorgekommen. Wir waren ja keine Menschen, weshalb sollte man da nicht mit uns seine Possen treiben? . . . Zu jener Zeit begann die verstorbene Warwara Petrowna, die ihren Mann ins Grab getrieben hat, stark zu trinken und trieb sich offen mit allen Burschen im Dorfe herum. Sie selber betrank sich und zwang die Burschen, sich zu betrinken und ergab sich schwerer Sünde. Sobald sie aber erfuhr, dass einer ihrer Liebhaber sich im Dorfe mit einem Mädchen einließ, so rief sie sofort sowohl den Burschen als das Mädchen zu sich. Sie selbst sitzt da, knackt Nüsse und trinkt Wodka. Während dem wird dem Mädchen ein Schopf Haar nach dem anderen ausgerissen . . . Die Ärmste heult vor Schmerz, die Herrin aber kugelt sich vor Lachen, es kommt ihr so komisch vor! Der Bursche jedoch, der sich versündigt hat, muss dabeisitzen, dem zuschauen und zuweilen sogar selbst dem Mädchen die Haare ausreißen. Sodann kam die Reihe an den Burschen. Er wurde ganz nackt ausgekleidet, zu der Herrin Füßen gelegt und so lange geschlagen, bis er bewusstlos dalag . . . So belustigte sie sich . . .“

„Und ging das lange so?"

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das zaristische Russland. 03 Die Leibeigenschaft