Erste Fortsetzung

Der Greis ist die ganze Zeit über mit dem Abkochen der Kartoffeln in einem verrauchten Kessel beschäftigt. Mit einem langen Holzlöffel rührt er darin herum, kostet davon, und dabei schlägt ihm beißender Rauch und dichter Dampf aus dem Kessel in die Augen. Er blinzelt, pustet, brummt etwas in den Bart hinein, während aus seinen Greisenaugen Tränen niedertropfen. Er scheint mich ganz vergessen zu haben.

Zaghaft wirft mir der Knabe von Zeit zu Zeit einen verstohlenen, neugierigen Kinderblick zu, als wollte er im flackernden Lichte des Feuers mich von oben bis unten betasten, und doch ist er ängstlich, er wagt kein Gespräch zu beginnen . . . Aus der Dunkelheit dringt uns zuweilen das Schnaufen oder ein böses, kurzes Wiehern der Pferde entgegen. Dann erhebt Barboska, der nicht weit von uns entfernt liegt, seinen Kopf von den Vorderpfoten, spitzt die Ohren, horcht auf und wirft darauf einen langen, etwas bösen Blick zur Seite. Dann ist wieder alles still . . .


Wir pellen die Kartoffeln, bestreuen sie dick mit grobem Salz und verzehren sie stumm in uns gekehrt. Ab und zu hört man die Bewegung unserer Kiefer . . . Wie ich aus meinem Sack das vertrocknete, nach Sonne riechende Brot hervorholte, schüttelte der Greis missbilligend das Haupt:

„I-i! Was tust du, Gottesmensch? Du sollst von unserem Brot essen, dein eigenes bewahre auf . . . du hast gewiss noch einen langen Weg vor dir. Wir haben Bauernbrot, wir sind ja auf der Erde ansässig . . . da schickt es einem der Herr. Er vergisst seine sündigen Geschöpfe nicht. Auch sonst geben einem gute Leute etwas . . . mit den Hirten und mit den Waisen hat ja ein jeder Mitleid!''

Als wir gesättigt waren, bekreuzigte sich der Greis andachtsvoll. Der Knabe tat dasselbe, aber auf kindlich hastige Art, wie man ein uninteressantes Geschäft erledigt.

„Da nimm sie!“ damit reicht mir der Greis die vier nachgebliebenen Kartoffeln, „sie werden dir zugute kommen! Wir werden doch am Morgen schon im. Dorfe sein, da werden gute Leute uns wieder etwas geben!“

„Ist das dein Enkel, Greis?" frage ich.

„Der Bursche? O nein! loh habe niemanden auf der ganzen Welt! Alle sind sie mir gestorben . . . Auch der Bube ist allein, der Arme hat gar niemanden, er ist eine Waise . . . wir beide sind Waisen . . . so hat uns denn die Bauerngemeinde dazu bestimmt, die Herde zu hüten, die nächtliche Hut der Pferde zu übernehmen! Er wendete sich zärtlich an den Knaben: „Wasjka, willst du dich legen, mein gutes Kind? Ich werde schon wachen!"

Des Knaben Augen fielen zu, und ich sah, wie der Greis lange Zeit um das Kind besorgt war, den Sack unter des Knaben Kopf zurechtlegte, den Kindskörper mit seinem alten Rock zudeckte und ihn sorglich fest darin einwickelte. Dabei murmelte er die ganze Zeit etwas vor sich hin; ich konnte aber nicht verstehen was.

Schließlich setzte er sich wieder auf seinen früheren Platz. „Die Nächte sind kalt”, sagte er, „zur bösen Stunde könnte der Bub sich noch etwas holen!" Seine Stimme klingt zärtlich. „Er hat ja niemanden hier auf Erden außer mir!" schließt er betrübt und fügte mit schwerem Seufzen hinzu: „He, du Gottesmensch!"

Jedesmal versuche ich den Gesichtsausdruck des Greises zu erhaschen, aber es will mir nicht gelingen, das Licht des Feuers ist zu fahl und seine Flamme so unruhig züngelnd, dass der aufflackernde lichte Schimmer bloß einen kurzen Augenblick die Gesichtszüge erhellt, um sofort wieder vor den dichten Schatten, die das Gesicht, die breite Nase und den dünnen, grauen Bart verschleiern, zu weichen.

„Bist du schon viele Jahre Hirte, Alter?"

„Was, ich? Vie — ele, du Gottesmensch! Ob's zwanzig oder dreißig Jahre sind, wer kann das genau zählen? . . . Seit der Zeit, da es die Gemeinde so bestimmt hat, gehe ich auch! Das ist ja der Wille der Dorfgemeinde . . . und den Buben habe ich seit vier Jahren zu mir genommen. Das Kind war auf der Straße ausgesetzt — eine Waise, der Ärmste!"

Ich weiß nicht weshalb — war es der Klang der Stimme oder diese natürlichen, einfachen Worte, oder vielleicht eine unbewusste Erregung, die ringsum in der Steppennacht ausgebreitet war — es erwuchs in mir ein sonderbarer Wunsch, näher heranzutreten und in die verbotene Ferne vergangener Jahre zu blicken . . . so schaut ein Mensch in die Tiefe angestauter Gewässer, denn er fühlt instinktiv, dass es hier einst gestürmt und gewogt hat . . .

„Du hast wohl lange gelebt, Alter, du bist gewiss hochbejahrt?"

„Viel hab ich gelebt, du Gottesmensch, viel! . . . bisher hat sich Gott meiner noch nicht erbarmt. Er hat mich noch nicht zu sich genommen . . . gewiss um meiner Sünden willen! . . . Für meine fluchwürdigen Sünden will mich die feuchte Mutter Erde nicht in ihren Schoß nehmen, mich Verdammten, sie ruft mich nicht zu sich . . . So lebe ich denn und quäle mich und leide für meine Sünden. Wie alt ich bin? fragst du. Iii, du Menschenkind, glaubst du, ich weiß es selber? . . . Vielleicht hundert Jahre, vielleicht aber auch mehr! . . . Wozu die Jahre zählen? . . . Das ist sündhaft! . . ."

„Dann erinnerst du dich wohl noch der Leibeigenschaft und des Frondienstes, Greis?"

„He — he — he!" lacht der Alte mit merkwürdig gebrochener, von Bitterkeit erfüllter Stimme. Obwohl ich scharf hinblicke, gelingt es mir bei der Dunkelheit nicht, den Ausdruck seiner Augen zu erspähen . . .

„Daran erinnere ich mich, als ob's heute wäre, wie könnte man denn auch ein solches Leben vergessen . . . Man möchte glauben, Gott hätte einem dies Leben zur Strafe für die Sünden auferlegt, auf dass wir ewig daran erinnert werden. Oft sucht uns der Gnädige heim, uuh . . . wie schmerzhaft straft er . . . wenn er dir so dein bloßgelegtes Herz mit einem Hiebe zerfleischt, dann wagst du kaum noch zu klagen . . . Aber wozu darüber reden, Gottesmensch? Du solltest dich zur Ruhe legen, es steht dir gewiss noch ein weiter Weg bevor. Ich aber werde weiter sitzenbleiben und Wache halten. In meinem Alter flieht einen der Schlaf!“ Er schweigt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das zaristische Russland. 03 Die Leibeigenschaft