Dritte Fortsetzung

„Weiß ich denn das, Gottesmensch? Ein Jahr nach dem anderen verging, es verflossen ihrer viele wie Wasser im Flusse . . . Aber nicht sie allein war ja so ! Noch ehe sie im Grabe war, war auch schon das Söhnlein herangewachsen. Und er ist ganz nach der Mutter geraten. Er trieb ein solches Wesen, dass im ganzen Bezirk, im Umkreis von hundert Werst, die Bauern sich tief vor ihm ducken mussten . . . Sobald jemand seinen Hut nicht zieht, sei es, dass er den Herrn nicht gesehen, oder sonst leer gegafft hat — sofort geht's in den Stall, und dort wird er geprügelt, zu Tode geprügelt . . . Zwei Burschen — wir nannten sie die Henker — waren eigens fürs Prügeln angestellt. Der Herr selbst steht dabei, guckt zu, lacht und reibt sich die Hände, ergötzt sein Herrenherz daran. . . Und wie viele Mädchen — möge es ihm Gott in seinem Himmelreich nicht vergelten — wie viele Mädchen er zugrunde gerichtet hat, du Gottesmensch . . . ganz furchtbar . . . es sind ihrer unzählige! . . .“

Tief seufzt er und schweigt.


„Warst du auch damals so einsam? Oder . . .“

Ich sehe in der Finsternis, wie der Greis zusammenfährt, aber nach einem Augenblick lässt er sein greises Haupt noch tiefer sinken und spricht mit bebender Stimme:

,,Ach du, wohin du eindringst, in welche Fernen! Nein, damals war mein Haus im Dorfe voller Menschen. Da war meine Frau und zwei Burschen, Mitjka und Stepka. Ich hatte auch eine Tochter, ein rotwangiges, kräftiges Mädchen; sie hieß Alina. Aber, siehst du wohl, man kann niemals wissen, was man hat und was nicht . . . Der Herr gibt, und der Herr nimmt auch wieder, du aber, Gottesmensch, musst schweigen und ertragen! Was brauchst du auch sonst noch? . . . Ewig musst du schweigen, bis die Mutter Erde dich aufnimmt. Im Schoße der Erde aber werden der Herr und der Bauer nebenan liegen, im Jenseits wird es keinen Unterschied mehr geben, dort kann niemand mehr wüten . . ."

Er schweigt und schiebt mit einem kleinen Aste die unverbrannten, noch glimmenden Kohlen in die Mitte des Feuers, als sammle er seine auf dem Lebensweg verstreut liegenden Gedanken . . .

„An Alina, meine Tochter meine ich, hat zu jener Zeit der Herrensohn großen Gefallen gefunden. Er befahl ihr, in seinen Gemächern zu erscheinen. Das Mädel aber widersetzte sich . . . „Ich will nicht, ich will nicht" — so hieß es. Die Mutter selig und auch ich, wir redeten ihr lange zu: wir seien ja Sklaven der Herrschaft, der Herr habe ja Macht sowohl über unseren Körper als über unsere Seele . . . Darf man da widersprechen? . . . Aber begreift es denn das Mädel? Nimmt sie Vernunft an . . . Das Herrensöhnlein ist in Zorn geraten und schickt seine Dienerschaft, um das Mädel gewaltsam in seine Gemächer zu schleppen . . . Mein Ältester, Mitjka, hatte seine Schwester gar zu gem. Der tritt mit dem Beil in der Hand vor die Bedienten und droht: „Jeden, der es wagt, mein Schwesterchen zu berühren, werde ich töten.“ Dadurch geriet die Dienerschaft noch mehr in Wut; sie umringten ihn von allen Seiten, schlugen ihm das Beil aus der Hand, warfen ihn zu Boden und schlugen und schlugen ihn fast zu Tode . . . Indessen schleppten andere Diener das Mädel an den Haaren zum Herrensöhnlein. Mein jüngster Bub war gerade auf dem Felde. Meine Alenuschka wird geschleppt, längs der Erde geschleift, ich aber gehe hinterdrein . . . nun ja, ich weine, ich kann mein Vaterherz nicht bezwingen, aber ich gehe demütigst, . . Ich war damals Dorfältester . . . In den herrschaftlichen Gemächern hat sich mein Mädel scheinbar arg gewehrt, hat geschlagen und um sich gebissen . . . sie wollte dem Herrn durchaus nicht gehorchen. Da ergrimmte der Herrensohn noch schlimmer, er rief die gesamte Dienerschaft herbei, befahl den gebundenen und zerschlagenen Mitjka auszukleiden und band eigenhändig mit einem Strick, den ich herbeibringen musste, dem Burschen beide Hände fest, zog den Strick durch einen Querbalken an der Stalldecke und zog ihn empor . . . die Gelenke krachten, und der ganze Körper hing auf einem Arschin Höhe, an den zum Himmel erhobenen Händen . . . die Augen wurden blutunterlaufen, der Bursche röchelte wie ein Stier unter dem Messer . . . Und hier, vor dem hängenden Sohn . . . ich wandte mich ab, ich hielt es nicht aus . . . ich schloss die Augen . . . hier schändete der junge Herr den Körper der gebundenen Alenuschka . . . Gott . . . Nachdem er sich nun an ihr satt geweidet hatte, begann er mit einem glühenden Eisenstück Mitjkas Fußsohlen zu sengen . . . damit Alenuschka sehe, wie ihr Verteidiger stirbt. Sodann wurde das gebundene, nackte Mädchen auf die Straße geworfen, den Menschen zum Spott . . . Aber, du Gottesmensch, das hat sie nicht ertragen können, stolz war sie und widerspenstig, mein Mädel . . . Des Abends hat sie sich auf dem Heuschober erhängt!"

„Und Mitjka, du Alter?"

„Und Mitjka hing so zwei volle Tage, dann ist er gestorben . . . aber er hat schrecklich gestöhnt . . . Ich hielt mich immerfort beim Stalle auf, ich wollte hinein, aber die Dienerschaft schlug und jagte mich weg . . . Man erlaubte es nicht, ihn herunterzunehmen. Als aber der andere Sohn vom Felde heimkam und die ganze Geschichte vernahm, da versteckte er ein Beil unter seinem Kittel und schlich sich leise zum jungen Herren hinein . . . er wollte ihm das Leben nehmen, doch Gott hat sich seiner erbarmt, er hat die Sünde nicht zugelassen. Als mein Stepka mit dem Beil ausholte, ergriff ihn der Kutscher von hinten am Arme. Das Beil nahm man ihm weg, und der Bursche wurde so verprügelt, dass ihm alle Rippen gebrochen waren und ihm das Blut aus dem Halse rann . . . Zwei Wochen lag er so, dann gab ihn die alte Herrin für seine Dreistigkeit in den Soldatendienst. Damals war es ein langer Dienst, fünfundzwanzig Jahre dauerte er. Und so ist mein Junge spurlos verschwunden . . . ist nach Sibirien geschickt worden . . . Ist er tot, oder lebt er noch . . . Gott allein weiß es! . . ."

Ich kann mich von der tragischen Gestalt dieses Mitjka nicht befreien, der mit den Händen am Balken aufgehängt zu einem langsamen, qualvollen Tode verurteilt ist . . . Ich frage von neuem:

„Und Mitjka, mein guter Alter?"

„Ja Mitjka . . . Nun, der Herzensgute starb! Er hing, er hing so, schließlich hat er es nicht ausgehalten und ist gestorben . . . Aber auch dem Toten hat der ergrimmte Herr nicht verzeihen wollen. Er befahl die Leiche den Hunden zum Zerreißen vorzuwerfen. Meine Alte und ich, wir haben uns auf der Erde gewälzt, mit Tränen und Flehen küssten wir des Herren. Füße . . . er stieß uns immer mit der Spitze seines Stiefels ins Gesicht . . . und rief zornig: Ihr Räuber, ihr Schufte, ein aufrührerisches Geschlecht habt ihr zur Welt gebracht, versengen, zertreten werde ich euch ! — Wir aber küssen und umarmen seine Füße . . . Offenbar sind unsere Greisentränen schon allzu blutig gewesen, denn endlich ließ sich der junge Herr erweichen . . . er hat die junge Christenseele nicht zugrunde gerichtet, er hat Mitjkas Leiche nicht den Hunden vorgeworfen, sondern sie uns zur Bestattung übergeben. Aber es gab wieder ein neues Unglück. Unser Pope war damals ein alter, strenger Mann, unerschütterlich achtete er das Wort Gottes, und nun geriet auch er in Zorn. „Ich werde ihn nicht bestatten”, sagte er, „denn seine Seele ist verdammt: er hat sich gegen seinen Herrn aufgelehnt. Der Gutsherr ist von Gott gesandt, also müssen ihn alle achten und sich vor ihm beugen! . . . Wir haben gefleht und gefleht, aber es half alles nichts, er hat unseren Sohn nicht bestatten wollen, du Gottesmensch! Meine Alte und ich, wir grämten uns krank vor Kummer . . . aber es war nichts zu machen, wir mussten eben unseren Burschen ohne Popen und ohne Gebet begraben. Als wir, wie berauscht, von schwerem Kummer betrunken, vom Friedhofe nach Hause wankten, da merke ich, dass meine Alte irre zu reden beginnt . . . Und wahrhaftig, sie verlor bald gänzlich den Verstand . . . sie wollte nicht essen, sie sah immerfort Schreckgespenster . . . und bald ist sie gestorben, die Herzliebe!“

Tief seufzt er auf, und sein graues Greisenhaupt senkt sich noch tiefer herab.

Mit unbegreiflicher Grausamkeit frage, ich:

„Und du, mein Alter."

„Was? . . . fragte er plötzlich, wie aus einem tiefen Vergessen aufgeschreckt — „ich? . . . du fragst, was aus mir wurde, du Gottesmensch? Ich lebe, und um meiner Sünden willen will mich Gott nicht zu sich nehmen. Die Dorfgemeinde hat sich aber meiner erbarmt, sie hat mich aufgehoben. Ein Stückchen Brot, ein Tropfen Wasser, und ich bin satt. Ich brauche nicht viel!"

Er schweigt wieder. Er kauert sich in sich zusammen, als fürchtete er sich vor mir, vor meinen giftigen Fragen, die ihn so viele bittere Seiten seines vergangenen Lebens durchblättern machten.

Eine Stunde nach der anderen vergeht. Ich weiß nicht, ob die Zeit fließt, oder ob sie stille steht . . . Undurchdringliche Nacht, von gespenstischen Träumen erfüllt, herrscht noch immer über der russischen Steppe.

Ich blicke zum Himmel empor . . . ängstlich flimmern die Sterne, als ob sie erlöschen möchten.

Das Feuer ist schon lange verlöscht. Aber weshalb kann ich meine Augen nicht schließen? . . . Der Schlaf ist ganz entwichen, und nur schwarze Gedanken, wie dunkle nächtliche Gespenster, umschwirren mich scharenweise.

Ich betrachte die gebeugte Greisengestalt vor mir, unendlich widersprechende Gefühle kämpfen in mir . . . Zuweilen möchte ich mich erheben, das unter den Schicksalsschlägen gebeugte Männlein an der Schulter packen und — wie eine Schlange es mit zitternden Vögeln tut — meinen starren Blick in sein leidenschaftsloses, verschlossenes, dürres Gesicht bohren:

„Greis, der du zum Erhängen deines eignen Sohnes den Strick herbeigeholt hast, was bist du? sag', ein Ungeheuer oder ein Heiliger? . . . Hast du eine Seele? . . . Schlägt in dir ein Herz? . . . Oder bist du bloß ein nächtliches Gespenst, ein Hirngespinst meiner wirren Träume, ein irrender, phantastischer Schatten auf dem Antlitz dieser von Qualen und Leiden erfüllten russischen Erde? . . . Eine dunkle, innere Stimme flüstert mir zu: Du darfst nicht richten . . . Begreife und beuge dich ehrfurchtsvoll vor dem unbekannten Märtyrer! . . .

Dann wächst vor mir der gebeugte Greis, dann wächst er zu einem russischen Riesenhelden, und es will mich dünken, als trage er auf seinen gebeugten Schultern die ganze Last des harten Schicksals eines Volkes, das Jahrhunderte in Sklaverei gestöhnt hat, dessen Leben endloses Leiden war, das bis auf den Grund den Kelch unmenschlicher Qualen geleert, dessen Lieder ewig von Tränen und Schluchzen durchzittert sind . . . Ringsum herrscht noch undurchdringliche, gespensterhafte Nacht.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das zaristische Russland. 03 Die Leibeigenschaft